Schustin Aisik
Geboren 1937 in Retschyza, Weißrussland. Arbeitete als Jurist in Wotkinsk. Lebt nach seiner Auswanderung nach Israel im Jahr 2007 in Migdal haEmek.
ES IST MIR NOCH VIEL, VIEL MEHR IN ERINNERUNG GEBLIEBEN
Ich wurde in Retschyza in der weißrussischen Oblast Gomel geboren. Unsere Eltern hatten drei Kinder: meine Schwestern, die 1930 und 1932 geboren wurden, und mich. Meine Mutter arbeitete als Schneiderin, mein Vater war Schuster.
Als der Krieg ausbrach, war ich drei Jahre alt. Nach Kriegsbeginn wurde mein Vater umgehend in die Arbeitsarmee eingezogen. Für die Front war er bereits zu alt. Ich erinnere mich noch gut daran, wie meine Mutter meine Schwestern an der Hand packte, mich auf den Arm nahm und zum Dnjepr rannte. Von dort aus wurden wir unter ständigen Luftangriffen mit einer Frachtfähre an einen Ort, dessen Namen ich nicht erinnere, befördert. Danach legten wir gemeinsam mit anderen Flüchtlingen einen langen Fußmarsch zurück. Unterwegs sahen wir durch Luftangriffe zerstörte Häuser und tote Menschen. Den weiteren Weg bestritten wir mit dem Zug. An der Station Solotucha wurde unser Zug durch einen Luftangriff zerstört. Meine Mutter warf uns drei aus dem Zug in den Graben und sprang anschließend selbst. Danach versteckte sie uns unter ihrem langen schwarzen Rock. Sie sagte, so seien wir vor den Bomben sicher. Und tatsächlich haben wir den Angriff unbeschadet überlebt. Ich werde nie vergessen, wie nach diesem Bombenangriff das grüne Gras lichterloh brannte. Mich als Kind beeindruckte dieser Anblick zutiefst.
Wenig später erreichten wir die Oblast Stalingrad. Wir marschierten durch die kalmückische Steppe, vorbei an den Seen Elton und Basskuntschak. Ich erinnere mich an hohe Salzberge, die wir dort zu sehen bekamen. Auch ist mir ein Luftangriff unweit von Stalingrad in Erinnerung geblieben, bei dem wir uns in Erdbunkern verstecken mussten.
Eines Tages warteten wir bei Nikolskoje am Wolgaufer auf eine Fähre. Abermals kam es zu einem Luftangriff und wieder wurden wir von Gott beschützt und überlebten. Nachdem alles vorbei war, versammelten wir uns mit anderen Flüchtlingen an einer Feuerstelle. Ich hatte großen Hunger und war so geschwächt, dass ich nicht einmal meine Beine hochheben konnte. Plötzlich stand meine Mutter auf und ging in Richtung des überwucherten, sumpfigen Ufers. Ich bekam Angst um sie und schleppte mich hinter ihr her. Ich wollte sie nicht aus dem Blick verlieren. Als nächstes sah ich, dass ein Soldat mit ausgestreckten Armen bis zur Hüfte im sumpfigen Wasser stand. Meine Mutter schaute sich um, ging ins Wasser und nahm etwas aus seiner Hand. Ich erinnere mich an das schaurige Gefühl, das mich überwältigte, als ich plötzlich begriff, dass der Soldat tot war. Ich entschied mich, wegzulaufen. So schnell, wie ich nur konnte, kehrte ich zum Feuer zurück. Kurze Zeit später war auch meine Mutter wieder da. In ihrer Hand hielt sie ein Stück Trockenbrot von der Größe einer Streichholzschachtel. Sie sagte zu mir, Onkel Soldat habe ihr das Trockenbrot aus seinem Rucksack gegeben, damit wir nicht verhungern. Viele Jahre später erzählte ich meiner Mutter von dieser Episode. Sie wunderte sich sehr, dass ich mich daran erinnerte, bestätigte mir aber, dass sich das genauso abgespielt hatte.
