Schatalow Arkadij
Geboren im Jahr 1932. Wurde im Sommer 1942 aus Woronesh nach Beresniki im Ural evakuiert. Hat einen Universitätsabschluss in Chemie. Lebt nach seiner Auswanderung nach Israel im Jahr 1997 in Afula, hat eine Tochter und eine Enkeltochter.
DIE EVAKUIERUNG, SO WIE SIE WAR
Über siebzig Jahre sind seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vergangen. Es war der brutalste und blutigste Krieg, den die Menschheitsgeschichte kennt. Dieser Krieg nahm dutzenden Millionen Menschen das Leben – sie starben auf dem Schlachtfeld, wurden gefangen genommen und sind verschollen. Millionen von friedlichen Zivilisten waren gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, um der militärischen Besetzung zu entkommen.
Man schrieb Juni 1942. Fast ein Jahr war seit Beginn des Krieges vergangen. Wir lebten in Woronesh. Und obwohl seit über einem Jahr erbittert gekämpft wurde, war die Stadt weitgehend von den Luftangriffen verschont geblieben.
Wir lebten im Stadtzentrum, in der Straße des 11. Mai, die heute Teatralnaja heißt. Gegenüber von unserem Haus befand sich eine Musterungsbehörde, dahinter der so genannte Pioniergarten. Dieser Park war der Lieblingsort aller Kinder, denn dort organisierte man regelmäßig Aktivitäten für sie. Man konnte sich dort ein Fahrrad, Dreirad, Kettcar, eine Puppe, ein Schachoder Damespiel ausleihen. Kurz gesagt, die Kinder fanden dort immer eine Beschäftigung.
Für Samstag, den 13. Juni 1942, war im Pioniergarten eine groß angelegte Veranstaltung geplant – die feierliche Aufnahme der Erstklässler in die Pionierorganisation. Aus diesem Anlass sollte ein Konzert stattfinden, bei dem Schülergruppen verschiedener Schulen auftreten sollten, ebenso wie die beliebten Schauspieler aus dem Zirkus und dem Puppentheater. Das Wetter kam wie bestellt: es war ein schöner Sommertag. Die Kinder trugen weiße Hemden und dunkle Hosen und waren hübsch anzusehen. Alle erfreuten sich der Feier, nichts ließ etwas Schlimmes erahnen. Es war es ein wunderschöner Anblick.
Plötzlich ertönte inmitten der Feierfreude ein heulender, anschwellender Lärm. Niemand wusste, was das für ein Geräusch war und woher es kam. Wenig später ertönte eine Explosion von einer unvorstellbaren Kraft. Aus irgendeinem Grund hatte die Flakartillerie einen deutschen Bomber passieren lassen. Das Flugzeug warf drei schwere Bomben mitten in die Ansammlung von Kindern ab. Nach den Explosionen kehrte für einen Moment eine schaurige Stille ein. Sie wurde abgelöst von grauenvollen Schreien, die die weinenden Kinder und Erwachsenen von sich gaben. Aus reinem Zufall war ich an diesem Tag nicht in den Pioniergarten gebracht worden. Meine Mutter war mit etwas beschäftigt und meine Oma fühlte sich nicht gut. Zur Zeit der Tragödie spielte ich mit den Nachbarskindern im großen Treppenhaus, dessen Weitläufigkeit im Einklang mit unserem großen, fünfstöckigen Haus stand. Solche Häuser wurden bei uns als Stalinbauten bezeichnet.
Durch die Stoßwelle wurden bei uns im Haus nicht nur das Fensterglas, sondern auch die Fensterrahmen zerstört. Wir wohnten im fünften Stock und konnten gut erkennen, dass sich im Pioniergarten gerade etwas Schreckliches abspielte. Meine Freunde und ich rannten zum Garten, um zu sehen, was passiert war. Es war ein furchtbares Bild, das sich uns da bot. Auf den Bäumen hingen kleine Kinderarme, Hände und Innereien. Viele Bäume waren rot vor Blut. Pausenlos war das das Weinen und Stöhnen der Kinder zu hören. Infolge dieses Bombenangriffs starben an diesem Tag mehr als dreihundert Kinder. Am Ort der Tragödie wurde ein Gedenkstein aufgestellt. Jedes Jahr wird am 13. Juni der Kinder gedacht, die beim Bombardement des Pioniergartens ums Leben gekommen sind.
