Erinnerungen
Evakuierung und Flucht

Leningrader Blockade

Bord Simon

Geboren im Jahr 1931 in Lepel, Weißrussland. Lebte bis zu seiner Auswanderung nach Israel im Jahr 1991 in Witebsk, wo er als Elektroingenieur arbeitete. Lebt in Haifa, hat zwei Kinder und zwei Enkelkinder.

DAS SEHNSÜCHTIGE WARTEN AUF DEN SIEG

Ich wurde in Lepel in der Oblast Witebsk geboren. Zu Kriegsbeginn war ich knapp zehn Jahre alt. Mein Vater arbeitete als Schuster in einem Genossenschaftsbetrieb, meine Mutter war Hausfrau. Wir waren in der Familie fünf Kinder, drei Jungs und zwei Mädchen. Ich hatte gerade einen Ferienscheck für einen Aufenthalt in einem Pionierlager erhalten, als der Krieg ausbrach. Zwei Tage später wurden Witebsk und Orscha bombardiert, beide Orte waren wichtige Eisenbahnknoten. Auch Lepel wurde von Luftangriffen nicht verschont. Unsere Eltern schickten uns Kinder nach Kameno, in ein Dorf zwischen Witebsk und Lepel. Dort lebten die Eltern des Cousins meines Vaters. Dort blieben wir für drei oder vier Tage. Am 28. Juni wurde Lepel vollständig zerstört und mein Vater schloss sich uns an, sein Betrieb stellte ihm ein Pferd zur Verfügung. In Kameno gab es nicht viele Juden, dennoch war das Verhältnis zwischen Weißrussen und Juden gut. Es wurde meinem Vater sogar angeboten, uns alle bei einer Familie in einem anderen Dorf zu verstecken.

Also bereiteten wir uns auf die Flucht vor: unsere siebenköpfige Familie sowie die ebenfalls aus sieben Personen bestehende Familie des Cousins meines Vaters – er, seine Frau, seine Eltern und drei Kinder. Wir legten unsere Taschen auf einen Pferdewagen und fuhren los. Kaum hatten wir den Ort verlassen, merkten wir, dass das Pferd es nicht schaffte uns, mit all unseren Sachen einen Berg hinauf zu ziehen. Dabei sollten eigentlich auch die Kinder und die Alten auf dem Wagen mitfahren. Wir mussten umkehren. Der Cousin meines Vaters sagte: „Wir bleiben, Ende der Diskussion.“ Darauf erwiderte mein Vater entschieden:

„Nein, wir werden fortgehen.“ Dann fuhr unsere Familie los in Richtung Witebsk. Die meiste Zeit lenkte ich den Wagen. Hauptsächlich waren wir nachts unterwegs, tagsüber versteckten wir uns im Wald. Ich erinnere mich, wie ich einmal beim Lenken eingeschlafen war. Ich fiel auf den Boden und lag zwischen dem Wagen und dem Pferd. Zum Glück war unser Pferd gescheit: es blieb sofort stehen und hat mich gerettet.

Eine ganze Woche lang waren wir unterwegs. Mit großer Mühe kamen wir an einer Ortschaft vierzig Kilometer von Witebsk entfernt an. Dort wurden wir von einem Auto eingesammelt und in die Stadt gebracht. Aus Witebsk fuhren wir mit dem Zug weiter nach Smolensk. Als wir schon in der Nähe von Smolensk waren, wurde ein Fliegeralarm ausgelöst. Alle stürmten aus dem Wagen und versteckten sich in einem kleinen Wald in der Nähe. Plötzlich kamen Bomber angeflogen und setzten zum Luftangriff an. Ich war ein Kind und deshalb sehr neugierig: ich wollte alles mit meinen eigenen Augen sehen. Ich sprang auf und sah, wie die Bomben fielen. Ich rief begeistert: „Schaut, da sind Bomben!“ Ein Mann packte mich am Bein und zog mich wieder zu Boden, ich fiel hin. Im nächsten Moment explodierte neben uns eine Bombe. Der Mann verlor sein Bein.

