Erinnerungen
Evakuierung und Flucht

Leningrader Blockade

Tschesno Sacharija

Geboren 1928 in Berlin. Arbeitete vor seiner Auswanderung nach Israel im Jahr 1972 als Journalist in Vilnius. Lebt in Jerusalem, hat einen Sohn, Enkelkinder und sechs Urenkel.

WIR MUSSTEN ALLEINE DURCH DAS LEBEN GEHEN

Das Pionierlager, in welches ich wegen meiner guten Schulnoten fahren durfte, befand sich in der litauischen Kurstadt Druskininkai. Der Fluss Neman, der auch durch Vilnius floss, war in unmittelbarer Nähe. Es erschien es mir, als würde ich mein Zuhause gar nicht verlassen, weshalb mir der Abschied von meinen Eltern leicht fiel. Wie konnte ich damals wissen, dass ich mich für immer von ihnen verabschiedete und meine allerliebsten und allerwichtigsten Menschen nie wieder sehen würde?

Eine Woche später brach der Krieg herein. Das ruhige Druskininkai, durch den nahegelegenen Kiefernpark sauerstoffdurchflutet und reichhaltig nach Gräsern duftend, wurde durch den Fluglärm der zum Luftangriff ansetzenden Bomber mit schwarzen Kreuzen auf den Tragflächen erschüttert. Vor diesem Hintergrund drängte sich die Frage auf, wie man die Kinder aus dem Pionierlager retten sollte. Als Stasis Sviderskis, der Direktor des Pionierlagers, vom Kriegsausbruch erfuhr, verlor er weder den Überblick noch verfiel er in Panik. Nur ein Gedanke bohrte sich in seinen Kopf: Was müsste man unternehmen, um die Kinder zu evakuieren und sie unbeschadet ihren Eltern zu übergeben?

Genau darüber dachte er nach, als er auf dem Weg zur Eisenbahnbehörde war, um die Verantwortlichen davon zu überzeugen, einen Zug nach Vilnius bereitzustellen. Man sagte zu ihm: „Wohin willst du sie denn evakuieren? Willst du, dass dreihundert Kinder das gleiche Schicksal erleiden wie die fünfzigtausend, welche durch die Sowjets nach Sibirien deportiert wurden?“ – „Nein!“, antwortete Sviderskis.

Ich mit vier Jahren. Berlin, 1932.

„Ich trage die Verantwortung für diese Kinder. Ich will sie an ihre Eltern übergeben“, sagte er.

Der Bahnhofsvorsteher in Druskininkai sagte zu ihm: „Ich bin bereit zu helfen, aber der Lokführer weigert sich loszufahren. Du kannst versuchen, ihn zu überreden.“ Und Stasis wagte den Versuch. Er gab dem Zugführer den Schlüsselbund mit den Schlüsseln zum Lebensmittellager und anderen Lagerhallen und sagte zu ihm: „Wenn du die Kinder von hier wegbringst, darfst du dir alles nehmen, was du willst.“ Der Zugführer konnte der Versuchung nicht wiederstehen und erklärte sich bereit, loszufahren.

So schilderte Sviderskis selbst die Ereignisse von damals. Von seiner Gratwanderung an jenem schrecklichen Tag berichtete er mir persönlich in meiner Jerusalemer Wohnung. Er kam nach Jerusalem zu den Feierlichkeiten anlässlich des fünfzigjährigen Bestehens des Staates Israel, als Ehrengast in seiner Funktion als Gerechter unter den Völkern…

Der Zug fuhr nicht vom Bahnhof ab, sondern von einem vereinbarten Ort mitten auf der Zugstrecke. Ich erinnere mich, dass wir einen Wald passieren mussten, um an den Treffpunkt zu gelangen. Sviderskis war ein kräftiger Mann und trug ein kleines Mädchen auf seinem Arm. Mit uns zusammen stiegen Mitarbeiter des Pionierlagers und Erzieher in den Zug. Das Heulen des

Fliegeralarms unterbrach mehrmals die Fahrt. Die Kinder sprangen aus den Wagen, rannten auseinander und hielten sich im Gras versteckt. Die deutschen Fliegerhelden sahen ganz genau, dass sie auf Kinder schossen, doch das schreckte sie nicht ab.

Mit großer Mühe erreichten wir endlich Vilnius, die Hauptstadt des sowjetischen Litauens. Dann begann etwas Unbeschreibliches. Zahlreiche Evakuierungswillige stürmten den Zug. Hauptsächlich waren es Angehörige von Militärs und Parteikadern sowie natürlich Juden. Die Wagen waren bereits völlig überfüllt, doch der Menschenstrom ebbte nicht ab. Im nächsten Moment begann ein heftiger Luftangriff auf den Bahnhof in Vilnius und der Zugführer gab Vollgas, um den Zug vor dem Beschuss zu retten. Man kann sich gut vorstellen, wie groß der Schock für mich und andere Schüler in diesem Moment war!