Nach dieser Tragödie bekam der Krieg für die Einwohner Woroneshs eine neue Bedeutung. Nachdem sie den Tod hautnah erlebt und gesehen hatten, reagierten sie anders auf verschiedene Zivilschutzsignale. Nach dem Ertönen eines Fliegeralarms verwaiste die Stadt blitzartig, alle begaben sich in die Luftschutzbunker oder versteckten sich anderswo. Alle Kinder sind von einem Tag auf den anderen erwachsen geworden. Seit diesem Tag hörte man sie auf der Straße nur selten lachen. Dafür ertönten die Explosionsgeräusche deutlicher denn je in Stadtnähe, wo erbittert gekämpft wurde. Nichtsdestotrotz wollte man nicht glauben, dass die Stadt den Deutschen überlassen werden würde. Das hielt die Einwohner bis zuletzt davon ab, die Stadt zu verlassen.
In Woronesh wurde es immer gefährlicher, die Luftangriffe häuften sich zusehends. Zum heftigsten Bombenangriff kam es am 25. Juni 1942. An diesem Tag wurde Woronesh gleichzeitig von über hundert Flugzeugen bombardiert, die insgesamt etwa tausend Bomben abwarfen. Die gesamte Stadt stand im Flammen. Fast alle Gebäude im Stadtzentrum wurden zerstört.
Am 5. Juli 1942 begaben sich viele Stadtbewohner nach dem Feierabend zum Wehrersatzamt, um sich danach zu erkundigen, ob es notwendig war, die Stadt zu verlassen. Zu diesem Zeitpunkt hörte man die Explosionen sehr nah und die Artilleriegeschosse erreichten die Randbezirke der Stadt. Man erhielt die folgende Antwort: „Machen Sie sich keine Sorgen und verfallen Sie nicht in Panik. Die Stadt werden wir nicht aufgeben.“ Beruhigt machten sich die Menschen auf den Weg nach Hause. Am nächsten Morgen sah man, dass die Behörde von allen Mitarbeitern verlassen worden war: alle Türen und Fenster waren offen, der Wind zog durch das Gebäude und die Unterlagen flogen durch die Räume. Das Gefühl der Hoffnungslosigkeit ergriff die Menschen. Alle begriffen, dass man schnellstmöglich die Stadt verlassen sollte. Die Deutschen waren schon ganz in der Nähe.
Wie allen anderen auch, blieb uns nichts anderes übrig, als die Stadt zu Fuß zu verlassen. Was konnten meine Mutter und ich überhaupt mitnehmen? Ich war damals zehn Jahre alt. Wir nahmen nur das mit, was wir tragen konnten: Papiere, die allernotwendigsten Kleidungsstücke und das wenige Geld, das wir hatten. Mit diesem Gepäck verließen wir die Stadt und begaben uns auf die Reise ins Ungewisse.
Der erste Ort, auf den wir Kurs nahmen, hieß Anna und befand sich hundert Kilometer von Woronesh entfernt. Ich weiß nicht mehr genau, wie lange wir für diese Strecke brauchten – entweder vier oder fünf Tage. Dafür erinnere ich mich, dass wir mal im Wald, mal auf einem Feld übernachteten. Zum Glück waren die Nächte mild. Die Flüchtlingskolonne war unendlich lang – man sah weder wo sie begann noch wo sie endete. Wir marschierten in der prallen Sonne, alle waren am Verdursten, denn es gab kein Wasser. Wir empfanden es als großes Glück, dass auf unserem Weg ein Sumpf lag. So konnten wir wenigstens kurzzeitig den Durst löschen. Es schien, als würde unsere Odyssee kein Ende finden. Wir waren müde und hungrig, doch unsere angeschwollenen Beine trugen uns nach vorne. Wir wollten dem Feind entkommen und so marschierten beziehungsweise trotteten wir immer weiter.
