Erinnerungen
Evakuierung und Flucht

Leningrader Blockade

Mojredin Sara

Geboren 1926 in Berschad, Oblast Winnyzja, Ukrainische Sowjetrepublik, heutige Ukraine. Unmittelbar vor dem Krieg verlor sie ihre Eltern (1937 starb ihre Mutter, drei Jahre später ihr Vater) und musste sich um ihre jüngere Schwester kümmern. Sie flüchtete mit ihren Verwandten nach Sibirien, wo sie in einer Rüstungsfabrik arbeitete. Nach dem Krieg zog Sara Mojredin nach Moldawien, später erhielt sie einen Abschluss einer Fachschule für Ökonomie in Odessa und arbeitete als leitende Ökonomin. Im Jahr 1991 wanderte sie aus Moldawien nach Israel aus. Lebt in Aschdod, hat zwei Töchter, zwei Enkeltöchter und zwei Urenkel.

MEINE KRIEGSJUGEND

Als der Krieg begann, war ich fünfzehn und meine kleine Schwester siebeneinhalb Jahre alt. Wir lebten in Berschad, einem kleinen Schtetl in der Oblast Winnyzja in der Ukraine. Zur Zeit der Evakuierung waren unsere Eltern nicht mehr am Leben. Wir begaben uns zusammen mit unserer Tante und unserem Onkel, die beide nicht mehr die jüngsten waren, auf die Flucht. Mit uns zusammen flüchteten auch ihr dreizehnjähriger Sohn und unsere alte Großmutter. Uns war klar, dass wir nicht viele Sachen mitnehmen konnten, deshalb packten wir nur etwas Kleidung sowie die eine oder andere Sommerdecke ein.

Dazu trug unter anderem bei, dass der Charakter meiner Tante stark an die Figuren aus den Kurzgeschichten Scholem Alejchems erinnerte[1]. Sie war sich sicher, dass wir spätestens in einem Monat wieder zurückkehren würden. Sie schloss die Haustür ab und versteckte den Schlüssel, damit er um Gottes Willen nicht verloren gehen würde. Mit unseren Sachen machten wir uns auf den Weg zur Station, die etwa drei Kilometer von unserem Haus entfernt war.

Bereits wenige Tage später brachten rumänische Einheiten zehntausende Juden aus Bukowina in unseren Heimatort. Dort errichteten sie das berühmt-berüchtigte Ghetto von Berschad. In unserem Haus, das aus drei Zimmern bestand, wurden über dreißig Personen untergebracht. Auch andere leerstehende Häuser waren vollkommen überfüllt. Im Winter rissen Menschen die Dielen ab, zerschlugen Zimmertüren und Möbel, um damit zu heizen und nicht zu erfrieren.

Vor dem Krieg hatte unsere Familie ein gutes Leben gehabt. Mein Vater arbeitete als Chefbuchhalter, meine Mutter war Lehrerin. Unser Haus war hübsch eingerichtet: wir hatten schicke Möbel und sogar einen wunderschönen deutschen Flügel, den die Rumänen nach ihrer Ankunft in Berschad umgehend in ihren Besitz nahmen und nach Rumänien brachten. Alle anderen Gegenstände im Haus wurden niedergebrannt und das Haus abgerissen. Was am Ende davon übrig blieb, war ein leeres Terrain.

Als wir am Bahnhof in Berschad ankamen, nahmen wir zunächst Platz in einer Schmalspurbahn. Zwei Stunden nach der Abfahrt mussten wir in einen mit Gerätschaften beladenen Flachwagen umsteigen. So kamen wir an der Station Pomoschnaja an. Wir legten nur etwa acht bis zehn Kilometer zurück, schon gab es einen Fliegeralarm. Der Zug hielt an und die Menschen stürmten blind hinaus. Die Deutschen zerstörten die Lokomotive und zwei Flachwagen. Als der Fliegeralarm aufgehoben wurde, begannen die Menschen, nach ihren Angehörigen zu rufen und sie zu suchen. Das war unerträglich. Ich werde nie vergessen, wie ein Mann seine Frau und seine zwei Kinder suchte. Alle drei fand er schließlich leblos in einem Bombentrichter. Mein Gott, wie verzweifelt er geschrien hat! Auch wir hatten unsere Oma aus dem Blick verloren, fanden sie aber wenig später wieder, auf dem Boden liegend und vom Schock gelähmt. Ein Krankenwagen traf ein und nahm diejenigen Verletzten mit, die sich nicht bewegen konnten, unter anderem unsere Oma. Die Verwundeten, die nur irgendwie gehen konnten, hatte man zurückgelassen. Die Toten blieben auf der Erde liegen.

