Erinnerungen
Evakuierung und Flucht

Leningrader Blockade

Beckman Sinowij

Geboren 1934 in der jüdischen Kommune Vojo Novo auf der Krim. Musiker, Absolvent des Lemberger Konservatoriums, lebte und arbeitete in Simferopol. Lebt seit 1996 in Israel, spielt Mandolin im Orchester des Konservatoriums von Be’er Scheva. Hat zwei Kinder und einen Enkel.

DER TAG, AN DEM WIR UNS VON UNSERER KINDHEIT VERABSCHIEDETEN

Zunächst einmal eine kurze Vorgeschichte. Im Jahr 1928 gründeten fünfundsiebzig Mitglieder der zionistischen Organisation Gdud Ha’Avodah in dem kleinen Dorf Osgul auf der Krim eine landwirtschaftliche Kommune.[1] Das Dorf heißt heute Listowoje und befindet sich im Rayon Saky, fünfundzwanzig Kilometer von Jewpatorija. Die jüdische Kommune erhielt den Namen Vojo Novo. Die kollektive Umsiedlung von fünfundsiebzig Repatriierten aus Palästina unter der Leitung des berühmten Führers der sozialistischen Bewegung Menachem Elkind erfolgte auf Empfehlung der Komintern nach anschließender Zustimmung der sowjetischen Regierung.[2]

Unter den Neuankömmlingen war auch mein Vater Pejsach Beckman. Später stießen Auswanderer aus der Ukraine hinzu, darunter meine Mutter Manja Beresowskaja, ihre Eltern Abram und Rosalija sowie die jüngere Schwester meiner Mutter, Ljuba. Innerhalb kürzester Zeit machte die Kommune, die im Grunde genommen ein Kibbuz war, erhebliche Fortschritte bei der Herstellung von Agrarprodukten, darunter Milch, Fleisch, Getreide und Gemüse. Dennoch wurde Vojo Novo bis Ende 1934 in eine gleichnamige Kolchose zwangsreorganisiert. Viele Mitglieder der Kommune mussten sich auf die harten Bedingungen der stalinistischen Lager einstellen.

Siebenundzwanzig Personen wurden gemäß Art. 58 des Strafgesetzbuchs der RSFSR zu unterschiedlich langen Strafen mit Verbüßung in Lagern für besondere Verwendung verurteilt. Darunter war auch mein Vater. Am 19. Februar 1938 wurde der Gemeindevorsitzende von Vojo Novo Menachem Elkind vom Kollegium für Militärstrafsachen des Obersten Gerichts der UdSSR zum Tode durch Erschießung verurteilt. Noch am selben Tag wurde das Urteil vollstreckt…

Nach der Auflösung der Kommune und der Verhaftung meines Vaters lebte unsere Familie weiterhin in der Kolchose Vojo Novo. Meine Mutter arbeitete in der Buchhaltung der Kolchose und mein Großvater Abram Beresowskij war ein auf der Krim angesehener Stallknecht. 1940 nahm er an der Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft in Moskau teil. Ich wurde 1934 geboren und sollte im September 1941 in die erste Klasse gehen. Doch der Krieg vertagte meine Einschulung um genau drei Jahre.

Als die Besetzungsgefahr auf der Krim real wurde, begann man damit, die Juden zu evakuieren. Bald erhielten wir eine Anweisung des Verteidigungskomitees, welche die Pflichtevakuierung aller Nutztiere aus der Kolchose vorschrieb. In unserer Kolchose wurden jüdische Familien mit dieser Aufgabe betraut. Zum damaligen Zeitpunkt bestanden die Familien hauptsächlich aus Frauen und Kindern. Deshalb war mein Opa mit seinen Kenntnissen des Pferdetransports bei diesem komplexen und verantwortungsvollen Unterfangen unverzichtbar. Mit seinen vierundsechzig Jahren war er noch ziemlich stark und stämmig. Deshalb lastete die Verantwortung für die Pflege der Pferde sowie die Vorbereitung des Sattelzeugs und der Transportmittel auf seinen Schultern.