Der gesamte Menschenstrom gab ein furchterregendes Bild ab. Eine riesige Menschenmenge bewegte sich schweigend fort – niemand hatte Kraft zu sprechen. Die Nazis waren uns auf der Spur. Im Tiefflug flogen deutsche Bomber über uns und beschossen schutzlose Flüchtlinge mit Maschinengewehren. Von Feuerstößen getroffen, starben die Menschen an Ort und Stelle. Der erste Überfall hatte die Flüchtlinge überrascht – niemand wusste, wie man sich retten sollte. Bei weiteren Angriffen rannten die Menschen, als sie den Motorenlärm hörten, sofort zum Straßengraben, warfen sich auf die Erde und versteckten sich in den Weizen- oder Roggenfeldern. Oft half das nichts: der Tod fand sie auch dort.
Endlich kamen wir in Anna an. Als nächstes mussten wir Borisoglebsk erreichen, denn dort gab es einen Eisenbahnknoten, von dem Züge in verschiedene Richtungen abfuhren. Die Strecke bis Borissoglebsk betrug ebenfalls etwa hundert Kilometer, doch für einen weiteren Fußmarsch reichten unsere Kräfte nicht aus. Die einzige Hoffnung bestand darin, einen Anhalter zu finden, der einen mitnehmen würde. Meine Mutter hatte mit einem LKW-Fahrer ausgehandelt, dass er mich – und zwar nur mich – für einen bestimmten Preis bis Borissoglebsk mitnehmen würde. Meine Mutter sagte mir, dass sie bald nach Borissoglebsk kommen würde und dass ich auf sie am Eingang des Hauptpostamtes warten sollte. Außerdem gab sie mir einen Tintenstift und ein Blatt weißes Papier mit, damit ich ihr bei Bedarf einen Zettel schreiben und diesen mit dem dort vorhandenen Kleber an die Tür des Postamtes ankleben konnte.
Ich – ein zehnjähriger Junge – durfte also in der Abenddämmerung in den Laderaum eines mit Zuckersäcken beladenen LKW steigen. Ich hatte furchtbare Angst, mir schien, als würde ich meine Mutter für immer verlieren. Mitten in der Nacht kamen wir in Borissoglebsk an. Der Fahrer half mir, aus dem Laderaum zu steigen und zeigte mir, wo sich das Hauptpostamt befand. Dort hielten sich Hunderte von Menschen auf, die alle jemanden suchten und zu finden hofften. Das gesamte Postamtsgebäude war mit Zetteln gleichen Inhalts vollgeklebt. Jeder Suchende schrieb, wen er suchte, wie er selbst hieß und wo man sich aufhalten werde. Ich stand am Eingang und traute mich nicht einmal, kurz meinen Posten zu verlassen – zu groß war die Angst, meine Mutter zu verpassen. Doch sie kam und kam nicht. Plötzlich hörte ich eine vertraute Stimme, die nach mir rief. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um meine Mutter in der Menge zu finden, doch sie war nirgendwo zu sehen. Ich hatte mich verhört.
Je länger ich auf sie wartete, desto weniger hatte ich die Hoffnung, sie zu finden. Mir war angst und bange, ich stand da und weinte, doch niemand beachtete mich. Und plötzlich traute ich meinen Augen nicht – da stand sie vor mir, meine Mutter. Ich rannte zu ihr, umarmte sie fest und wir beide fingen an zu weinen. Ich hatte nur eine Bitte: sie sollte mich bloß nicht wieder alleine lassen.