Wir hingegen marschierten bei der Julihitze weiter, mit all unseren Sachen, ohne Wasser und Lebensmittel. Endlich kamen wir an der nächsten Station an. Dort trafen wir riesige Menschenmassen an. Wir machten uns auf die Suche nach unserer Oma. Niemand konnte uns irgendetwas über ihren Verbleib sagen. Nach einer langen Suche fanden wir sie, auf einer Bank sitzend und bitterlich weinend: der Krankenwagen hatte sie zu einem kleinen Park gebracht, sie aussteigen lassen und war dann weggefahren.

Einige Stunden später stiegen wir wieder auf die Flachwagen eines Zuges. Bald fuhren wir los, und auch die nächsten Luftangriffe ließen nicht lange auf sich warten. Es gab drei davon. Anfangs sprangen wir vom Wagen, rannten auseinander, schrien, weinten und suchten uns gegenseitig, als es wieder vorbei war. Irgendwann weigerte sich Oma, zum wiederholten Mal die Wagenplattform zu verlassen. „Und wenn schon, dann sollen sie mich eben töten“, sagte sie.

Während wir ums Überleben kämpften, wurden wir drei Mal bestohlen. In welche Richtung wir gefahren wurden, wussten wir nicht. Schließlich kamen wir im Gebiet Krasnodar an, in einer Kosakensiedlung namens Krasnoarmejskaja. Dort arbeiteten wir sechs Monate lang in einer Kolchose. Meine Oma starb. Mit großer Mühe fanden wir Menschen, die uns dabei halfen, sie zu beerdigen. Als die Deutschen schon im Anmarsch auf Krasnodar waren, wurden wir wieder evakuiert. Und wieder wussten wir nicht, wo der Zug uns hinbrachte. Unterwegs erkrankte meine Schwester an Scharlach und wir mussten in Borissoglebsk, Oblast Woronesh, aussteigen. Man brachte sie in ein Krankenhaus und man bat uns darum, uns eine Wohnung zu suchen. Schließlich fan den wir ein Zimmer außerhalb der Stadtgrenze. Wir hatten überhaupt kein Geld und kaum Kleidung. Ich suchte mir eine Arbeit beim Borissoglebsker Reparaturwerk für Eisenbahnwagen, wo ich eine Drechslerausbildung in einer Abteilung für militärische Produktion begann. Dort waren wir für die Herstellung von Minen zuständig. Als ich die Ausbildung abschloss, war ich noch keine sechzehn Jahre alt. Wenn unsere Abteilung den Produktionsplan nicht erfüllte, mussten wir bis zu achtzehn oder zwanzig Stunden am Tag arbeiten. Mein Gott, was waren das für erschöpfende Nächte! Insbesondere frühmorgens träumte ich nur davon, etwas Schlaf zu bekommen. Ich erinnere mich, wie ich einmal lange auf die Ersatzteile warten musste. In einer abgelegenen Ecke der Produktionsstätte hatte ich etwas Stroh gesehen. Ich rannte los, ohne dass mich jemand bemerken konnte, und legte mich kurz hin. Ich wünschte mir so sehr, dass diese fünf Minuten nur mir gehörten! Doch ich habe mich geschnitten. Der Industriemeister sah mich und schrie mich an: „Guck‘ sie dir nur an! Hat es sich hier bequem gemacht, wie eine Prinzessin. Ab zu deinem Arbeitsplatz!“ Das war eine Situation, die auch Scholem Alejchems Feder hätte entstammen können… Schlaftrunken kehrte ich zu meiner Werkzeugmaschine zurück. Unfassbar, dass ich mich an diesem Tag nicht mit dem Bohrer verletzte, so müde wie ich war.

