Iljin Michail
Geboren im Jahr 1929. Nach der Evakuierung verbrachte er die Kriegszeit in Kasachstan. Lebte seit 1959 in Tschernigow, Ukraine. Abteilungsleiter, später stellvertretender Leiter der Bauverwaltung des Tschernigower Gebietsexekutivkomitees. Lebt seit 2002 in Ros- tock, hat zwei Kinder.
DER DREIZEHNJÄHRIGE DRECHSLER
Meine Kindheit verbrachte ich in Komarin, einem Ort in Pole- sien.[1] Das war ein kleines Schtetl am Dnjeprufer, von allen Seiten von Wäldern und Seen umgeben. Seit geraumer Zeit war der Ort von Juden bewohnt.
Unsere Verwandtschaft war groß. Das Familienoberhaupt war mein Großvater väterlicherseits, der zehn Kinder hatte. Wir wohn- ten in einem großen Holzhaus meines Großvaters, zusammen mit seinen zwei weiteren Söhnen samt Familien. An sowjetischen und einigen jüdischen Feiertagen traf sich die gesamte Verwandt- schaft in unserem großen Haus. An solchen Tagen saßen zwanzig bis dreißig Personen am Tisch. Wir, die zahlreichen Enkelkinder, liebten unseren Opa sehr und standen Schlange, um sein Zimmer nacheinander zu betreten. In seinem Zimmer stand ein großer Heizofen, den er auf Jiddisch „grube“ nannte. Es war ein wohli- ges Gefühl, im Winter neben dem Opa am Ofen zu stehen und sich zu wärmen. Einmal stand ich zu dicht am Ofen und meine Kleidung fing Feuer. Man riss mir die Kleidung vom Leib und die Flammen wurden schnell gelöscht.
An den Kriegsbeginn erinnere ich mich besonders gut. Wie immer im Sommer war ich mit anderen Kindern am See. Die einen waren baden, die anderen fischen, die dritten wiederum fuhren Boot. Plötzlich sahen wir Flugzeuge am Himmel. Für uns war das neu: vorher hatten wir nie welche gesehen. Mit Begeiste- rung und Freude sahen wir sie an. Plötzlich fielen Gegenstände aus den Flugzeugen, die im Wasser explodierten. Wir hatten keine Angst. Im Gegenteil, wir haben uns gefreut, denn die benommenen Fische schwammen nun an der Wasseroberfläche und wir konnten sie mühelos einsammeln. Die Flugzeuge zogen weiter, vermutlich, um Kiew zu bombardieren. Erst dann hörten wir die Leute im Ort rufen: „Es gibt Krieg!“ So begriffen wir, dass der Krieg begonnen hatte.
Mein Vater eilte sofort zur Musterungsbehörde, um sich freiwil- lig an die Front zu melden. Meine Mutter blieb alleine mit drei Kindern zurück. Ich war gerade elf Jahre alt geworden und war damit der Älteste, meine Schwester war acht und mein Bruder eineinhalb Jahre alt. Sehr bald stellte sich die Frage danach, ob wir flüchten sollen oder nicht. Meine Großmutter und fast ihre gesamte Verwandtschaft weigerten sich. Sie alle wurden wenig später von den Nazis ermordet.
Wir waren bereit fortzugehen, doch im Ort war kein Pferd mehr für uns übrig. Für uns wurden ein Wagen und zwei Ochsen bereitge- stellt. Damit kamen wir bis zur Brücke über den Dnjepr. Kaum dort angekommen, begann ein deutscher Luftangriff. Glücklicherweise wurde die Brücke nicht getroffen und wir konnten sie passieren. Nur wenig später wurde die Brücke durch die Rote Armee gesprengt, um den Vormarsch der Deutschen aufzuhalten.
Ich musste mich rund um die Uhr um die Ochsen kümmern. Tagsüber lenkte ich den Wagen, nachts passte ich auf die weiden- den Tiere auf. Die Ochsen waren sehr langsam und wir waren gezwungen, uns einen Ersatz zu suchen. Mit uns zusammen waren viele Menschen in östliche Richtung unterwegs. Sie hat- ten Vieh dabei, darunter Kühe, Schafe und Pferde. Wir kauften ein Pferd – es war groß und kräftig, allerdings nicht besonders wendig. Hinzu kam, dass es mich als Kutscher nicht ernst nahm. Einmal hörte das Pferd nicht mehr auf mich und ich verlor die Kontrolle über den Wagen. Das Pferd rannte los und wer weiß, was mit uns und unserem Wagen passiert wäre, hätten zwei Sol- daten das Pferd nicht angehalten und beruhigt.