Am Tag vor unserer Abfahrt waren alle Familien auf die Reise vorbereitet. Plötzlich sagte Mina Segal, eine der früheren Kommunemitglieder, sie würde die Evakuierung nicht antreten. Sie hatte zwei Söhne, den damals zehnjährigen Ilja und den vierjährigen Alik. Ihr Mann verbüßte seine Lagerhaft im Gulag, ebenso wie die Eltern der drei weiteren Kinder, die bei ihr lebten – das waren die dreizehnjährige Dina Kleyman, der zehnjährige Julik Tabatschnik und der elfjährige Max Roysman. Mina war sich sicher, dass die Deutschen der Ehefrau und den Kindern der „Volksfeinde“ nichts zuleide tun würden.

Wir waren Nachbarn und ich erinnere ich mich, wie meine Großmutter unter Tränen versuchte, Mina davon zu überzeugen, wenigstens ihre Pflegekinder gehen zu lassen. Als Mina das abgelehnt hatte, sagte meine Oma zu ihr, sie würde einen verhängnisvollen Fehler begehen. Ihre Worte haben sich später als prophetisch herausgestellt.

An einem frühen Herbstmorgen im September 1941 verließen die Pferdewagen mein Heimatdorf. Den Wagen folgten Herden von Kühen und Schafen sowie einige Pferde. Viele Jahre sind vergangen, doch ich erinnere mich noch deutlich an die bedrückten Gesichter der Dorfbewohner, an ihre Tränen und an die Heulkrämpfe von denjenigen, die gezwungen waren, ihr Zuhause zu verlassen… Frauen und Jugendliche lenkten die Pferdewagen, Kinder und Alte saßen obendrauf. Abwechselnd nahmen auch die Viehtreiber Platz auf den Wagen. Unser Zielort war Kertsch, die Entfernung betrug etwa dreihundert Kilometer. Auf unserem Marsch waren wir auf Feldwege angewiesen, damit ausreichend Weiden und Wasserstellen für die Tiere auf unserem Weg liegen würden. Wenn wir eine Rast einlegten, wurden Kühe gemolken. Ein Teil der Milch wurde von uns konsumiert, den Rest gaben wir in den umliegenden Kolchosen ab. Tag für Tag wurden die Nächte kühler und das regnerische Wetter schränkte unsere Fortbewegung ein. Die Viehtreiber konnten sich vor Müdigkeit kaum auf den Füßen halten. Doch wir Kinder erkannten die Tragik dieser Ereignisse noch nicht. Im Gegenteil, wir fanden diese lange und ungewöhnliche Reise interessant und spannend.

Genau einen Monat später, Ende Oktober, kamen wir in Kertsch an. Dort sollten wir samt Vieh per Schiff über die Straße von Kertsch auf die Tamansker Halbinsel gebracht werden. Ich erinnere mich genau, wie wir samt Wagen, Pferden und Vieh auf riesige Lastschiffe verfrachtet wurden.

Ein einziger Schlepper bugsierte eine ganze Karawane von Lastschiffen. Wir mussten eine vierhundert Kilometer lange Straße passieren. Auf der Passage herrschte reger Verkehr. Rechts und links von uns waren ganze Züge von Lastschiffen in beide Richtungen unterwegs. Darüber hinaus sahen wir kleine Kriegsboote mit Flugabwehrkanonen an Bord. Die Passage wurde häufig bombardiert. Das war meine erste Schiffsreise, deswegen habe ich mir alles bis ins kleinste Detail gemerkt. Ganz besonders blieb mir das Meer in Erinnerung – seine Farbe, die Wassermassen und natürlich die Schreie der Möwen; aber auch die Kaukasusküste, der wir uns langsam näherten. Zuerst erschien sie wie eine Fata Morgana, bevor ihre Konturen immer deutlicher zum Vorschein kamen.

Wir waren nur knapp einen Kilometer von der Küste entfernt, da hörten wir ein durchdringendes Jaulen der Sirenen, das von den Schleppern und Kriegsbooten ausging. Plötzlich waren Flugzeuge am Himmel, auf deren Tragflächen ich zum ersten Mal in meinem Leben Hakenkreuze sah. Innerhalb eines kurzen Augenblicks riss mich mein Opa im Fallen mit aufs Deck und verdeckte mich mit seinem Körper. Das Sirenenjaulen vermischte sich mit einem furchterregenden Pfeifen fallender Bomben, dem Brummen feindlicher Flugzeuge und dem Flaklärm.