Als die Deutschen schon in der Nähe von Woronesh waren, wurde unser Werk nach Rubzowsk im Gebiet Altai evakuiert. Während des Umzugs schickte man mich als kleines und zierliches Mädchen als Auszubildende in die Buchhaltung. Doch meine Zeit dort war schnell vorbei. Die Regierung erließ eine Gesetzesverordnung, die besagte, dass erwerbsfähige Familienangehörige, die nicht arbeiteten, ab sofort keine Lebensmittelkarten erhielten. Alle Chefs und Direktoren begannen sofort, ihren Ehefrauen Arbeitsstellen zu beschaffen. Ich wurde auf die Straße geworfen und musste nun das Fabrikgelände sauber halten und andere niedere Arbeiten verrichten. Ich arbeitete bei minus 36-40 Grad in einer Übergangsjacke, Gummischuhen, einem Tuch aus Baumwolle und Arbeitshandschuhen aus Plane, die mir mein Arbeitgeber zur Verfügung stellte. Meine Handrücken waren vor Kälte angeschwollen und sahen aus wie dicke Kissen. Sie bluteten und eiterten, weshalb die Handschuhe durch den Frost hart wie Holz wurden. Nach der Arbeit riss ich die Handschuhe von den Händen und zog sie am nächsten Tag wieder an.

Oft liefen mein Cousin und ich nachts zum Bahnhof. Dort standen häufig Güterzüge mit Zuckerrüben, die wir klauten und zu Hause auf dem Herd backten. Wenn man uns erwischt hätte, wären wir ins Gefängnis gekommen. Doch wir taten es trotzdem – wir hatten kaum etwas zu essen und eine schmackhaftere Delikatesse als gebackene Zuckerrübe konnten wir uns nicht vorstellen.

Am schlimmsten war es, wenn jemand nachts an der Tür klopfte und befahl: „Aufwachen, ab zum Kohle ausladen!“ Das bedeutete, dass gerade mehrere Eisenbahnwagen mit Kohle angekommen waren, die man ausladen sollte. Sibirische Frauen konnten sich mein Leiden nicht anschauen und überredeten mich dazu, zum Betriebsleiter zu gehen. Als ich mich bei ihm beschwerte und ihm meine Hände zeigte, schrie er mich an und verjagte mich. Er redete sich in Rage: „Die Leute an der Front sterben reihenweise und du willst hier ein schönes Leben haben!“ Ich brach in Tränen aus und rannte weg. Dann schrieben diese Frauen, ohne mir etwas zu sagen, einen Brief an den Staatsanwalt. Ich weiß nicht, was sie genau geschrieben haben, doch eines Abends kam ein junger Mann zu uns und fragte nach Sara Mojredin. Ich sagte, dass ich das sei. Er fragte, ob ich einen Brief an den Staatsanwalt geschrieben habe. Ich hatte nicht die geringste Ahnung davon. Auch meine Tante begann, sich zu beklagen und sagte, wir würden von nichts wissen. Der junge Mann sagte zu mir, ich solle mich umziehen und mit ihm mitkommen. Alle haben sich erschrocken, doch der Mann versicherte, alles sei in bester Ordnung. Es stellte sich heraus, dass er ein Sekretär einer Komsomolorganisation beim Eisenbahnknotenpunkt von Rubzowsk war. Der Mann brachte mich zum Sekretär des Parteikomitees Herrn Smirnow. Ich betrat sein geräumiges Büro. Am Schreibtisch saß ein stattlicher, etwa fünfzigjähriger Mann, der mit seinem kahlrasierten Kopf dem Helden des Bürgerkrieges Grigorij Kotowskij sehr ähnlich sah. Er begrüßte mich väterlich und herzlich und bat mich darum, Platz zu nehmen und von mir zu erzählen. Auch sollte ich ihm umgehend meine Hände zeigen. Als er meine entstellten Hände sah, drehte er sich weg und schloss die Augen. Nachdem er meine Geschichte gehört hatte, sagte er zu mir: „Gehe morgen nicht zur Arbeit, ich werde dir eine neue Beschäftigung finden.“ Ich erschrak: ich durfte meine Arbeit nicht schwänzen, sonst würde man mich verklagen, denn die Arbeit der Eisenbahn war dem Kriegs- recht untergeordnet. Er beruhigte mich und sagte, er würde die Verantwortung dafür übernehmen. Er stellte mir einen Scheck für zwei Paar Filzstiefel für mich und meine Schwester, eine Steppjacke, zwei warme Mützen und Filzhandschuhe aus. Dank diesem Mann war ich nun Auszubildende in der Buchhaltung bei der örtlichen Abteilung für die Eisenbahnarbeiterversorgung. Ich wurde miserabel bezahlt, aber wenigstens arbeitete ich im Warmen.