Schließlich kamen wir in Stary Oskol in der Oblast Kursk an. Dort stiegen wir sofort in einen Güterzug, der uns nach Zentralasien brachte. Wir waren lange unterwegs. Auf der Strecke wurden wir immer wieder aus der Luft angegriffen. Immer wieder rannten wir hinaus aus dem Wagen, versteckten uns, stiegen nachdem alles vorbei war wieder ein und fuhren weiter. Wenn wir einen Halt an einem Bahnhof machten, lief meine Mutter zur Station, um Wasser und etwas zu essen zu besorgen.
Endlich waren wir am Bahnhof Jany-Kurgan[2] in Kasachstan ange- kommen. Wir wurden in eine Kolchose, die infolge der Zusam- menlegung zweier kleiner Dörfern entstanden war, beordert. Als ältestes männliches Mitglied unserer Familie war ich nun für ihre Versorgung zuständig. Ich suchte mir eine Arbeit. Sie bestand darin, Wassergräben für die Bewässerung der Felder auszuheben.
Mit meiner Arbeit verdiente ich gleich 36 Kilogramm Weizen! Gemahlen haben wir selbst, mithilfe zweier Handmühlen aus Stein. Die zerkleinerte Masse haben wir mit kochendem Wasser aufgegossen und den Brei gegessen. Andere Lebensmittel hatten wir nicht. Meine Mutter war gezwungen, unsere übrig gebliebenen Habseligkeiten zu verkaufen, um uns Kinder zu versorgen.
Mittlerweile hatte ich eine neue Möglichkeit gefunden, uns Essen zu besorgen. Ein alter kasachischer Mann, unser Nachbar, nahm mich mit „auf die Jagd“. Wir setzten uns auf seinen Esel und fuhren zu einem Ort, an dem sich früher ein Aul befunden[3] hatte. Die Einheimischen erzählten, dass dieser von der Kavalle- rie des Semjon Budjonny während des Bürgerkriegs vollständig zerstört worden war[4]. Dort gab es viele ausgetrocknete Brunnen. Immer wieder fielen Hasen hinein und konnten sich nicht wie- der befreien. Der alte Mann ließ mich mithilfe eines Seils in den Brunnen herunter. Er gab mir einen Stock, mit dem ich die Hasen erschlug und sie dann wieder nach oben beförderte. Unten am Brunnengrund war es sehr gefährlich: um mich herum zischten giftige Schlangen. Doch ich begab mich immer wieder „auf die Jagd“, denn ich wusste, dass wir etwas vom wertvollen Hasen- fleisch abbekommen würden.
Nichtsdestotrotz war das eine sehr hungrige Zeit. Deshalb zogen wir auf Einladung einer Schwester meiner Mutter Anfang 1943 nach Akmolinsk.[5] Dort kamen wir in einem Stall unter, wo zum
Heizen verwendeter trockener Mist gelagert wurde. Ich war dreizehn und wurde sofort als Drechsler in einem Rüstungs- betrieb eingestellt. Das war ein aus Melitopol evakuiertes Mäh- drescherwerk, das mittlerweile Artilleriegeschosse herstellte. Die Werkstätten waren aus Brettern zusammengebaut. Die ständig betriebenen Werkzeugmaschinen, glühendes Metall und Späne sorgten jedoch dafür, dass es bei jedem Wetter sehr heiß war. Wir arbeiteten jeden Tag zwölf Stunden, ohne Wochenenden und Fei- ertage, eingeteilt in Tages- und Nachtschichten.
Beim Erlernen des Drechslerhandwerks ist mir die folgende Geschichte wiederfahren. Der für meine Ausbildung zuständige Meister wollte heiraten. Dafür hätte er mindestens einen freien Tag gebraucht, doch er wusste, dass er dafür keine Genehmigung erhalten würde. So entschied er sich, zu betrügen und sprach sich mit mir ab. Er bat mich darum, eine Maschine in Betrieb zu nehmen, um ihm damit „ungewollt“ eine leichte Handverletzung zuzufügen. Er hatte sich davon eine Krankschreibung erhofft. Trotzdem wurde er nicht krankgeschrieben und deshalb auch nicht freigestellt. Andere Drechsler warfen mir Unachtsamkeit vor. Ich konnte ihnen natürlich nicht die Wahrheit sagen. Erst nach Kriegsende konnte mein Ausbilder endlich seine Hochzeit feiern.
Nach drei Monaten Ausbildung bestand ich erfolgreich meine Prüfung, die vom leitenden Ingenieur abgenommen wurde. Nun war ich richtiger Drechsler. Dadurch erhielt ich eine Lebensmittel- karte für Berufstätige, die mir allerdings nur Brot bescherte. Aber meine Familie erhielt noch weniger – meiner Mutter und meinen Geschwistern stand nur eine Ration für Unterhaltsberechtigte zu. Darüber hinaus hatte ich die Möglichkeit, in der Betriebskantine zu essen. Das Brot, das wir erhielten, wurde vorher im Alkohol eingeweicht, angeblich als Skorbut-Prophylaxe. Dieses Brot wirkte belebend auf uns, was insbesondere während der Nachtschichten half. Als Arbeiter standen mir darüber hinaus eineinhalb Liter reiner Alkohol im Monat zu. Meine Mutter tauschte den Alkohol ein: für eine Flasche erhielt man zwei Laibe Brot. Das war eine erhebliche Unterstützung für die gesamte Familie.