Nun stand uns eine Weiterreise von Borissoglebsk in den Ural bevor. Am Bahnhof herrschte ein Riesenchaos. Zahlreiche Militärzüge mit Truppen an Bord und Lazarettzüge stauten sich dort. Für die Flüchtlinge sollten Güterwagen zur Verfügung gestellt werden, doch niemand wusste, wann und von welchem Gleis sie abfahren würden. Auf der Suche nach unserem Zug rannten wir von einem Gleis zum nächsten. Endlich sahen wir einen Zug, an den mehrere Güterwagen angekuppelt waren. Ohne lange zu überlegen, stiegen wir ein. Es war uns mittlerweile beinahe egal, wo wir hingebracht würden, wir wollten nur noch losfahren, denn auch Borissoglebsk wurde mittlerweile bombardiert.
In die Wagen quetschten sich so viele Menschen hinein, dass man sich nicht bewegen konnte. Gott sei Dank fuhr der Zug bald los. Allmählich richteten sich alle Menschen im Wagen ein. Es gab Schlafbänke, die den Wagen zweiteilten. Wenn der Zug hielt, rannten die Menschen heraus, um ihre Notdurft zu verrichten. Doch der Zug hielt selten und einige hielten es nicht aus. Deshalb herrschte ein bestialischer Gestank im Wagen.
Einen Monat später erreichten wir den Ural und kamen in der Stadt Beresnjaki an. Alle Flüchtlinge wurden in den Häusern der Einheimischen untergebracht. Wir wurden bei einer Frau einquartiert, die keine Kinder hatte und deren Mann an der Front war. Von nun an lebten wir zusammen wie eine große Familie.
Meiner Mutter wurde eine Arbeit in einer Streichholzfabrik angeboten. Sie durfte ihre Arbeit mit nach Hause nehmen. Dadurch war es mir möglich, meiner Mutter nach der Schule bei der Herstellung von Streichhölzern zu helfen. Als die Fabrikleitung erfuhr, dass ich meine Mutter bei der Arbeit unterstützte, wurde ich ebenfalls eingestellt und erhielt einen kleinen Lohn. Später erfuhr ich, dass die Fabrik viele Kinder beschäftigte. Sie arbeiteten ebenso von zu Hause aus. Auch fand ich heraus, dass die von mir hergestellten Streichhölzer an die Front gelangten. Das machte mich stolz.
Die größten Sorgen bereiteten uns der Hunger und die Kälte. Im Winter sank die Temperatur auf unter minus 35 Grad. Morgens, wenn man aus dem Fenster schaute, sah man oft erfrorene Menschenkörper. Sie trugen gesteppte Kittel mit einem gestreiften Muster. Angeblich waren es Usbeken. Noch bis heute habe ich dieses Bild vor Augen.
In der Schule bekamen wir täglich eine Mahlzeit. Immer wieder versuchte ich, einen Teil meiner Portion für meine Mutter übrig zu lassen. Immerzu brachte ich das Schulessen mit nach Hause und meine Mutter schimpfte deswegen mit mir.
Einmal machte in der Schule ein Gerücht die Runde, dass am Kopfgleis des Bahnhofs drei Güterwagen mit Presskuchen standen. Alle Kinder rannten sofort hin, um etwas davon zu naschen. Die Wagen wurden von einem Soldaten mit einem Maschinengewehr bewacht. Während er an der einen Wagenseite entlang marschierte, kletterten wir von der anderen Seite unentdeckt auf die Wagen. Mit etwas Glück schafften wir es, etwas vom Presskuchen zu ergattern. Diesen Vorgang wiederholten wir mehrere Male. Letzten Endes verlor der Soldat die Nerven, erhob sich auf die Knie, legte das Gewehr an und schoss. Alle rannten vor Schreck auseinander. Nur ein Junge blieb im Schnee liegen. Die Kugel hatte ihn am Bein getroffen und seine Kniescheibe zertrümmert. Viele Monate später traf ich diesen Jungen wieder, er ging auf Krücken. Sein Bein war oberhalb des Knies amputiert. Um nicht zu verhungern, mussten die Menschen damals mitunter einen teuren Preis zahlen…