Wir fuhren weiter, im Ungewissen darüber, wo der Zug uns hinbringen würde. Unsere Eltern hatten wir nicht zu Gesicht bekommen. Wir fragten uns die ganze Zeit, wo sie waren und ob sie überhaupt noch lebten. Stasis Sviderskis beruhigte uns so gut, wie er nur konnte. Er erzählte uns eine Notlüge, unsere Eltern seien informiert und würden in Moskau auf uns warten. Es war in diesem Moment zu unserem Besten.

…unsere „Straße des Lebens“ nahm also ihren Anfang in Druskininkai. Kaum jemand dachte damals darüber nach, wo die Endstation dieser Reise sein würde. Unsere Gedanken drehten sich um die Frage, wie wir die Strapazen der Fahrt am besten überstehen konnten. Ich persönlich dachte an gar nichts – ich war kurz zuvor krank geworden und lag mit hohem Fieber auf der oberen Liege, festgeschnallt, so dass ich nicht herunterfallen konnte. Den anderen erging es nicht besser. Sie saßen unten auf dem Boden, es war fürchterlich eng und stickig. Alle litten Hunger und Durst. Erst in Tula, nach mehreren Tagen Fahrt, sahen wir zum ersten Mal Menschen mit weißen Kitteln. Ich vermute, dass es Mitarbeiter des Roten Kreuzes waren. Sie brachten die erste Lebensmittelration für die Kinder mit. Diese bestand aus einer Flasche Milch und einem Brötchen. Unter ihnen war ein Arzt, der bei mir eine schwer verlaufende Masernerkrankung diagnostizierte. Irgendjemand legte mich auf eine Trage und brachte mich hinaus auf den Bahnsteig. Mir wurde gesagt, man werde mich ins Krankenhaus bringen, sobald ein Krankenwagen käme.

Doch es gibt einen jüdischen Gott und er hat mich gerettet. Völlig zufällig ging in diesem Moment unsere ehemalige Nachbarin am Bahnsteig an mir vorbei. Frau Judelewitsch, die früher bei uns im Haus gewohnt hatte, fuhr mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern Dawid und Iossif mit dem gleichen Zug. Sie hatte mich erkannt und erkundigte sich danach, was passiert war. Danach sagte sie in einem Befehlston zu mir: „Reiß’ dich zusammen und komm’ zurück in den Wagen. Der Zug wird nicht warten, bis du aus dem Krankenhaus entlassen wirst. Was soll nach deiner Entlassung dann aus dir werden? Du hast kein Geld und keine Papiere und die Sprache sprichst du auch nicht. Der Krieg ist im Gang und niemand wird sich um dich kümmern.“ Ich hörte auf sie und kehrte zurück in den Wagen. Das war ein wahres Wunder.

Es vergingen zehn ermüdend lange, hungrige Tage, die wir in Enge und unter hygienisch widrigen Bedingungen verbrachten. Dann erblickten wir plötzlich den Glanz des Wasserspiegels. Der Fluss war viel breiter als der Neman. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits auf dem Weg der Besserung und konnte wieder bewusst erleben, wo ich war und was gerade passierte. Neue, mir vorher unbekannte Namen begannen sich in meinem Gedächtnis aufzuschichten.

Meine Evakuierungszeit erstreckte sich letzten Endes insgesamt über dreieinhalb Jahre. Sie begann in der Stadt Sarapul, die am Fluss Kama in Udmurtien liegt. Bei der Ankunft wurde unser mobiles Pionierlager zunächst in einem verwaisten Ferienheim untergebracht. Wenig später wurden wir in das Dorf Scharkany gebracht. Man erklärte uns, Scharkany würde unser fester Wohnort werden. Dort bekamen wir alle Strapazen der Kriegszeit hautnah zu spüren. Es herrschte eine katastrophale Lebensmittelknappheit. Wegen eines akuten Vitaminmangels waren viele Kinder so geschwächt, dass sie an Furunkulose und Skorbut erkrankten. Hinzu kam eine Läuseplage. Außerdem machte es uns Angst, dass wir keine warme Kleidung hatten, obwohl der Winter vor der Tür stand.

Kaunas, Mitte der 1930er Jahre.