Sara Mojredin nach dem Krieg, 1949.

Ich erinnere mich daran, wie wir während der Oktoberfeiertage[2] einen Arbeitsdienst in verschiedenen Unterabteilungen ableisten mussten. Ich wurde einer Bäckerei zugeordnet. Meine Freude kannte keine Grenzen: vielleicht bekomme ich ja ein extra Stück Brot, dachte ich mir. An diesem Tag hatte ich Telefondienst von acht Uhr abends bis acht Uhr morgens. Als ich mich für die Nachtschicht fertig machte, nahm ich ein kleines Stück Brot von meiner Ration von vierhundert Gramm mit. Ich saß vor dem Telefon im Büro der Bäckerei und der Duft der frischgebackenen Brote durchzog meinen Körper von Kopf bis Fuß. Ich hielt es nicht mehr aus und begann, mein Brot zu essen.

In diesem Moment betrat die Bäckereimitarbeiterin das Büro und erkundigte sich danach, was ich gerade tue. Ich sagte, dass ich Telefondienst habe und gerade mein von zu Hause mitgebrachtes Brot esse. Da sagte sie zu mir: „Du dummes Ding! Du kommst in eine Bäckerei und bringst dir dein eigenes Brot mit! Komm‘ mit in die Backstube, ich gebe dir etwas frisches Brot.“ Ich lehnte sofort ab: „Ich darf meinen Arbeitsplatz nicht verlassen, sonst kriege ich womöglich Ärger!“ Da lachte die Frau über mich und meinte: „Wen interessiert es, was du gerade machst? Unsere Vorgesetzten sind heute eh nur am Feiern und Trinken!“

Die Versuchung war groß, ich konnte nicht widerstehen und ging mit. Genau zu der Zeit wurde heißes Weißbrot aus dem Ofen herausgeholt. Die Mitarbeiterin nahm einen Laib, riss ein großes Stück ab, übergoss es mit Sonnenblumenöl und gab es mir. Gierig nahm ich das Brotstück in die Hände und aß es. Dann war ich allerdings eine Woche lang ziemlich krank: heißes Brot bekam meinem ausgehungerten Magen nicht gut. Dafür konnte ich während meiner Krankheit meine Brotration aufsparen.

Das war Ende 1942. Wir hatten noch drei schwere Kriegsjahre vor uns, die es zu überleben galt. Dann folgte die Rückkehr nach Hause – ins Nichts… Doch das ist eine andere Geschichte.

 


[1]Scholem Alejchem (1859-1916) war ein bedeutender jiddischsprachiger Schriftsteller und einer der Begründer der modernen jiddischen Literatur. Mit viel Sprachwitz zeichnete er in seinen Erzählungen die Realität von Juden in osteuropäischen

[2]Der Jahrestag der Oktoberrevolution wurde in der Sowjetunion prachtvoll gefeiert. Nach dem Übergang vom julianischen zum gregorianischen Kalender wurden die Feierlichkeiten jährlich am 7. November abgehalten (Anm. des Übersetzers).