Erinnerungen
Evakuierung und Flucht

Leningrader Blockade

Talejsnik Semjon

Geboren 1929 in Winnyzja. Verbrachte die Kriegsjahre nach der Evakuierung in Kasachstan. Nach der Promotion arbeitete er in Donezk als Neurochirurg. Wanderte 1994 nach Israel aus. Lebt in Lod Ganei Aviv.

EINE BROTZUWAAGE, DIE GLÜCKLICH MACHTE

…uns erreichte die Nachricht, dass der Krieg begonnen hatte und die Deutschen Kiew bombardierten. Ich erinnere mich noch ganz genau daran, wie die Kinder, die auf der Straße ständig Krieg spielten, kurz ihre imaginären Pferde anhielten und plötzlich still wurden. Doch einen Augenblick später riefen sie erfreut „Hurra, Krieg!“ und setzten das Spiel fort. Eine dicke ältere Jüdin, unsere Nachbarin aus der Kellergeschosswohnung in der Kotowskistraße im Stadtzentrum von Winnyzja, schrie sie derb an: Sie seien alle „meschugge“ – verrückt – denn sie hätten keine Ahnung, was sie tun und was sie sagen…

Mein Vater entsandte meine Mutter und mich, zusammen mit den Familien seiner Kollegen aus der Kanzlei, in einem eilig umgebauten Brotwagen weit weg vom Krieg, in Richtung Dnipropetrowsk und Donbas. Dort lebten unsere Verwandten. Auf den Straßen, die wir passierten, herrschte bereits Anarchie. In Städten und auf dem Dorf plünderten betrunkene und nüchterne Männer und Frauen Kaufhäuser, Geschäfte und Dorfläden, um sich mit allem einzudecken, was man ergattern konnte und womit man seinen nicht allzu reichen Haushalt um etwas Kram erweitern konnte. Andere freuten sich offen über den baldigen Einmarsch der Deutschen. In Tscherkassy floh unser Fahrer und wir mussten eine andere Möglichkeit suchen, um nach Dnipropetrowsk zu gelangen. Wir stiegen auf ein Frachtschiff, wo wir im Laderaum umgehend von einer Horde Wanzen angegriffen wurden. Auch das Frachtschiff wurde irgendwann von seiner Mannschaft verlassen, die in eine unbekannte Richtung floh. Das stellten wir am Abend fest, als sich das Schiff unter der Eisenbahnbrücke auf dem Dnjepr befand. Die Brücke wurde während der Nacht in regelmäßigen Zeitabständen bombardiert, doch wir hatten Glück und konnten am frühen Morgen unbeschadet in die Stadt entkommen.

Den sich zurückziehenden Einheiten der Roten Armee vorauseilend, erreichten wir mit großer Mühe Mariupol. Unsere Verwandten dort, wie auch viele andere vor Ort, hatten es aus irgendeinem Grund nicht eilig und ließen sich Zeit mit der Flucht aus der Stadt. Doch wir zogen umgehend weiter nach Stalino, heutiges Donezk, wo ebenfalls Verwandte von uns wohnten. Die Fabrik, in der sie arbeiteten, sollte samt Mitarbeitern in den Ural evakuiert werden.

Wir konnten uns unseren Verwandten allerdings nicht anschließen, denn evakuiert wurden nur die Angestellten der Fabrik. Stattdessen setzten meine Mutter und ich uns an der Station Jasnowataja in einen der Züge, die praktisch ohne Fahrplan fuhren. In einem beheizten Viehwagen kamen wir irgendwann in Westkasachstan an. Dort, in Uralsk, verbrachten wir die Kriegsjahre.

Seit Beginn unserer Flucht wussten wir nichts über meinen Vater. Erst als wir in Kasachstan angekommen waren und uns dort einigermaßen eingerichtet hatten, schafften wir es, über die Musterungsbehörde in Uralsk Kontakt zu ihm aufzunehmen. Wir freuten uns sehr, als wir erfuhren, dass er lebte. Das war ein seltener Augenblick des Glücks. Ansonsten hatten die strapaziöse Flucht und das entbehrungsvolle Leben während des Krieges bei uns jegliche Neigung zur Heiterkeit vertrieben.

Die Brotration für Unterhaltsberechtigte belief sich während des Krieges auf vierhundert Gramm. Das war nicht ausreichend für ein sattes Leben, denn Brot war Hauptnahrungsmittel und es gab kaum etwas anderes zu essen. Zu meinen täglichen Verpflichtungen gehörte es, Brot aus dem Geschäft zu besorgen, wofür ich stundenlang in einer Schlange stehen musste. Das Brot wurde einmal am Tag verkauft, es gab nur eine Sorte und einen Preis und es wurde genauestens abgewogen. Selbstverständlich gab es damals keine elektronischen Waagen und das Gewicht variierte je nachdem, wie schnell abgewogen wurde, wie viel Druck man auf die Waage ausübte, in welchem Zustand die Waage war und wie schnell die Kunden gerade bedient werden sollten. Und natürlich spielten auch die Laune und der Anstand der Verkäuferin eine wichtige Rolle. Es gab eine Standardwaage, die aus zwei Waagschalen aus Metall und einem Satz Gewichten bestand. Im Gegensatz zu unserem technologisch fortgeschrittenen Zeitalter gab es damals keine Kontrollmöglichkeiten. Mithilfe einer Zuwaage konnte der Verkäufer seine Arbeit korrigieren, denn es gelingt einem nicht immer, genau vierhundert Gramm Brot abzuwiegen. Dieses kleine Stück Brot sagte viel über die Gründlichkeit und Genauigkeit des Verkäufers aus. Ich lernte, am Gesichtsausdruck des Verkäufers zu sehen, ob er seine Arbeit ehrlich verrichtete oder seine Kunden betrog. Wenn ich ersteres sah, wurde die Brotzugabe für mich umso begehrenswerter.

Es gab eine ungeschriebene Regel: es war gestattet, die Brotzuwaage auf dem Weg nach Hause zu verspeisen. Wobei diese Erlaubnis weniger von meiner Mutter, sondern vielmehr von mir selbst erteilt worden war. Ich entschied selbst, welches Extrastück ich komplett essen konnte und von welchem nur die Hälfte oder ein Viertel. Wie köstlich das war! Auch wenn das Brot nicht von bester Qualität war – es war ein unbeschreiblicher Genuss, von diesem Stück abzubeißen und es zu kauen, wobei sich in meinem ausgehungerten Mund Unmengen an Speichel bildeten! Solche Momente verbesserten die Laune und waren der Ersatz für menschliche Freuden in dieser schwierigen Zeit.

Gott segne dich, du kleines Brotstück! Man kennt dich mittlerweile nur noch aus Erzählungen und schmerzhaften Erinnerungen über die Hungerjahre und die unruhige Kriegszeit. Der Krieg ist längst vorbei, doch seitdem esse ich jedes Stück Brot auf. Kein einziges Mal in meinem langen Leben habe ich einen Kanten weggeworfen. So sehr erinnerten sie mich an diese begehrten und schmackhaften Brotstücke, die nie ausreichten, um den Hunger zu stillen…