Kriegsdienst bei der Marine, Anfang der 1950er Jahre

Wenige Monate nach der Hochzeit mit Irina Lewikowa

Unser Zug wurde vollständig zerstört. Wir bildeten Gruppen und machten uns zu Fuß auf den Weg nach Smolensk. In Smolensk angekommen, fasste mein Vater die Entscheidung, nach Stalingrad zu fahren, denn dort lebte sein Bruder. Wir erwischten einen der Züge, die in diese Richtung fuhren. Unterwegs gaben uns Soldaten ab und an etwas zu essen. Ich weiß noch, wie ich vor einer Gruppe Soldaten stand und mich nicht traute, nach Essen zu fragen, obwohl ich sehr hungrig war. Die Soldaten hatten mich ohne Worte verstanden und gaben mir einen Feldkessel mit Brei. Ich rannte schnell zu meiner Familie und teilte das Essen mit allen.

In der Kolchose verrichteten wir Feldarbeit. Wie in jeder Kolchose gab es in Stalindorf keine Privatwirtschaft. Es gab keine landwirtschaftlichen Flächen in individueller Nutzung und die Menschen besaßen auch keine Nutztiere – alles gehörte der Kolchose. Meist erhielten alle Kolchosebewohner im Herbst Brot, Getreide, Melonen, Tomaten, Kartoffeln und andere Lebensmittel. Einige beschwerten sich, dass sie keinen Platz hatten, um die ganzen Lebensmittel zu lagern. Das muss man sich vorstellen – während des Krieges haben Menschen keine Lebensmittel haben wollen! Dementsprechend mussten wir dort nicht hungern.

Doch bald kam die Wehrmacht immer näher an Stalingrad heran. Mein Vater wurde zu einem Arbeitseinsatz mobilisiert und sollte in einem Rüstungsbetrieb tätig sein. Uns durfte er als seine Familienmitglieder mitnehmen.

Wieder stiegen wir in einen Güterzug und fuhren los in Richtung Saratow. Die Hälfte unseres Wagens war mit Fabrikkisten beladen. Bei einem Halt begann ein Luftangriff. Mein Vater hatte Angst, den Wagen zu verlassen, für den er verantwortlich war, obwohl im Moment des Bombenangriffs niemand einen Gedanken an die Fracht verschwendete. Wir rannten zu einem Luftschutzbunker und versteckten uns dort. Überraschenderweise wurde der Wagen nicht von einer einzigen Bombe getroffen. Wenig später kam ein ranghoher Militär in den Bunker und fragte, warum sich die Kinder an diesem Ort aufhielten. Daraufhin veranlasste er, dass wir nachts, nach dem Ende des Luftangriffs, zur Wolgaüberfahrt gebracht wurden.

Abends, als es dunkel wurde, kam ein Soldat und brachte alle Zivilisten zum Hafen. In den Stadtteilen an der Wolga standen die Gebäude in Flammen. Die Anwohner hatten sie in Brand gesetzt, damit die Deutschen dachten, alles wäre bereits zerstört und auf weitere Angriffe verzichteten. Wir kletterten die Steilküste herunter, wenig später kam eine Fähre. Während der Überfahrt wurden wir aus der Luft angegriffen, die Bomben fielen neben unserem Schiff ins Wasser. Als die Fähre bereits in Ufernähe war, fingen die Leute an, in die Wolga zu springen, um schneller an Land zu kommen und sich im Wald zu verstecken.

Auch wir kamen an einem Waldstück an und marschierten bis zur Station Elton, wo früher Wolgadeutsche gelebt hatten. Es war eine grausige und quälende Erfahrung, durch den Wald zu marschieren: es war dunkel und der Luftangriff ging ununterbrochen weiter. Wir waren länger als eine Woche zu Fuß unterwegs. In Elton war es etwas ruhiger, der Ort war immerhin dreihundert Kilometer von Stalingrad entfernt. Dort wurden wir in einen Güterzug gesetzt und nach Saratow gebracht. In Saratow befanden sich Verteilungsstellen für Evakuierte, wo entschieden wurde, in welche Richtung Flüchtlinge zur Weiterfahrt geschickt wurden. Mein Vater wurde einer Nähfabrik in Nowosibirsk zugeordnet. Bis zur Abfahrt lebten wir direkt an der Station, wo wir Grießbrei mit Pflanzenöl zu essen bekamen. Ich erinnere mich heute noch mit Grauen an diesen Geruch und kann seitdem Grießbrei nicht ausstehen. Wenig später wurden wir in beheizte Güterwagen gesetzt und fuhren los in Richtung Nowosibirsk.

