Erinnerungen
Evakuierung und Flucht

Leningrader Blockade

Waxman Leonid

Leonid Waxman wurde 1927 in Gorodez, Oblast Gomel, heutiges Weißrussland, geboren. Von Beruf Entwicklungsingenieur, lebt in Rybinsk, Russland, hat eine Tochter, zwei Enkeltöchter und drei Urenkel.

DIE ERINNERUNGEN DER GEBRÜDER WAXMAN

Teil 2.

…kurz nach Kriegsbeginn verloren wir uns. Nach einer strapaziösen Fahrt kamen Sjoma und ich in ein Kinderheim in Dubrowka. Ich wurde umgehend nach Stalingrad geschickt und einer Handwerksschule namens „Barrikaden“ zugewiesen. Mein Bruder Sjoma blieb im Heim. Als die Deutschen im Anmarsch auf Stalingrad waren, löste man das Heim auf. Die Kinder wurden auf verschiedene Regionen des Landes aufgeteilt. So kam er in die Nähe von Schambyl, wo er anfangs in einer Jurte mit einem Hirten wohnte.

Handwerker und Arbeiter, darunter auch ich, wurden zu den Befestigungsanlagen abkommandiert, um Schützenund Panzergräben auszuheben. Als die Fallschirmjäger der Wehrmacht in der Nähe landeten, wurden wir in ein Arbeitsbataillon eingegliedert. Jeder erhielt ein Maschinengewehr und zehn Schuss Munition. Wir schossen auf die Deutschen, um sie auf dem Vormarsch aufzuhalten, während wir auf die regulären Einheiten der Roten Armee warteten. Nach einem Granateneinschlag erlitt ich ein Schädel-Hirn-Trauma. Gemeinsam mit drei weiteren Verwundeten wurden wir mit einem Pferdewagen zur Wolga und anschließend mit einer Fähre ans andere Ufer gebracht. Trotz der nächtlichen Überfahrt war es hell: das Erdöl auf dem Wasser und die Gebäude in der Stadt Stalingrad brannten lichterloh. Die deutschen Flugzeuge bombardierten und beschossen alles, was auf der Wolga unterwegs war. Es gelang uns dennoch, mit der Fähre ans andere Wolgaufer zu gelangen.

Danach fuhren uns Pferdewagen durch die Steppe ins Ungewisse. Nach einer langen und aufreibenden Fahrt kamen wir in Omsk an. Ich war zu diesem Zeitpunkt vierzehn Jahre alt. Wieder wurde ich an eine Handwerksschule geschickt. Die Schule gehörte zur Fabrik „Sibselmasch“, die Granaten und Granatwerfer herstellte. Dort habe ich ein Jahr lang gearbeitet. Dieses Jahr empfand ich als die reinste Hölle, es war schlimmer als in den Schützengräben bei Stalingrad. Dafür, dass ich nach meinem Schädel-HirnTrauma stotterte, wurde ich permanent verprügelt. Ich fragte:
„Warum schlagt ihr mich?“ Man antwortete mir: „Weil du ein Scheißjude bist.“ Mehr als der Hunger und die Kälte ist mir einer dieser Dreckskerle namens Fjodorow in Erinnerung geblieben. Viele Jahre später, nach dem Krieg, traf ich ihn in Smolensk, doch das ist eine andere Geschichte.

Im Jahr 1943 traf ich in Omsk zufällig die Schwester von Maria Borissowna Moissejewa, welche meine allererste Lehrerin gewesen war. Von ihr erfuhr ich die Feldpostnummer meines Vaters und die Adresse meiner Mutter. Da ich völlig abgemagert war, mich kaum auf den Beinen hielt und keine Bereicherung für die Produktion darstellte, entließ man mich nach Hause zu meiner Mutter. Meine Reise dauerte knapp zwei Monate – von Januar bis Mitte März. Mehr als zweihundert Kilometer legte ich durch unwegsames Gelände im tiefen Schnee zurück. Ich trug Halbstiefel, die ich vorher in alte Zeitungen eingewickelt hatte. Darüber, wie ich mich bis nach Tetwel durchkämpfte, könnte ich sehr lange erzählen.

Und so erlebten unsere Eltern all diese Jahre. In Orscha kam meine Schwester zur Welt, die wenig später dort starb. Kurz darauf wurden meine Eltern samt Viktor nach Tatarstan evakuiert. Trotz seiner schweren Verwundung aus dem Ersten Weltkrieg wurde mein Vater im Jahr 1942 an die Front geschickt. Er war untauglich für den Truppendienst, dennoch diente er zwei Jahre in den regulären Einheiten der Roten Armee. Er erhielt ein Maschinengewehr und wurde in die Schützengräben geschickt mit der Ansage: „Kämpf, Rotarmist, so sind die Zeiten, bei uns müssen auch Verwundete kämpfen, selbst wenn sie nur ein Bein haben.“ Er war bis Mitte 1944 an der Front, wurde nach einer abermaligen Verwundung aus der Armee entlassen und kam nach Tetwel, wo meine Mutter an einer Dorfschule als Lehre rin arbeitete. All das, was er meiner Mutter und uns mitbringen wollte, wurde ihm aus seinem Rucksack gestohlen.

In diesem Zusammenhang erinnere mich an eine Geschichte darüber, wie ein verwundeter Soldat seinem Vater einen Laib Brot aus dem Lazarett schickte. Der alte Mann aß das Brot ganz alleine auf und starb nur wenig später.

…Nach einer fürchterlichen Missernte im Vorjahr aßen wir Melde und Baumrinde. Alle litten unter Magenschmerzen. Zahlreiche Menschen verhungerten. Im Frühling fingen wir an, Morcheln zu sammeln. Auf den Feldern gruben wir verfaulte Kartoffeln aus. An einem Feiertag schaffte es meine Mutter, Rizinusöl zu beschaffen und machte uns Kartoffelpuffer. Danach hatten wir alle Durchfall. Nachdem das Eis geschmolzen war, begann ich, regelmäßig fischen zu gehen. Einmal gelang es mir, ein Wildkaninchen zu erlegen – das war ein Riesenfest für uns. Ich flocht Körbe und Bastschuhe, die wir ins tatarische Nachbardorf Tawel brachten und gegen Salma, eine Art Klöße aus Ölkuchen, umtauschten. In Tetwel gab es nur eine Grundschule. In die siebte Klasse ging ich deshalb an eine Schule im Nachbardorf Jamaschi. Dazu musste ich täglich fünf Kilometer zu Fuß zurücklegen. Bald fand mein Vater Sjoma und holte ihn aus Kasachstan zu uns nach Hause.

 

Ich (links), Galja und Mischa Aschmarin, die Kinder der Leiterin der Apotheke, in der meine Mutter arbeitete. Snamenka, 1942