Waxman Viktor
Viktor Waxman wurde 1939 in Welisch, Oblast Smolensk, geboren. Bis zu seiner Auswanderung nach Israel im Jahr 1998 arbeitete er als Künstler in Smolensk. Lebt in Jerusalem, hat zwei Kinder und vier Enkelkinder.
DIE ERINNERUNGEN DER GEBRÜDER WAXMAN
Teil 1
Vor dem Krieg lebte unsere Familie in Welisch, einem Ort in der Oblast Smolensk. Dieses kleine russische Städtchen gehörte seinerzeit zum Ansiedlungsrayon.[1] Aus diesem Grund lebten dort vor dem Krieg viele Juden. Mein Vater Max Moissejewitsch war Lehrer für jiddische Sprache und jiddische Literatur an einer jüdischen Schule. Diesen Beruf übte er bis zum Jahr 1938 aus, als alle jüdischen Schulen in der RSFSR für perspektivlos erklärt und aufgelöst wurden. In den darauffolgenden Jahren arbeitete er an einer russischen Schule, wo er als vielseitig gebildeter Mann Deutsch und Geografie unterrichtete. Seinen singenden jüdischen Akzent ist er bis zum Ende seiner Tage nicht losgeworden, wobei diese Tatsache ihm in Welisch vor dem Krieg kaum Schwierigkeiten bereitet haben dürfte. Meine Mutter Anna (Hana) Semjonowna war ebenfalls Lehrerin, unterrichtete allerdings an einer Grundschule.
Zu Kriegsbeginn war ich erst zwei Jahre alt. Meine Erinnerungen an die ersten Kriegstage und an unsere überstürzte Flucht sind deshalb sehr vage. Mitunter fällt es mir schwer herauszufinden, woran ich mich wirklich erinnere und was ich aus Erzählungen meiner Eltern und meines Bruders weiß. Die prägnantesten Erinnerungen haben sich dennoch in mein Gedächtnis eingebrannt. An die Ereignisse nach der Evakuierung erinnere ich mich viel lebhafter.
Ich hatte zwei ältere Brüder – den damals vierzehnjährigen Ljonja und den neunjährigen Sjoma. Meine Mutter war damals im neunten Monat schwanger. Mein Vater wurde nach Kriegsausbruch nicht an die Front berufen: er war sechsundvierzig Jahre alt, hatte seit dem Ersten Weltkrieg eine Behinderung und humpelte merklich. Später, nachdem wir bereits evakuiert worden waren, hat man ihn trotzdem eingezogen. Obwohl er aufgrund seines Alters und seiner Behinderung als untauglich für den Truppendienst eingestuft wurde, kämpfte er an der Stalingrader Front, wurde mehrmals verwundet und im Jahr 1944 aus der Armee entlassen.
Unsere Eltern erzählten später, dass sie zu Kriegsbeginn diskutierten, ob sie vor den Deutschen fliehen sollten. Mein Vater, der im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte, behauptete, die Deutschen würden den Zivilisten nichts zuleide tun. Im Juli 1941, als sich die Frontlinie immer weiter in östliche Richtung verschob, fällten sie die Entscheidung und flohen.
Niemand konnte sich an eine organisierte Evakuierung als solche erinnern. Aus Welisch marschierten wir bis zur nächsten Station zu Fuß – mein Vater trug mich auf dem Arm, bei uns waren meine schwangere Mutter, Ljonja und Sjoma. Wir brachen fast ohne Gepäck auf. Die wenigen Sachen, die wir mitgenommen hatten, mussten wir unterwegs zurücklassen, denn irgendwann ließen unsere Kräfte nach. Meine Mutter erzählte, dass die Straßenränder von unzähligen Bündeln und Koffern übersät waren. Mit Ach und Krach schafften wir es zur Station. Nachdem der Zug losgefahren war, setzten bei meiner Mutter Wehen ein. Wir stiegen in der Nähe von Rschew aus, mein Vater brachte meine Mutter ins Krankenhaus und auch ich durfte sie begleiten. Meine Brüder durften nicht mit uns im Krankenhaus bleiben. Während meine Mutter ihre Tochter zur Welt brachte, wurde die Station bombardiert. Dort herrschte die reinste Hölle. In diesem Chaos gingen meine Brüder verloren und konn ten nicht schlüssig erklären, wo ihre Eltern waren. Daraufhin brachte man sie in ein Kinderheim. Um es vorwegzunehmen, beide Brüder sind am Leben geblieben, allerdings fanden wir sie erst zwei Jahre später wieder.
