Erinnerungen
Evakuierung und Flucht

Leningrader Blockade

Bolkunowa (geb. Priluzkaja) Tatjana

Geboren 1930 in Wapnjarka, Oblast Winnyzja, Ukraine. Arbeitete nach dem im ukrainischen Tschernowzy erworbenen Universitätsabschluss als Buchhalterin. Lebt in Kirjat Gat, hat zwei Kinder, zwei Enkelkinder und fünf Urenkel.

UNSERE HÄNDE UND NASEN WAREN ERFROREN…

Ich wurde am 11. Mai 1930 in der Ukraine, in der Siedlung Wapnjarka, in eine orthodox-jüdische Familie geboren. Mein Opa Waks Kolmyn hatte vor der Revolution in Warschau einen Jeschiwa-Abschluss erlangt und arbeitete als Kantor. Nach der Revolution kehrte er in seine ukrainische Heimat, nach Tultschyn, zurück. Wenig später wurde er Rabbiner in Wapnjarka. Wir hatten einen schönen Hof: in einem großen Haus mit einer Mikwe[1] wohnten meine Großeltern, das kleinere Haus gehörte unserer Familie. Im Hof stand dauerhaft eine Sukka[2], es gab einen kleinen Garten und sehr schöne Blumenbeete.

Im Jahr 1936 veranlassten die Behörden die Schließung der Synagoge. Mein Opa wurde Schächter. Darüber hinaus war er zuständig für die Durchführung unterschiedlicher jüdischer Bräuche, beispielsweise Brit Mila[3] und Chuppa[4]. Im Jahr 1938 wurde mein Vater Sisja Priluzkij des Zionismus bezichtigt und verhaftet. Er war Abgeordneter des Dorfrates und Schwiegersohn des von allen geliebten Rabbiners. Damit nahm die glückliche Kindheit von mir und meiner Schwester ein jähes Ende: wir waren nun Kinder eines „Volksfeindes“. Meine Mutter wurde entlassen und wir lebten von nun an nur von dem, was mein Großvater verdiente.

Im Kindergarten, neben meiner Mutter sitzend. Wapnjarka, 1936

Ende 1940 entschied sich meine Mutter, nach Moskau zu fahren, um bei einer Bürgersprechstunde mit Stalin über die Verhaftung meines Vaters zu sprechen. Die Mitarbeiter im Kreml empfingen sie höflich und nahmen ihren Antrag entgegen. Man versprach meiner Mutter, sich um die Angelegenheit zu kümmern und bot ihr eine kostenlose Rückfahrkarte an. Nach der Aushändigung der Fahrkarte riefen die Mitarbeiter bei unserem örtlichen NKWD- Büro an mit der Anweisung, meine Mutter bei der Rückkehr am Bahnhof abzuholen und anschließend samt Kindern nach Sibirien zu deportieren. Glücklicherweise arbeitete ein Freund unserer Familie im Dorfrat. Er fand in einem Nachbardorf einen ukrainischen Mann, der sich bereiterklärte, uns bei sich unterzubringen. Dieser Mann fuhr nach Schmerinka – eine Station vor Wapnjarka – wo er meine Mutter vom Zug abholte und zu sich nach Hause brachte. In diesem Dorf versteckten wir uns bis zum Kriegsbeginn. Danach kehrten wir in unseren Heimatort zurück.

Im August 1941 wurde Wapnjarka erbittert bombardiert. Der Ort war ein strategisch wichtiger Eisenbahnknoten, den rund um die Uhr Militärzüge in Richtung Front passierten. Es gelang uns, Wapnjarka mit dem letzten Zug zu verlassen. Wir hielten Kurs auf den Ural, wobei wir über Wladikawkas fuhren. Die kürzeste Strecke über Odessa und Kiew war bereits von den Deutschen besetzt worden.

