Siw Michael
Geboren 1937 in Kiew. Habilitierter Experte für Baustoffkunde und Konstruktion. Lebt nach seiner Auswanderung nach Israel im Jahr 1990 in Haifa, hat einen Sohn und einen Enkelsohn.
DER RAUE WINTER IN EINER WARMEN REGION
Kaum war ich vier und mein Bruder achteinhalb Jahre alt geworden, schon fanden wir uns, zusammen mit meiner Mutter und dem siebzigjährigen Opa Buna, meinem Großvater mütterlicherseits, im verhängnisvollen Strudel einer Massenevakuierung wieder. Man kann sich den seelischen Zustand meiner Mutter kaum ausmalen, denn in den fünfzehn Jahren zuvor hatte sie sich fast ausschließlich um den Haushalt und die Kinder gekümmert. Nun sah sie sich mit horrenden Problemen und der Notwendigkeit konfrontiert, rasche und kühne Entscheidungen zu treffen. Von ihrem Handeln hing die Rettung ihrer zwei Kinder und ihres alten Vaters ab.
Auf der Flucht aus Kiew verschlug es uns in die Gegend von Stalingrad. Bei einem Luftangriff in der Nähe von Stalingrad schützte meine Mutter mich und meinen Bruder mit ihrem Körper. Trotzdem fand ein Splitter den Weg in meinen Kopf. Verblutend und im Zustand des klinischen Todes wurde ich in ein Feldlazarett gebracht. Ein älterer Chirurg mit dem klangvollen Nachnamen Schurawskij führte laut meiner Mutter eine glänzende Operation durch. Unter schwersten Bedingungen konnte er den Splitter, der nur aufgrund eines glücklichen Zufalls alle lebenswichtigen Zentren verfehlt hatte, entfernen. Während der Nachbehandlung bildete sich allerdings eine Wundinfektion und die Naht begann zu eitern. Aufgrund der katastrophalen hygienischen Bedingungen sowie wegen des Mangels an Personal, Medikamenten, sauberem Wasser und Lebensmitteln gab es fast keine Hoffnung, dass ich überleben würde. Man hatte es meiner Mutter erlaubt, mich selbständig in einem der zum Lazarett gehörenden Wohnwagen zu pflegen. Als sie eine Woche später den Chirurgen darum bat, mich zu untersuchen, war er ziemlich überrascht, dass ich noch am Leben war und empfahl uns, um jeden Preis eine Erkältung zu vermeiden.
Ich mit eineinhalb Jahren (sitzend links in der ersten Reihe). Ferienhaussiedlung Nowosjolki, 1939.
Einem rauen Winter entkommend, machten wir uns auf den Weg in die warmen Regionen der Sowjetunion. So kamen wir schließlich in Samarkand an, der antiken Hauptstadt Usbekistans. Wenn meine Mutter gerade nicht hinschaute, zog mein Opa seine warmen Sachen aus und wickelte mich so gut er nur konnte ein, um mich vor einer Erkältung zu beschützen. Dadurch erkältete er sich und erkrankte anschließend an einer Lungenentzündung. Wenig später starb er, zur unaufhörlichen Trauer meiner armen, untröstlichen Mutter.
Nichtsdestotrotz musste das Leben weitergehen. Meine Mutter musste ihre Kinder weiterhin vor dem Hungertod beschützen. Die Gefahr zu verhungern war immer präsent, denn es herrschte ein völliges Durcheinander, was die Versorgung der Familien der an der Front kämpfenden Rotarmisten anging. Die Bürokraten im Hinterland stahlen nahezu alle für die Familien bestimmten Lebensmittel und Sachleistungen. Zu uns gelangten nur winzige Rationen, die das permanente Hungergefühl nicht einmal abstumpfen konnten.
Der raue Winter und der Hunger forderten viele Menschenleben. Vor dem Lokdepot übernachteten obdachlose Jungen in der Hoffnung, etwas von der warmen Ventilationsluft abzubekommen. Jeden Morgen fand man dort Leichen dieser armen Kinder.