Doch dann eilten uns andere Flüchtlinge zu Hilfe. Die evakuierten Mitglieder der sowjetischen Regierung in Litauen setzten durch, dass die Kinder in das Dorf Debjossy umgesiedelt wurden (wobei die Kinder mehrheitlich ethnische Litauer waren, das darf man nicht vergessen). Debjossy lag am Fluss Tschepza, der ein Nebenfluss der Wjatka ist. Hier wurden für uns bessere Lebensbedingungen geschaffen, wieder infolge einer Intervention „von oben“. Von nun an erhielten wir großzügige Lebensmittelrationen, die den Normen eines Erholungsheims entsprachen. Früher hatten wir zweihundert Gramm Brot am Tag erhalten, die wir in drei Mahlzeiten aufteilten, wobei wir alle Krümel sorgfältig sammelten. In Debjossy standen uns hingegen plötzlich ganze sechshundert Gramm Brot zu. Darüber hinaus gab es etwas Pflanzenöl und Zucker. Nicht weniger wichtig war, dass unser Pionierlager, das nun in ein Waisenheim umgewandelt wurde, über einen Gemüsegarten verfügte, wodurch wir unsere Versorgung aufbessern konnten.

Auch was unsere Ausbildung anging, hatten wir Glück, denn beim Heim wurde eine litauische Mittelschule eröffnet. Sie war altersübergreifend, umfasste also alle Klassen der Sekundarschule. In tiefer Dankbarkeit erinnere ich mich an meine damaligen Lehrer. Jeder von ihnen war aufgrund einer eigenen persönlichen Geschichte in dieses udmurtische Dorf gekommen. Gemeinsam bildeten sie jedoch einen herausragenden Lehrkörper.

Im Sommer 1944 hörten wir durch unsere primitiven, an der Wand montierten Radioempfänger litauische Ortsnamen in den Nachrichtenmeldungen des Sowjetischen Informationsbüros. Die Frontlinie verschob sich in Richtung der sowjetischen Westgrenze der Vorkriegszeit. Wir erhielten weißes Papier und frankierte Briefumschläge. Man bat jedes Heimkind darum, einen Brief zu schreiben und ihn an seine alte Adresse in Litauen zu schicken. Einige Zeit später erhielten meine litauischen Klassenkameraden Antwortbriefe und kurze Zeit später Pakete mit Räucherwaren und anderen Leckereien. Man muss ihnen zugutehalten, dass sie nicht geizten, sondern das Essen bereitwillig mit allen teilten. Die Briefe jüdischer Kinder kamen allesamt zurück mit dem Vermerk „Adressat ausgeschieden“. Das glich einer Meldung über den Tod der Angehörigen. In dieser Zeit wurde mir die ganze Entsetzlichkeit der Tragödie, die meinem Volk wiederfahren ist, bewusst.

Doch ich habe nicht aufgegeben. Ich fragte nach einem weiteren Blatt Papier und schrieb einen Brief an Professor Matulevičius, einen in Kaunas bekannten Kinderarzt. Da mir seine Adresse natürlich nicht bekannt war, ließ ich mir eine kreative Methode einfallen, um dafür zu sorgen, dass der Brief ankam. Auf den Umschlag schrieb ich mit großen Buchstaben „An den besten Kinderarzt der Stadt Kaunas, Doktor Matulevičius“. Darunter ergänzte ich einen Vermerk: “Sehr geehrte Postmitarbeiter! Ich habe eine große Bitte an Sie – bitte finden Sie diesen Mann und übergeben Sie ihm diesen Brief.“ Und stellen Sie sich vor, es hat geklappt. Der Brief fand seinen Adressaten und ich erhielt eine Antwort. In seinem Brief fand der Arzt warme Worte und überzeugte mich, die Hoffnung nicht zu verlieren. Er schrieb, dass sich einige jüdische Patienten von ihm während der Besetzungszeit versteckt gehalten hatten und jetzt in die Stadt zurückkehrten. Momentan gebe es keine Informationen über den Tod meiner Angehörigen, man müsse also weiter hoffen, glauben und warten.

In der Zwischenzeit rückte unsere Heimkehr immer näher. Wir verließen Debjossy im Spätherbst 1944. Die dreißig Kilometer bis zur nächsten Station Kes legten wir auf dem Schlitten zurück. Insgesamt betrug unser Heimweg einen knappen Monat: der Krieg war noch im Gang und wir wurden ständig aufgehalten, da Militärund Lazarettzüge durchgelassen werden mussten.