Kaum auszumalen, wie viele Menschen unterwegs vor unseren Augen starben! Nach den Luftangriffen lagen Köpfe, Beine und kleine Kinderleichen entlang der Bahnstrecke. So etwas kann man nicht vergessen… Erst zwei Monate später erreichten wir die Stadt Abdulino im Ural, in der Oblast Tschkalow. Wir wurden bei Einheimischen untergebracht. Man war uns gegenüber feindselig eingestellt. Wir trauten uns nicht auf die Straße: man hat uns gehänselt, mit Steinen beworfen und mit Wasser übergossen. Meine Mutter begann, als Wache in einer Backwarenfabrik zu arbeiten. Sie brachte uns immer einen Fladen und ein Glas Mehl von der Arbeit. Eines Tages erkrankte sie plötzlich und wurde ins Krankenhaus gebracht. Die Diagnose lautete: Typhus. Wir – mein dreiundachtzigjähriger Opa, meine kleine Schwester (Jahrgang 1933) und ich – blieben nun komplett ohne Existenzgrundlage. Die Behörden wollten uns in ein Kinderheim bringen, doch das hat Opa nicht erlaubt. Um nicht zu verhungern, gingen wir nicht in die Schule, stattdessen begaben wir uns zum Markt, um zu betteln. Dann fand ich Arbeit im Krankenhaus. Dort musste ich Verbandmaterial waschen. Die Suppe, die ich dort zu Mittag erhielt, brachte ich unangerührt in einem Glas nach Hause. Wie viele andere ging ich von Haus zu Haus, um warme Handschuhe und Socken für die Front zu sammeln. Außerdem sang ich im Krankenhaus Lieder für die verwundeten Soldaten. Briefe konnte ich für sie nicht schreiben, denn ich hatte vor dem Krieg nur vier Klassen abgeschlossen.

Zu Hause war es sehr kalt, es gab keinen Brennstoff. Deshalb waren wir gezwungen, Kohle zu sammeln. Wir stellten einen Eimer auf einen Schlitten und legten mehrere Kilometer bis zum Bahnhof zurück. Es war sehr frostig, bis minus fünfzig Grad. Der Schnee wurde nicht geräumt. Unser Opa betete immer, während wir unterwegs waren. Es gab keine Garantie, dass wir zurückkommen würden. Zwar sammelten wir nur die Kohlereste bei den Lokomotiven, aber selbst dafür hätte uns jemand verhaften können. Es war bitterlich kalt. Unsere Hände und Nasen waren erfroren…

Mein Opa starb am 6. Februar 1942. Wir beerdigten ihn auf einem tatarischen Friedhof. Später haben wir sein Grab nicht mehr finden können.

Einen Monat vor dem Tod meines Opas wurde meine Mutter aus dem Krankenhaus entlassen. Sie hat eine Behinderung davongetragen. Meine Mutter konnte nicht mehr arbeiten, deshalb mussten meine Schwester und ich unsere Existenz sichern. Wir hüteten Ziegen und erhielten dafür einen Liter Milch. Im Herbst halfen wir bei der Gemüse- und Kartoffelernte mit. Um zu überleben, suchten wir zudem nach Ähren in einem frisch geernteten Weizenfeld. Im Sommer war Schwarzer Nachtschatten unser wichtigstes Nahrungsmittel. Die schwarzen Beeren wuchsen entlang der Straßen. Ich weiß nicht mehr, wie viel Brot wir durch unsere Lebensmittelkarten erhielten, aber ich erinnere mich noch gut daran, wie wir es in kleine Stücke schnitten, um es aufzuteilen. Dazu gab es eine Tasse heißes Wasser… Von Zucker und anderen Delikatessen konnten wir nicht einmal träumen.

Ich in der neunten Klasse. Ich trage eine Soldatenbluse, die mir kurz zuvor geschenkt worden war. Wapnjarka, 1946

In Abdulino schloss ich die fünfte und die sechste Klasse ab. Meine Schwester ging nicht zur Schule: wegen des permanenten Hungers war sie zu schwach und konnte kaum aufstehen. In der Schule wollte niemand neben mir sitzen – man sagte zu mir, ich würde nach Läusen stinken. Wir bewohnten ein kleines Zimmer, das einer Abstellkammer glich. Dort stand ein einziges Bett, in dem meine Mutter und meine Schwester schliefen. Daneben lag meine Matratze. Unsere größten Träume waren es, uns satt zu essen und dass es zu Hause warm werden würde.