Man muss sagen, dass die Bevölkerung in Sibirien, wohin viele Entkulakisierte deportiert worden waren, die Juden meist gut behandelte. Andere hingegen konnten sich überhaupt nicht vorstellen, was ein Jude überhaupt war. Mein kleiner Bruder hieß Abram. Eines Tages sagte meine Mutter: „Ah, Abram, hier kennt man dich schon!“ Später stellte sich heraus, dass die Einheimischen alle Juden als Abram bezeichneten. Es gab aber auch Zwischenfälle. Wir hatten kein Wasser und waren darauf angewiesen, es von einer weit entfernten Wasserzapfsäule zu holen. Im Winter luden wir Kanister auf Schlitten und kamen mit Wasser zurück. Eines Tages kippte ein Junge meinen Schlitten mit einem vollen Wasserkanister um und das ganze Wasser lief aus. Bei der Zapfsäule gab es immer eine lange Schlange, man musste lange warten, und das im Winter bei Temperaturen bis minus 45. Der Junge war groß gewachsen und stämmiger als ich, doch meine Wut siegte und ich verdrosch ihn. Später wurde er mein bester Freund.

Wie sehnsüchtig wir darauf warteten, dass der Krieg endlich vorbei war! Und dann – ich war in der siebten Klasse – ging ich eines Morgens in die Schule. Das Wetter war sonnig. Noch wussten wir von nichts: der Zeitunterschied zwischen Nowosibirsk und Moskau ist groß. Und plötzlich sah ich fröhliche Menschen, alle standen in Gruppen, unterhielten sich, lachten und weinten. Ich traf einen Kumpel, er fragte mich: „Wo gehst du denn hin? Der Krieg ist vorbei! Wir haben gesiegt!“ Das war eine doppelte Freude: der Krieg war vorbei und zudem musste man an diesem Tag nicht in die Schule.

Wir kehrten 1947 nach Lepel zurück. Unser Haus war nicht mehr existent. In Lepel waren mein Großvater väterlicherseits, seine Tochter und zwei Söhne samt Familien geblieben. Sie sind alle im Ghetto gestorben. Alle Angehörigen meines Vaters waren tot, zwanzig Personen. Viele Juden sind nach dem Krieg nach Lepel zurückgekehrt. Für einige Zeit herrschte dort wieder ein reges jüdisches Leben. Vor dem Krieg war das eine schöne Kleinstadt, dort gab es eine Synagoge, die mein Vater und ich an Festtagen besuchten. Sie war schön und befand sich in einem stattlichen Haus. Es gab auch eine jüdische Schule. Bei Babys und Kleinkindern wurde dort die Beschneidung durchgeführt, im gleichen Gebäude wurde Bar-Mitzwa gefeiert. Matzen wurden zu Hause in russischen Öfen gebacken. Während des Krieges hatten sich einige Bewohner Lepels der Hilfspolizei angeschlossen. Sie trieben die Familie meines jüdischen Bekannten – seine Ehefrau und seine Tochter – ins Ghetto. In der Zeit kämpfte ihr Vater an der Front. Die Nazis töteten die Mutter und das Mädchen wurde von einer russischen Frau gerettet, die sie während des gesamten Krieges bei sich versteckte. Als sie erwachsen war, heiratete sie einen entfernten Verwandten von mir.

Einige Zeit später starb mein Vater und ich ging nach Witebsk. Kurz zuvor hatte ich meine Ausbildung an einer Fachschule für Eisenbahnwesen abgeschlossen. Anschließend studierte ich am Moskauer Eisenbahninstitut. Nach Lepel kehrte ich nur zurück, um die Gräber meiner Eltern zu besuchen.