Einige Male wurde unser Schiff durchgerüttelt, wir wurden vom kalten, salzigen Wasser übergossen. Es war seltsam, doch wie auf Kommando fingen die Kühe an zu brummen, die Pferde zu wiehern und die Schafe zu blöken. Mehrere Schafe wurden von einer Explosionswelle über Bord geworfen. Dem Herdentrieb folgend, sprangen auch andere Schafe ins Meer. Im Endeffekt blieb weniger als die Hälfte der Schafe übrig… Nach dem Luftangriff kamen die Menschen langsam wieder zu sich. Um uns herum lagen Opfer direkter Bombeneinschläge… Wir blieben unversehrt. Gott muss uns beschützt haben!

Unsere Schiffe gingen an einer flachen, sandigen Nehrung vor Anker. Die Flachküste war zum Ausladen von Vieh gut geeignet. Opa Abram half den Lenkern, ihre Wagen über eine Rampe ans Ufer zu bringen. Die Viehtreiber jagten ihre Herden von den Schiffen zum Ufer und gruppierten sie. Alle wollten diesen unheilvollen Ort schnellstmöglich verlassen. Die Pferde schleppten die Wagen einen sandigen Weg entlang und hatten größte Mühe dabei. Doch sehr bald erklangen auf allen Booten wieder die Sirenen. Panik brach aus. Man konnte sich nirgendwo verstecken. Die Menschen stürzten in den Sand und verdeckten ihre Köpfe. Die Tiere liefen auseinander. Ein deutsches Flugzeug beschoss uns im Tiefflug mit Maschinengewehren. Ich habe nur durch ein Wunder überlebt. Eine Kuh rettete mich vor den Schüssen. Ihr lebloser, von Kugeln durchlöcherter Körper fiel neben mir zu Boden. Und wieder wurde niemand aus unserem Wagen verletzt.

An diesem Tag verabschiedeten wir uns von unserer Kindheit. Wir erkannten nun die Gräuel und die Tragik des Krieges.

Die unversehrten Tiere wurden an die zuständigen Behörden des Rayon Temrjuksk in der Region Krasnodar übergeben. Die Menschen wurden in den umliegenden Kosakensiedlungen untergebracht. Unsere Familie kam nach Staraja Titorowka. Dort kamen wir bei einer Einheimischen in einem großen Steinhaus mit einer verglasten Veranda und einer mit Außentreppe ausgestatteten Eingangsterrasse unter.

In Staraja Titorowka habe ich mich mit dem Sohn unserer Vermieterin angefreundet und habe seine Freunde kennengelernt, die so alt waren wie ich. Von ihnen habe ich zum ersten Mal erfahren, dass ich in Wirklichkeit ein „schorfiger Jude“[3] bin. Da ich die Bedeutung nicht verstand, war ich nicht einmal beleidigt. Einmal untersuchten sie im Garten meinen Kopf, um Hörner zu finden. Dann suchten sie bei mir nach einem Schwanz. Als ich meine Hose runterließ, verriet mir ihr Gesichtsausdruck, dass sie vom Gesehenen enttäuscht waren. Irgendjemand erzählte den Kindern mit bösartigen Absichten Unwahrheiten über die Neuankömmlinge – über die schorfigen, dreckigen Juden. Dennoch hat mir der Kontakt mit diesen Jugendlichen dabei geholfen, recht schnell die russische Umgangssprache zu erlernen. Vor der Evakuierung war ich des Russischen nicht mächtig, denn sowohl in der Kommune als auch in der Kolchose sprachen alle Jiddisch.

In der Kosakensiedlung war eine Armeeeinheit stationiert. Deren Kommandeur wohnte bei uns im Haus, ich nannte ihn Onkel Kolja. Seine Soldaten verwöhnten mich, teilten leckeren Milchreis mit Rosinen mit mir und nannten mich „Sohn des Regiments“. Mehrmals rieten sie mir, immer zu den Soldaten zu halten – sie würden mich niemals im Stich lassen. Hätten sie nur gewusst, was dieser Rat für meine arme Mutter später bedeuten sollte! In Staraja Titorowka verbrachten wir insgesamt acht Monate…