Meine Mutter hatte ein kleines Mädchen zur Welt gebracht. Ich erinnere mich sehr gut an mein neugeborenes Schwesterchen – man zeigte sie mir, ich streckte ihr meine Hand entgegen und sie krallte sich mit ihren winzigen Fingern daran. Der Kleinen gab man den Namen Assja. Meine Mutter behauptete, dass sie gesund und stark zur Welt gekommen sei. Meine Mutter war jedoch sehr schwach, sie verlor viel Blut und hatte keine Milch. Wegen der Mangelernährung verstarb meine kleine Schwester zwei Wochen nach ihrer Geburt.
Es dauerte bis zum Herbst, bis wir an unserem Bestimmungsort ankamen. Wir wurden im Dorf Tetwel in der Tatarischen Autonomen Sowjetrepublik untergebracht. Obwohl der Ort in Tatarstan lag, war das ein russisches Dorf. Wir mieteten uns in einer kleinen Ecke in einer Holzstube ein. Anfangs behandelte man uns gut, zumindest kann ich das von mir behaupten. Die Hausherren hatten eine kleine Tochter namens Raja, die so alt war wie ich. Wir freundeten uns an. Ich eignete mir sogar einen lokalen Dialekt an und sprach wie die Einheimischen. Noch heute erinnere ich mich an alberne Lieder, die Raja und ich sangen, während wir um einen Hocker herum tanzten.
Einmal während der orthodoxen Weihnachtsfeiertage kamen Weihnachtsliedersänger in unsere Stube. Sie sangen Lieder für die Hausherrin, dann für ihre Tochter. Mich beachteten sie nicht. Das kränkte mich so, dass ich weinen musste. Meine Mutter rannte bei frostigem Wetter aus der Stube und brachte die Liedersänger wieder zurück ins Haus. Sie kehrten zurück und sangen für mich persönlich ein Lied.
Höchstwahrscheinlich wurde ich als kleines Kind verwöhnt und bekam mehr zu essen als alle anderen. Trotzdem war ich permanent hungrig. Was haben wir nicht alles gegessen – mal gab es Melde, mal aus angefaulten Kartoffeln zubereitete Kartoffelpuffer. Möglicherweise erkrankte meine Mutter wegen der Mangelernährung an Typhus. Sie war verzweifelt, denn ihre Lage schien aussichtslos. Ihr Mann war an der Front, ihre neugeborene Tochter gestorben, ihre Söhne während des Luftangriffs möglicherweise ums Leben gekommen… Vor lauter Verzweiflung nahm sie mich auf den Arm und rannte zum Brunnen, um sich zu ertränken. Erst als sie schon am Brunnen war, kam sie zur Vernunft…
Einmal kehrte ein einheimischer Soldat für seinen Heimaturlaub in das Dorf zurück. Alle Nachbarn versammelten sich, um seinen Geschichten von der Front zuzuhören. Auch meine Mutter ging hin. Für seine Angehörigen hatte der Soldat Lebensmittel mitgebracht und auch die Nachbarn erhielten kleine Geschenke. Für meine Mutter schnitt der Soldat ein klitzekleines Stück Weißbrot ab. Als meine Mutter nach Hause zurückkehrte, weckte sie mich, ohne bis zum nächsten Morgen zu warten. Sie wollte mir sofort diese besondere Delikatesse – ein Stück Weißbrot – zu essen geben. Einige Zeit später, vermutlich im Jahr 1943, kam auch mein Vater für ein paar Tage von der Front zu uns zurück und brachte zwei Laibe Schwarzbrot mit. Auch dieses Brot war lecker und etwas Besonderes. Trotzdem war dieses kleine Stück Weißbrot mitten in der Nacht mit nichts zu vergleichen, ich habe in meinem ganzen Leben nie etwas Köstlicheres gegessen.
Derweil suchten meine Eltern die ganze Zeit hartnäckig nach meinen Brüdern. Ljonja fanden sie im Jahr 1943 an einer Handwerksschule in Omsk. Zuvor war er zu einem Arbeitseinsatz in die Nähe von Stalingrad geschickt worden, unweit der Gegend, in der mein Vater zeitgleich kämpfte. Dort musste mein Bruder Schützengräben ausheben.