Meine Mutter bewahrte mich panikartig vor einer Erkältung. Kurz vor Frühlingsbeginn brachte ich es trotzdem fertig, mich zu erkälten und mir sogar einen Keuchhusten einzufangen. Das Entsetzen meiner Mutter war unbeschreiblich, dauerte allerdings nicht lange an. Davon überzeugt, dass nur gute Ernährung meinen Körper stärken konnte, verkaufte sie den letzten Wertgegenstand, den wir von zu Hause mitgenommen hatten und noch besaßen – die Schweizer Armbanduhr meines Vaters, die für ein Zehntel, wenn nicht sogar für ein Hundertstel ihres eigentlichen Preises den Besitzer wechselte. In dem Wissen, dass es das letzte Geld war und dass es keine weiteren Einnahmequellen gab, tätigte meine Mutter folgende Investition. Sie kaufte Mehl, Rosinen, Vanille und Sonnenblumenöl. Aus diesen Zutaten backte sie Krapfen. Um uns mit verführerischen Gerüchen tagsüber nicht zu reizen, stand sie die ganze Nacht in der Küche. Am nächsten Morgen legte sie ihre Hauptstadtmanieren ab und ging zum Markt, um das süße Gebäck zu verkaufen. Die Krapfen wurde sie schnell los. Vom Erfolg beflügelt, entschied sich meine Mutter, mir und meinem Bruder ein Festmahl zu zaubern. Sie bereitete uns Bratkartoffeln zu, die wir seit unserer Flucht aus Kiew nicht mehr gekostet hatten.
Der Winter neigte sich langsam dem Ende und die zentralasiatische Sonne erwärmte bald die Luft. In unserem schlecht beheizten Zimmer war es jedoch dunkel und nasskalt, und ich erholte mich nur mühsam von meiner Krankheit. Meine Mutter riss das Fenster auf und begann, auf dem Petroleumkocher Kartoffeln zu braten. Damit wir das Warten besser ertragen konnten, setzte meine Mutter mich und meinen Bruder ans Fenster, so weit wie möglich weg von den berauschenden Düften. Endlich wanderte die Pfanne auf das Fensterbrett und die dampfenden, appetitlichen Kartoffeln erstrahlten in all ihrer Schönheit. Mein Bruder und ich wollten die Vorfreude in die Länge ziehen, nahmen vor Glück erschauernd immer nur ein Kartoffelstück auf einmal und gingen in dieser herrlichen Völlerei vollkommen auf.
Plötzlich erschien vor uns am Fenster ein zotteliges und ungewaschenes Gesicht. Eine schmutzige Hand kam aus dem, was früher mal ein Ärmel gewesen war, zum Vorschein. Eine zügige Handbewegung später waren die restlichen Bratkartoffeln aus der Pfanne verschwunden. Dieses Schauspiel war genauso plötzlich vorbei, wie es begonnen hatte. Das leise Jaulen meines Bruders beendete meine kurze Stockstarre. Ich bekam einen Nervenzusammenbruch und auf unsere Schreie hin eilte meine Mutter zu uns. Nachdem sie sich die verwirrte Schilderung meines Bruders angehört hatte, fand sie schnell eine Lösung. Sie ging mit uns zum Kochtopf, öffnete den Deckel, steckte einen Löffel hinein und holte hintereinander zwei schöne, bräunliche Krapfen heraus, die den Duft eines frisch gebackenen Teigs mit einer Vanillenote verströmten. Nachdem wir uns beruhigt hatten, stellten wir fest, dass mein erstickender Keuchhusten nach dem erlebten Schock verschwunden war. Womöglich hat die Aufregung dazu beigetragen, dass ich seit diesem Tag klare Erinnerungen an meine weitere Kindheit habe.
Jeden Tag lief meine Mutter zum Wehrersatzamt und anderen Behörden, welche für die Suche nach an der Front kämpfenden Soldaten und ihren Familien zuständig waren. Dieselben Stellen waren auch für die Versorgung der Familien verantwortlich. Sie bestand darauf, empfangen zu werden und sorgte dafür, dass wir alles bekamen, wozu wir auch berechtigt waren.
Mitunter wussten die Familien nicht, welche Zuwendungen ihnen zustanden. Stattdessen wurden sie durch die zahlreichen an der Quelle sitzenden Gauner ausgeplündert. Es gab in Samarkand Männer, die es sich im tiefsten Hinterland auf die eine oder andere Weise bequem eingerichtet hatten. Während Frauen, deren Männer an vorderster Front kämpften, aufopferungsvoll ihre Kinder und Alten vor dem Hungertod zu retten versuchten, nutzten die Gauner das Chaos sowie das Fehlen von Kontrollmechanismen bei den örtlichen Behörden aus, um sich ausgiebig zu bereichern. Zu Spottpreisen kauften sie Schmuck und Antiquitäten von den Flüchtlingsfamilien auf, die kein Geld und kein Dach über dem Kopf hatten. Diese Wildhunde, wie sie von den Einheimischen getauft wurden, waren rücksichtslos und scheuten nicht davor zurück, Ehefrauen von an der Front kämpfenden Soldaten, die in einer aussichtslosen Lage waren, auszunutzen. Diese armen Frauen waren einer allgemeinen Verachtung ausgesetzt und wurden als Verräterinnen angesehen. Die meisten geflüchteten Frauen wehrten die Annäherungsversuche jedoch mit viel Zorn ab, oft laut und aggressiv, wobei die ganze Kraft der Trauer und Wut ihre Worte bestimmte.