Nach der Besetzung der Krim bestand nun die Gefahr, dass die Deutschen auch den Nordkaukasus einnehmen würden. Die Rote Armee befand sich kollektiv auf dem Rückzug. Jüdischen Familien wurde eine erneute Evakuierung angeboten. Mit Pferdewagen wurden wir nach Anapa gefahren. Von dort aus sollten wir mit der Fähre zunächst nach Sotschi und anschließend mit dem Zug in die Aserbaidschanische Sowjetrepublik gebracht werden. In Anapa wurden wir allerdings von einem massiven Bombardement der Stadt und des Hafens überrascht. In diesem Moment erinnerte ich mich an den Rat von Onkel Kolja und seinen Soldaten. Alle rannten zum Schützengraben und nur ich begab mich mitten im Bombenregen auf die Suche nach den Soldaten. Ich wollte unbedingt der Sohn des Regiments sein! Meine Mutter lief mir schreiend hinterher, doch ich rannte weiter und blieb nicht stehen, bis ich unerwartet in einen Schützengraben direkt auf irgendwelche Soldaten gefallen bin. Ebendiese Soldaten brachten mich zu meiner Mutter zurück, die völlig aus der Puste und zu Tode erschreckt war.

Im Hafenviertel in Noworossijsk angekommen, erfuhren wir, dass ein deutsches Flugzeug bis zum Hafen vorgestoßen war und einen Zug mit Munition bombardiert hatte… Wir standen im Seehafen und sahen, wie die letzte Fähre die Bucht verließ und sich ins offene Meer begab, begleitet von einem feindlichen Flieger.

Wir mussten schnellstmöglich die Stadt verlassen, denn sie war permanent den Angriffen der deutschen Luftwaffe ausgesetzt. Das nächste Bombardement ließ nicht lange auf sich warten. Fast gleichzeitig hörten wir das Brummen näherkommender Flugzeuge, den Lärm der Sirenen und die arbeitenden Flaks. Auf dem Platz vor dem Passagierterminal sahen wir Schützengräben und Erdlöcher. Die meisten Menschen versteckten sich dort. Am anderen Ende des Vorplatzes lag ein riesiger Tank, der auf einer Seite offen war – möglicherweise war der Boden durch eine Explosionswelle weggesprengt worden. Ich weiß nicht warum, aber unsere Familie rannte zu diesem Tank und wir alle versteckten uns darin. Es begann die reinste Hölle. Alles um uns herum brach und knallte, Bombensplitter, Steine und Erdklumpen prallten gegen unseren Tank. Jeder Schlag hallte mit einem fürchterlichen Lärm innerhalb des Tanks nach. Im Halbdunkel sah ich, dass Oma Rosa nicht bei uns war. Ich schrie „Oma!“ und rannte zur Tanköffnung, doch Opa Abram konnte mich festhalten und an sich pressen. Ich hörte nicht auf zu weinen und rief nach Oma. Meine Mutter Manja und ihre Schwester Ljuba weinten lauthals…

Der Luftangriff war zu Ende und es wurde wieder still in unserem Tank. Von draußen hörte man weiterhin die Schreie der Menschen, Pferdegewieher und das Knistern brennender Objekte. Wir verließen rasch unser Versteck und sahen, dass sich anstelle des Schützengrabens ein riesiger Bombentrichter befand – das war das Ergebnis eines direkten Bombeneinschlags. In der Umgebung lagen tote und entstellte Menschen, Pferde, umgefallene und zerstörte Wagen sowie rauchende Trümmer umliegender Häuser. Etwas abseits des Geschehens, unter einem wie durch ein Wunder verschont gebliebenen Baum, standen unsere zwei Pferde vor dem Wagen mit unseren Sachen. Zwischen den Pferden hockte unsere Oma. Sie war in einer vollkommenen Schockstarre, hielt aber die Zügel noch fest in der Hand. Mein Opa hatte große Mühe, ihr das Pferdegeschirr aus den Händen zu reißen. Als sie wieder zu sich gekommen war, erklärte sie ihr Handeln folgendermaßen: „Wenn ich die Pferde nicht festgehalten hätte, wären sie aus Angst vor den Explosionen mit all unseren Sachen und Lebensmitteln weggelaufen. Was hätten wir dann getan?“ Oma Rosas heldenhafte Tat rettete uns vor großen Schwierigkeiten und Entbehrungen, möglicherweise sogar vor dem Tod.