Im Sommer 1944 kehrten wir nach Wapnjarka zurück. Das Haus meines Opas war vollständig geplündert und zerstört worden. In unserem Haus war nur noch ein Zimmer bewohnbar, alle unsere Sachen waren jedoch gestohlen worden. In diesem Zimmer richteten wir uns gemeinsam mit unseren ehemaligen Nachbarn ein. Zu Hause angekommen, ging ich gleich in die achte Klasse. Meine Schwester wurde eingeschult. Der Judenhass war riesig, wir hatten Angst, auf die Straße zu gehen. Der Mann, der uns vor dem Krieg vor der NKWD versteckt hatte, half uns wieder. Er kaufte Schweine, schlachtete sie und gab uns die Knochen und etwas Fleisch. Meine Mutter bereitete daraus Borschtsch und Buletten zu, wir gingen damit zum Bahnhof und verkauften das Essen an die Reisenden. Kriegsrückkehrer, insbesondere Frauen, hatten Mitleid mit uns. Sie gaben uns Brot und manchmal Marschverpflegung. Einmal schenkten sie mir eine Soldatenbluse, einen Rock und Stiefel. Das waren die Kleider, die ich später bei meiner Schulabschlusszeremonie im Jahr 1948 trug. An diesem Abend trug ich auch zum ersten Mal in meinem Leben Stöckelschuhe. Das Kleid hatte mir unsere Nachbarin geliehen, deren Schwester von der Front zurückgekehrt war.

Dazwischen lagen die zwei furchtbaren Nachkriegsjahre. Zwischen 1946 und 1947 herrschte in der Ukraine Hungersnot. Die Lage war so dramatisch, dass Leichen direkt auf den Straßen lagen. Das war eine schreckliche Zeit.[5]

Mein Vater stammte aus Winnyzja, alle seine Angehörigen starben dort im Ghetto – seine Mutter, sein Bruder, seine Schwester mit ihrem Mann und zwei Kindern. Ich hatte mich entschieden, am Pädagogischen Institut in Winnyzja zu studieren, um dort etwas über ihren Tod zu erfahren. Die Prüfungen bestand ich erfolgreich, doch dann erhielt ich einen Brief vom Institut: die Tochter des Volksfeindes dürfe am Pädagogischen Institut nicht studieren, schon gar nicht an der Historischen Fakultät. Das war ein weiterer Schlag ins Gesicht.

Erst 1956 erhielten wir eine Bescheinigung über die Rehabilitierung meines Vaters.

 

 


[1]Als Mikwe wird im Judentum ein rituelles Tauchbad bezeichnet. Dieses dient nicht der körperlichen Hygiene, sondern der Reinigung von ritueller Unreinheit (Anm. des Übersetzers).

[2]Sukka ist eine Laubhütte, welche für gewöhnlich zum Sukkot-Fest aufgebaut wird. Während der Sukkotwoche essen religiöse Juden in der Laubhütte, manche übernachten dort. Die Sukka soll an die beschwerliche Flucht der Juden aus Ägypten erinnern (Anm. des Übersetzers).

[3]Als Brit Mila wird die Beschneidung von Jungen nach jüdischem Brauch bezeichnet (Anm. des Übersetzers).

[4]Bei Chuppa handelt es sich um eine jüdische Hochzeitsfeier. Zugleich wird so ein Traubaldachin bezeichnet, zu dem Brautleute bei einer traditionellen jüdischen Hochzeitszeremonie geführt werden (Anm. des Übersetzers).

[5]Es gab in der Ukraine im Jahr 1946 eine Missernte, trotzdem forderte die Regierung, etwa 6,5 Millionen Tonnen Getreide an den Staat abzugeben. In der Ukraine konnte eine solche Menge an Getreide nicht einmal in den ertragreichsten Jahren geerntet werden. Obwohl der Erste Sekretär des ZK der Kommunistischen Partei Nikita Chruschtschow berichtete, dass die Ukraine nicht nur kein Getreide liefern konnte, sondern selbst auf staatliche Lieferungen angewiesen war, wurde die gesamte Ernte aus der Ukraine ausgeführt. Daraufhin brach eine Hungersnot aus, an deren Folgen in den Jahren 1946-1947 über eine Million Menschen starben (Anm. der Redaktion).