Es versteht sich von selbst, dass auch solch eine hübsche Frau wie meine Mutter die Aufmerksamkeit der Männer auf sich zog. Einmal, als sie und ich bei der Musterungsbehörde waren, war ich Zeuge einer Szene, die mir in Erinnerung geblieben ist. Wir standen im Flur in einer Gruppe von Ehefrauen von Rotarmisten. Unweit von uns sah ich einen eleganten, europäisch aussehenden Mann, der die Augen nicht von meiner Mutter ließ. Als wir später das Gebäude verließen, kam er auf uns zu und versuchte, mir eine Tüte in die Hand zu drücken. Dabei starrte er weiterhin meine Mutter an. Sie blieb stehen, nahm mich an der Hand und drückte sie so hart, dass meine Finger zu schmerzen begannen. Die Tüte verschwand aus meinem Blickwinkel und ich schaute mir den eleganten Typen an. Er stand erstarrt, mit weit aufgerissenen Augen und der Tüte in der Hand vor uns. Ich richtete den Blick auf meine Mutter und sah eine mir unbekannte, zornige Frau. Ihr rundes Gesicht mit wunderschönen großen Augen und weichen Zügen hatte sich verzogen und war verblasst, die Augen wurden schmaler. Plötzlich ähnelte sie einer Wölfin, die jeden Moment bereit war, den Feind anzugreifen. Offensichtlich beeindruckte diese
Ich als Schüler der zweiten Klasse der Kiewer Mittelschule Nr. 17 (obere Reihe, dritter von rechts), 1945
schlagartige und dramatische Verwandlung den Verehrer ebenso wie mich. Nach einem kurzen Moment der Verlegenheit zog sich der Mann zurück und verschwand schnell in der Menge. Nachdem meine Mutter ihre Fassung wieder zurückerlangt hatte, lächelte sie mich an und sagte: „Vor dem Druck sowjetischer Truppen tritt der Feind feige den Rückzug an!“ Diesen Satz hörten wir häufig in den Radionachrichten, wenn Meldungen von der Front verlesen wurden. Wir lachten beide und gingen weiter. Ich marschierte an der Seite meiner Mutter und platzte fast vor Stolz.
…mittlerweile war der Wendepunkt im Krieg erreicht. Die sowjetischen Truppen waren in der Offensive, die Wehrmacht musste an fast allen Fronten den Rückzug antreten. Endlich erhielt meine Mutter bei der Musterungsbehörde mehrere Briefe von meinem Vater. Er hatte zuvor alle Organisationen, die für die Suche nach evakuierten Familien von Rotarmisten zuständig waren, angeschrieben. Mein Vater schrieb, dass seine Einheit kürzlich das befreite Kiew passiert hatte. Dabei hatte er die Gelegenheit, unsere Wohnung aufzusuchen. Dort lebten Menschen aus einer in der Nähe von Kiew gelegenen Dorfsiedlung, die im Zuge der Kämpfe niedergebrannt war. Mithilfe eines Vertreters des Bezirkswehrersatzamtes war es meinem Vater gelungen, uns in der alten Wohnung das größte Zimmer mit Balkon zu organisieren.