Noch zur selben Stunde schlossen wir uns einer Kolonne von Soldaten auf dem Rückzug an und verließen eilig Noworossijsk. Wir marschierten gen Süden in Richtung Tuapse. Die Zivilbevölkerung sollte stets auf der rechten Straßenseite gehen, während auf der linken ein dichter Strom von Kriegsgerät und Militärwagen unterwegs war. Es gab so gut wie keinen Gegenverkehr. Ich erinnere mich, dass links ein Bergabhang den Straßenrand bildete; auf der rechten Seite waren fast endlose steile Klippen, die im plätschernden Meer endeten.

Am dritten oder vierten Tag überholte uns in der Nähe von Gelendschik ein Militärwagen, wobei er die Kurve nicht erwischte. Er erfasste unseren Wagen und dieser überschlug sich. Das alles passierte unerwartet, innerhalb eines kurzen Augenblicks. Die Pferde erschreckten sich und rannten davon. Die Zügel blieben in den Händen meines Opas. Außer mir saß ein Mädchen auf dem Wagen. Sie blieb im Wagen, unser Gepäck lag auf ihr. Ich hingegen fiel aus dem Wagen die Klippen herunter und blieb mit meiner Kleidung im Gebüsch hängen. Als ich unter mir eine tiefe Schlucht sah, hielt ich still und hatte Angst, mich zu bewegen. Ich kam zur Besinnung, als ich hörte, dass man mich rief, und reagierte. Ein Mann in Militäruniform ließ die Zügel herunter und erklärte mir, wie ich sie an meiner Brust befestigen konnte. Ich wickelte die Zügel um mich herum und hielt mich mit beiden Händen fest. Mein Opa und der Militärmann zogen mich wieder hoch. Überall am Körper hatte ich Kratzer und Schürfwunden. Meine Oma hatte einen hysterischen Anfall, meine Mutter weinte und mich schüttelte es pausenlos…

Die vorbeifahrenden Soldaten halfen uns, unseren Wagen wieder aufzurichten, aber er war völlig zerstört. Der Kommandant, der mich aus der Schlucht herausgeholt hatte, hatte befohlen, uns einen seiner Wagen zur Verfügung zu stellen. Er sagte zu meinem Opa, dass er uns zwar den Wagen geben könne, nicht aber die Pferde. Aber er sei sich sicher, dass unsere Pferde nicht weit weggelaufen sein könnten, möglicherweise grasten sie irgendwo in der Nähe. Und tatsächlich hatte er Recht: mein Opa fand sie an einer nahegelegenen Lichtung.

Ich erinnere mich an die folgende Situation: Wir wurden von einem Personenwagen überholt, aus dem Menschen ausstie gen, die alle aufforderten, eine Autokolonne durchzulassen. Auf jedem Auto aus dieser Kolonne war ein rotes Kreuz aufgemalt – möglicherweise wurde ein Lazarett evakuiert. Wenige Stunden später hörten wir aus der Ferne erklingende Explosionen. Bald sahen wir fürchterliches Bild. Der Straßenbelag war von mehreren Explosionskratern zersetzt, daneben lagen verkohlte Gerippe von Rot-Kreuz-Wagen, rauchende Baumstämme, zerstückelte Leichen und Fetzen von Arztkitteln und Patientenhemden. Am Straßenrand wurden Tote begraben, Trümmer wurden beseitigt und der Straßenbelag repariert. Bald setzten sich die Transportkolonnen wieder in Bewegung…

Wir ließen Tuapse hinter uns. Mit dem Wagen fuhren wir nach Sotschi hinein. Wenige Tage später stiegen wir in einen Zug nach Aserbaidschan. Danach hörten wir jedes halbe Jahr die Zugpfeifen, denn wir waren ständig unterwegs. Wir verbrachten Wochen in beheizten Viehwagen und Großraumwagen und zogen von Ort zu Ort: Ein malariaverseuchtes Dorf Scharkapse im Rayon Chanlarsk, mitten in der Steppe; eine Bergsiedlung Mersik in der Nähe von Kirowobad; ein Fischerdorf Chatschmas nördlich von Baku; dann ein kleines Nest in einer Waldgegend in der Nähe der Station Chudat. Opa Abram litt an Beinlähmung und Nachtblindheit…