Am Bahnsteig in Vilnius wurden wir, jüdische Kinder, im Gegensatz zu den litauischen, die mit Freudenrufen zu ihren Eltern stürmten, nur von einem Mann empfangen. Das war Ionas Šalkauskas, ehemaliger Schuldirektor in Debjossy und späterer stellvertretender Volkskommissar für Bildung in der Litauischen Sowjetrepublik. Direkt am Bahnhof organisierte er die Ausstellung unserer Personaldokumente, denn niemand von uns verfügte

 

Das Gebäude der litauischen Mittelschule im udmurtischen Dorf Debjossy.

über Papiere. Wir erhielten Lebensmittelkarten für einen Monat im Voraus, Wechselklamotten und Bargeld. Seine Abschiedsrede war kurz, aber sehr innig: „Meine Lieben“, sagte er.

„In diesem Leben seid ihr nun auf euch allein gestellt. Ihr könnt nur auf euch selbst und auf die Unterstützung gutherziger Menschen zählen. Helft euch gegenseitig und verliert nicht den Mut. Das Schlimmste habt ihr hinter euch. Denkt an die Zukunft und gestaltet sie eigenständig.“

Mein älterer Bruder Alexander. Er wurde am ersten Kriegstag von den litauischen Nationalisten ermordet.

Ich begann diese Worte umgehend in die Tat umzusetzen und stieg in den Zug nach Kaunas. Dort angekommen, ging ich direkt zu unserer alten Vorkriegswohnung. Dort waren unsere Nachbarn untergekommen, die früher in einem Kellerraum gehaust hatten. Sie setzten mich an einen gedeckten Tisch und erzählten mir über das Schicksal meiner Eltern, alles, woran sie sich erinnern konnten. Direkt nach-dem die Meldung über den Kriegsausbruch verkündet worden war, hatten sich meine Eltern telefonisch mit Druskininkai in Verbindung gesetzt. Als sie von der Evakuierung des Pionierlagers erfahren hatten, fassten sie den Entschluss zu flüchten. Zunächst fuhren sie nach Vilnius in der Hoffnung, dort mich oder meinen Bruder zu treffen. Doch als sie Vilnius erreichten, war die Stadt bereits in den Händen der Deutschen.

Mehr über das Schicksal meiner Eltern erfuhr ich einige Jahre später von den Menschen, die durch ein Wunder im Ghetto von Vilnius überlebt haben. Ja, es gab keinen Zweifel daran – meine Mutter Esther-Lea und mein Vater Mosche, Gott habe sie selig, wurden von den Nazis ermordet. Zusammen mit Tausenden von Juden wurden sie in Ponary[1] erschossen. Diesen Vorort von Vilnius hatten sich die Nazis für die Massenvernichtung unschuldiger Opfer ausgesucht.

Meine Eltern ließen ihr Leben in der Hoffnung, dass ich zusammen mit dem Pionierlager in die Tiefen Russlands evakuiert würde. Über das Schicksal meines Bruders wussten sie hingegen nichts. Dabei war es wahrlich tragisch. Im Jahr 1946 fand ich bei einer zufälligen Begegnung heraus, was ihm wiederfahren war. Ich war dabei, mich an der Physikalisch-mathematischen Fakultät der Universität Vilnius einzuschreiben. Als ich an die Fakultät kam, um meine Unterlagen einzureichen, stürmte ein Unbekannter auf mich zu. Er stellte sich vor und fragte mich nach meinem Nachnamen. „Tschesno“, sagte ich, von seinem Ansturm überwältigt. „Tschesno? Das kann nicht sein! Sie wurden doch ermordet, das habe ich mit meinen eigenen Augen gesehen!“ Ich dachte sofort an meinen Bruder – wir sahen uns sehr ähnlich. Wenige Minuten später klärte sich alles auf. Tatsächlich sprach der Mann von meinem leiblichen Bruder. Der Mann, der mich mit meinem Bruder verwechselt hatte, war der Pole Zaremba, der über viele Jahre in der Liegenschaftsabteilung der Universität tätig war.

Gleich am ersten Kriegstag ging mein Bruder ins Dekanat, um seine Unterlagen abzuholen. Möglicherweise glaubte er, dass die Papiere ihm eine kleine Überlebenschance verschaffen würden. Stattdessen geriet er sofort ins Visier der „Weißarmbändler“ – so wurden wegen ihrer weißen Armbinden mit drei Buchstaben darauf die Mitglieder der „Litauischen Aktivistenfront“ genannt. Noch am selben Tag haben diese Unmenschen mehrere Juden mit Schaufeln zu Tode gehackt. Darunter war auch mein Bruder…

 


[1]Zwischen 1941 und 1944 wurden in Ponary etwa 100.000 Menschen von der deutschen Besatzungsmacht und deren litauischen Kollaborateuren ermordet. Darunter waren vor allem Juden, aber auch Russen, Polen und Litauer (Anm. des Übersetzers).