Im Betrieb erhielten wir keine Arbeitskleidung. Die Klamotten waren deshalb bald kaputt und abgenutzt. Meine Mutter nähte uns Kleidung aus Mänteln von gefallenen Soldaten. Daraus fer- tigte sie mir eine Stoffhose und eine Jacke an. Diese Klamotten stellten sowohl meine Arbeitskleidung als auch einen Anzug, den ich bei meinen ersten Dates getragen habe, dar.
Im Betrieb waren viele Jugendliche tätig, die das wehrpflichtige Alter noch nicht erreicht hatten. Wegen der schweren Lebens- und Arbeitsbedingungen waren viele bestrebt, schnellstmög- lich der Roten Armee beizutreten. Nach einer zwölfstündigen Nachtschicht rannten sie zur Musterungsbehörde. Einige hat- ten „Glück“, sie wurden eingezogen. Andere wurden von der Betriebsleitung geschnappt. Die Entscheidung über sie wurde von einer „Troika“ gefällt, an deren Spitze der Betriebsleiter stand. In der Regel gab es für sie nur ein Urteil: eine kurze Gefängnisstrafe. Das bedeutete, dass der „Verurteilte“ nach seiner gewöhnlichen Schicht nicht nach Hause ging, sondern ins Gefängnis. Um den Ausfall der „an die Front desertierten“ zu kompensieren, muss- ten wir, junge Arbeiter, nach unserem zwölfstündigen Arbeitstag weitere sechs Stunden ableisten.
…Nach der Befreiung Komarins war es mir nicht gelungen, mit unserer Familie in die Heimat zurückzukehren. Die Betriebslei- tung ließ mich nicht gehen, denn der Krieg ging weiter. Einige Zeit später, Anfang 1945, entschied ich mich, gemeinsam mit einem befreundeten Landsmann zu fliehen. Ohne Geld im Gepäck zu haben und genau zu wissen, wie wir fahren sollten, machten wir uns auf den Weg. Wir hüpften von einem Zug zum nächsten und hatten Kiew als Orientierung im Kopf. Endlich kamen wir in Komarin an. Ich ging in die Schule, um meine durch den Krieg unterbrochene Ausbildung fortzusetzen. Eines Tages betrat ein Mann in Zivil das Klassenzimmer und brachte mich ins örtliche Büro der Staatssicherheit. Dort wurde ich vor die Wahl gestellt: freiwillig nach Kasachstan in meinen Betrieb zurückzukeh- ren oder vor Gericht gemäß dem Kriegsrecht der Fahnenflucht angeklagt zu werden, mit anschließender Haftstrafe. Ich war zur damaligen Zeit fünfzehn Jahre alt. Das gleiche Angebot erhielt auch mein Freund. Er kehrte zurück, wurde jedoch wider Ver- sprechen sofort inhaftiert. Ich hingegen entschied mich, zu ent- kommen. Tagelang versteckte ich mich in Zügen, besuchte meine Verwandten in Kiew und Tschernigow und fuhr ziellos durch das Land. Nachts kehrte ich heimlich nach Hause zurück, um zu essen, zu schlafen und mich zu waschen. Meine Irrfahrt ging über mehrere Monate. Erst die von der Regierung verkündete Amnestie für Deserteure beendete meine Wanderschaft.
[1] Komarin ist ein Dorf in der Oblast Gomel, Weißrussische Sowjetrepublik, heute Republik Belarus. Anfang 1941 lebten in Komarin über 500 Juden. Der Ort wurde von der Wehrmacht am 28. August 1941 eingenommen. Alle 229 Juden, die es nicht geschafft hatten, den Ort zu verlassen, wurden bei zwei Aktionen im Herbst 1941 erschossen (Anm. der Redaktion).
[2]Jany-Kurgan, heute: Schanakurgan, ist eine Ortschaft im Süden Kasachstans mit etwa 22.000 Einwohnern (2009) (Anm. des Übersetzers).
[3]Als Aul wird bei den Turkvölkern, im Kaukasus sowie in Zentralasien ein Dorf oder eine Siedlung bezeichnet (Anm. des Übersetzers).
[4]Semjon Budjonny (1883-1973) war ein sowjetischer Marschall und mehrfacher Held der Sowjetunion. Im Russischen Bürgerkrieg unterstanden ihm größere Ka- vallerieverbände. Während dieser Zeit waren die Einheiten Budjonnys an Judenpo- gromen im ukrainisch-polnischen Grenzgebiet beteiligt (Anm. des Übersetzers).
[5]Akmolinsk ist der frühere Name von Astana, der heutigen Hauptstadt Kasachstans (Anm. des Übersetzers).