Im Dezember 1944 erhielten wir die Erlaubnis, auf die Krim zurückzukehren. Anfang Januar 1945 versuchten wir an der Station Chudat in einen vorbeifahrenden Zug zu steigen. Der Zug hielt nur für fünf bis zehn Minuten. Menschen, die den Krieg und die Evakuierung erlebt haben, wissen, was es bedeutete, in diesen Tagen auf einen Zug aufzuspringen. An dieser Station gab es keinen Bahnsteig. Opa Abram war nicht in der Lage, eigenständig in den Zug zu steigen. Die aufgeheizte Menge fegte alles weg, was sich um sie herum befand. Soldaten drängten die Menge von der Treppe und trugen Opa in den Wagenvorraum hinein, er fiel hin und blieb liegen, während die Leute einstiegen. Passagiere mit Koffern und Säcken stiegen buchstäblich über seinen Kopf. Als alle im Zug waren und dieser sich in Bewegung setzte, blieb Opa weiterhin im Vorraum liegen. Erst dann halfen ihm dieselben Soldaten wieder auf die Beine und brachten ihn in den Wagen. Es ist immer noch schwer nachzuvollziehen, wie er damals nicht zu Tode getrampelt wurde…

Gleich in den ersten Stunden nach unserer Rückkehr erfuhren wir von den Dorfbewohnern, welche die Besetzung überlebt hatten, über das schreckliche Schicksal von Mina Segal und den Kindern. Die Nazis hatten sie in ein Nachbardorf gefahren, sie bei lebendigem Leib in einen stillgelegten Brunnen gestoßen und Granaten hinein geworfen. Einige Zeit später erreichte uns die nächste tragische Nachricht: In Babi Jar waren Opas Schwester Surka und ihr ältester Sohn Dawid ermordet worden.

Der Krieg dauerte fort, viele bekamen Todesbenachrichtigungen über ihre Verwandten. Lange wussten wir nichts über das Schicksal meines Vaters Pejsach Beckman, der eine unberechtigte Lagerhaft im Gulag verbüßte.

 

 


[1]Bei Gdud Ha’Avodah handelt es sich um eine linke Arbeiterorganisation. Sie wurde im Herbst 1920 in Palästina gegründet, mit dem Ziel, „eine einheitliche Gemeinschaft jüdischer Arbeiter in Eretz-Israel zu erschaffen“. Menachem Elkind stand an der Spitze der linken Minderheit innerhalb der Organisation. Er versuchte, Gdud Ha‘Avodah in eine politische Partei nach kommunistischem Vorbild zu verwandeln, obwohl die Mehrheit der Mitglieder keine Kommunisten waren. Im Jahr 1926 folgte die Spaltung in einen rechten und linken Flügel (Anm. der Redaktion).

[2]Angeführt von Menachem Elkind, siedelten im Jahr 1927 etwa siebzig Vertreter des linken Flügels von Gdud Ha’Avodah in die Sowjetunion über. Die sowjetischen Behörden stellten der Gruppe 1.300 Hektar Land in der Nähe von Jewpatorija auf der Krim, Vieh sowie Landwirtschaftstechnik zur Verfügung und gewährten einen Kredit. Auf diesem Gebiet wurde 1928 unter der Führung von Elkind eine Kommune gegründet, die den Namen Vojo Novo erhielt. (Der Name bedeutet „Neue Lebensweise“ auf Esperanto; die sowjetischen Behörden hatten verboten, der Kommune einen hebräischen Namen zu geben und gegen einen jiddischen sprachen sich die Mitglieder der Kommune aus). Die Bewohner der Kommune sprachen untereinander Hebräisch und unterrichteten in der Sprache ihre Kinder. Diese Tatsache stieß auf großen Unmut bei der sowjetischen Führung. Im Jahr 1933 wurde die Kommune Vojo Novo in eine Kolchose umgewandelt. Die Mehrheit ihrer Gründungsmitglieder, darunter Menachem Elkind, verließ daraufhin die Krim. Elkind wurde im Dezember 1937 verhaftet. 1938 wurde er vom Kollegium für Militärstrafsachen des Obersten Gerichts der UdSSR zur Höchststrafe verurteilt und erschossen. Beide Söhne Elkinds kämpften im Zweiten Weltkrieg und sind gefallen (Anm. der Redaktion).

[3]So lautet die wörtliche Übersetzung einer im Russischen existierenden antisemitischen Beleidigung (Anm. des Übersetzers).