Ende Februar 1944 traten wir die Heimkehr an. In Samarkand war der Frühling in voller Blüte. Als wir Anfang März in Kiew ankamen, lag dort noch Schnee. Vom Bahnhof begaben wir uns direkt zu unserem Haus und warteten mit unserem großen alten Koffer und unseren Habseligkeiten im Hof, während meine Mutter in die Wohnung ging, um zu erfahren, ob das Zimmer tatsächlich frei war, wie mein Vater es uns geschrieben hatte. Wenige Minuten später rannte sie fluchtartig die Treppen herunter, von einer älteren und einer jüngeren Frau verfolgt. Lauthals beschimpften und verfluchten sie meine Mutter und alle, die nach Kriegsbeginn geflohen waren. Sie schrien uns an, wir sollten uns dorthin verziehen, wo wir gerade herkamen. Bald hörten die anderen Neubewohner aus der Dorfsiedlung den Lärm und schlossen sich dem Angriff auf uns an. Von einer feindseligen Meute eingekreist, vor Angst und Kälte zitternd, pressten wir uns an unsere Mutter. Es schien, als wäre eine ganze Ewigkeit vergangen, bis es einer kleinen, krummbeinigen Frau gelang, sich durch die Menge bis zu uns durchzukämpfen. Das war Tante Dascha, die vor dem Krieg unsere Nachbarin gewesen war. Sie nahm einen Teil unserer Sachen und brachte uns in ihre Kellerbleibe. Ihr Mann war an der Front verschollen und sie hatte den Status einer Witwe eines Frontsoldaten. Tante Dascha gab uns etwas zu essen und erlaubte uns, vorerst bei ihr wohnen zu bleiben.
Ich als Schüler der fünften Klasse. Das Bild entstammt der Ehrentafel in der Schule. 1949.
Am frühen Morgen des nächsten Tages begab sich meine Mutter auf die Suche nach dem Wehrersatzamt, um den Militärkomman- danten zu sprechen. Wir warteten auf sie im Hof und hatten Angst, uns vom Keller, in dem wir übernachtet hatten, zu entfernen. Meine Mutter war noch nicht zurückgekehrt, als ein hagerer Mann mit dem Fahrrad auf den Hof fuhr. Er trug einen Militärkittel ohne Abzeichen, grüne Stiefelhosen, chromfarbene Offiziersstiefel und eine Feldtasche über der Schulter. Hinten stand sein Militärkittel ab – das deutete auf eine Revolvertasche hin. Er hielt den Fahrradlenker in der Mitte mit einer Hand. Der andere Ärmel war mit einer Nadel aufgesteckt. Der einarmige Militärkommandant sprang vom Fahrrad und ging schnellen Schrittes die Treppe zu unserer alten Wohnung hinauf. Einige Minuten später kehrte er wieder zurück. Er wurde von denselben beiden Frauen – einer jungen und einer alten – verfolgt, angebrüllt und beschimpft, wie meine Mutter am Tag zuvor.
In der Zwischenzeit traf meine Mutter ein. Sie war außer Atem. Ohne die tobenden Frauen zu beachten, erklärte der Militärkommandant meiner Mutter, dass am nächsten Tag das große Zimmer mit Balkon freigeräumt und alle von den Nachbarn entwendeten Gegenstände zurückgegeben werden würden. Er war noch nicht fertig mit seinen Ausführungen, da stürmte Mischa, der Ehemann der jüngeren der beiden Frauen, auf den Hof und begann, den Militärkommandanten zu beschimpfen und zu bedrohen. Auch unsere Peiniger vom Tag zuvor begannen sich wieder zu versammeln. Daraufhin holte der Kommandant Mischa mit einem kurzen, abrupten Faustschlag von den Beinen, riss seine Pistole aus der Tasche und schoss in die Luft. Das passierte so plötzlich, dass alle erstarrten. Mischa krümmte sich schmerzverzerrt und sein Gesicht haltend auf dem Boden. Im nächsten Moment rannten alle auseinander zu ihren Haustüren und Mischa blickte, immer noch auf dem Boden liegend, mit Entsetzen auf die Pistole des einarmigen Mannes. Die Ehefrau und die Schwiegermutter fielen auf die Knie und flehten ihn an: „Bitte, töte ihn nicht!“ Der Militärkommandant sprach laut, wohl wissend, dass alle Nachbarn, die weggerannt waren, ihm aus ihren Verstecken hinter den Gardinen zuhörten: „Morgen bis um acht Uhr morgens wird das Zimmer der Familie des Offiziers, der an der Front für unser Vaterland kämpft, freigeräumt. Ihr habt alle Sachen, die ihr geklaut habt, zurückzubringen! Wenn das nicht geschieht, werde ich dich höchstpersönlich mit dieser Pistole erschießen, du kleiner Hurensohn. Wer es wagt, der Ehefrau oder den Kindern des Offiziers Leid zuzufügen, bekommt es mit mir und dem Militärtribunal zu tun.“ Er steckte seine Waffe wieder ein und verließ den Hof, begleitet vom Flehen der jungen Frau und ihrer Mutter: „Wird alles erledigt, wir schwören bei Gott, alles!“
Noch am Abend desselben Tages bezogen wir problemlos das freigeräumte Zimmer.