Unsere Familie, bestehend aus meinen Eltern Kreyn und Hackel Schustin, meiner jüngeren Schwester Selda (links von mir) und der älteren Schwester Dwejra (rechts von mir). Auf dem Foto bin ich elf Jahre alt. Wotkinsk, 1948.
…kurze Zeit später mussten wir zum wiederholten Mal die Wolga passieren. Ich erinnere mich, dass von einem Ufer zum anderen ein festes Seil gespannt wurde. Die Menschen zogen mit vereinten Kräften daran und brachten die Fähre in Bewegung. Direkt neben uns passierten Militärs in hohen Schirmmützen mit Booten den Fluss. Wie aus dem Nichts tauchten plötzlich Bomber am Horizont auf und fingen an, uns zu beschießen. Unaufhörlicher Lärm, laute Schreie, weinende Menschen… Danach verstummte alles. Der Rauch löste sich auf. Alles, was ich sah, waren unzählige Schirmmützen an der Wasseroberfläche. Meine Mutter sagte, alle Boote seien zerbombt und alle Soldaten getötet worden.
Während wir durch die Oblast Stalingrad marschierten, war mein Kopf voller Läuse. Die Einheimischen wollten uns nicht in ihre Häuser lassen, aus Angst vor Typhus, der damals weit verbreitet war. Eines Tages kam ein einarmiger Soldat auf uns zu und fragte meine Mutter, warum sie weinte. Als er den Grund erfuhr, ging er in eines der Häuser. Man konnte hören, wie er sich lautstark mit der Frau des Hauses unterhielt. Einige Zeit später kam er zurück, nahm mich an die Hand und brachte mich zum Hof, wo bereits ein Eimer mit heißem Wasser und ein Stück Seife auf mich warteten. Er wusch mich und brachte mich zurück zu meiner Mutter.
Lange irrten wir durch die Oblast Saratow und Oblast Perm. Schlussendlich kamen wir im Bezirk Otschjorsk an und ließen uns im Dorf Morosowo nieder. Während unserer gesamten Odyssee hörten wir nichts von unserem Vater. Auf alle Briefe, die meine Mutter an verschiedene Instanzen schickte, erhielten wir immer dieselbe Antwort: „Wird nicht in der Liste der Gefallenen oder Vermissten geführt.“ Im Jahr 1945 erreichte uns ein Bescheid aus Udmurtien. Unser Vater sei am Leben und in Wotkinsk wohnhaft. Es stellte sich heraus, dass er nur hundert Kilometer von uns entfernt wohnte. Mein Vater holte uns ab und brachte uns nach Wotkinsk. Unser Haus in Weißrussland war zerstört worden, deshalb blieben wir nach dem Kriegsende in Wotkinsk und lebten dort bis zu unserer Auswanderung nach Israel…
Auch nach unserem Umzug nach Wotkinsk mussten wir vieles durchmachen – Hunger, Läuseplagen, ständige Erniedrigungen und Beleidigungen, die nicht nur von den Erwachsenen, sondern auch von Kindern ausgingen. Man beschimpfte uns als „Juden- schweine“ und „Judenfressen“. Man warf uns vor, ohne die Juden hätte Hitler den Krieg nicht angefangen. Jahrelang ging es so weiter.
Auf dem zehn Jahre später aufgenommenen Foto bin ich 21 Jahre alt (obere Reihe, in der Mitte). Meine Schwester Dwejra (links von mir) hat zwei Töchter, meine Schwester Selda (rechts von mir) einen Sohn. Wotkinsk, 1958.
Bis heute erlaube ich es mir und meinen Verwandten nicht, auch nur einen Krümel Brot wegzuwerfen. Zu stark hat sich in meinem Kopf eingebrannt, wie kostbar Brot ist. Ich denke nicht, dass ich mehr Leid erfahren habe als andere Menschen. Aber nicht jedes Kind musste miterleben, wie seine Mutter Brot aus den Händen eines toten Soldaten nahm oder wie sie die eigenen vor Schreck schreienden Kinder aus einem brennenden Zug den Abhang herunter warf… Und natürlich ist mir viel mehr in Erinnerung geblieben als das, worüber ich an dieser Stelle berichten konnte.