Als Ljonja zu uns zurückkehrte, war die Freude riesig. Für mich begann damit allerdings eine schwere Zeit. Es hatte damit zu tun, dass ich blond war und blaue Augen hatte. Ich war von den einheimischen Kindern nicht zu unterscheiden und darüber, dass meine Mutter und ich Juden waren, hatte sich niemand Gedanken gemacht. Ljonja hingegen hatte ein typisch jüdisches Äußeres – dunkle Haare und eine charakteristische große Nase. Die Dorfbewohner stempelten ihn sofort als einen Fremden ab. Ich kann nicht genau sagen, wann sich das Verhalten der Einheimischen unserer Familie gegenüber veränderte. Doch plötzlich ließen mich meine einstigen Freunde nicht mehr an unseren gemeinsamen Spielen teilnehmen und jagten mich. Ich merkte auf einmal, dass ich nicht so wie die anderen war. Von den Erwachsenen hörte ich zum ersten Mal das Wort „Judenbengel“. Ich mag es mir gar nicht ausmalen, was Ljonja sich in seiner verhassten Handwerksschule anhören musste. Die Jugendlichen dort waren abgebrüht und fanden zahlreiche Wege, den einzigen Juden, der dazu noch aus einer Lehrerfamilie stammte, zu misshandeln. Mein Bruder erzählte, dass sie einen Wettbewerb veranstalteten, der darin bestand, ihn so geschickt wie möglich mit einem Löffel auf die Nase zu hauen, damit sofort Blut floss. Dazu sagten sie auch noch spöttisch: „Weil du ein dreckiger Jude bist!“ Wie in jeder Familie hatten mein Bruder und ich im Laufe unseres langen Lebens Streit, Diskussionen und Konflikte. Doch jedes Mal, wenn ich daran dachte, was er während des Krieges hatte durchmachen müssen, fiel es mir leicht, ihm alles zu verzeihen.
Ljonja hatte einen starken und gefestigten Charakter. Die Erlebnisse der Kriegszeit haben ihn weder gebrochen noch verbittert. Das Schicksal meines mittleren Bruders Sjoma war hingegen sehr tragisch. Er kam in ein Kinderheim, wo er schnell verinnerlichte, wie man nach dem Recht des Stärkeren lebt. Unter anderem prägte er sich stark ein, dass es peinlich ist, eine Schwäche zu zeigen oder ein Jude zu sein. Als mein Vater ihn fand und 1944 aus Zentralasien zurückholte, war mein armer Bruder ein waschechter Rowdy und ein hoffnungsloser Antisemit. Er strafte unsere Eltern mit offener Verachtung und äffte die jüdische Sprechart meines Vaters nach. Nicht einmal die Rückkehr in die heimische Gegend, ins befreite Smolensk, änderte etwas daran.
Nach unserer Heimkehr gingen wir nach Smolensk, statt uns in meiner Heimatstadt niederzulassen. Unser altes Zuhause war von anderen Menschen bewohnt. Alle Juden, die es nicht geschafft hatten zu fliehen, waren von den Deutschen ermordet worden. Wie konnten wir in unserem Heimatort leben, nach all den tragischen Ereignissen, die dort vorgefallen waren? So entschieden wir, uns in Smolensk niederzulassen.
Nach unserer Rückkehr schmiss mein Bruder Sjoma früh die Schule und schloss sich einer dubiosen (dafür nichtjüdischen!) Clique an. Schon bald kam er vor Gericht wegen einer Teilnahme an einer Prügelei. Weil der Geschädigte ein Offizier der Roten Armee war, erhielten die Angeklagten selbst für die damalige raue Zeit sehr harte Haftstrafen. Sjoma wurde zu zwanzig Jahren in einer Kolonie mit strengen Haftbedingungen verurteilt. Ohne auch nur ein Jahr seiner Strafe verbüßt zu haben, starb er im Gefängnis mit erst zwanzig Jahren.
[1]Als Ansiedlungsrayon wurde im Russischen Reich das Gebiet bezeichnet, in dem es Juden erlaubt war, dauerhaft wohnhaft zu bleiben. Es war nur bestimmten Gruppen jüdischer Bevölkerung gestattet, sich außerhalb des Ansiedlungsrayons anzusiedeln. Welisch gehörte ab 1802 dem Gouvernement Witebsk an und war dadurch Teil des Ansiedlungsrayons (Anm. der Redaktion).