Erinnerungen
Evakuierung und Flucht

Leningrader Blockade

Torpusman Lina

Geboren 1937 in Moskau. Wurde während des Krieges in die Oblast Tschkalow, heutige Oblast Orenburg, evakuiert. Lebt seit ihrer Auswanderung nach Israel im Jahr 1988 in Jerusalem, hat zwei Kinder und drei Enkelkinder.

EPISODEN

Im Juni 1941 feierte ich meinen vierten Geburtstag. An die Ereignisse der darauf folgenden vier Kriegsjahre kann ich mich ziemlich gut erinnern. Diese Zeit verbrachten wir infolge unserer Evakuierung aus Moskau in Tschkalow (heutiges Orenburg) sowie in einem umliegenden Dorf.

Mein Vater Meer Isaakowitsch Schenkerow (1901-1973) hatte als Freiwilliger im Bürgerkrieg gekämpft und ein schweres SchädelHirn-Trauma erlitten. Aus diesem Grund wurde er zunächst für kriegsuntauglich erklärt. Im Jahr 1941 wurde er dennoch zum Eisenbahnbaubataillon eingezogen und kaserniert. In der Folge lebten meine Mutter Chaja Zaljewna Schenkerowa (geb. Narodnizkaja, 1906-1994) und ich während der härtesten zwei Kriegsjahre zu zweit.

…im Frühherbst 1941 war der Krieg in vollem Gange. Eines finsteren Abends standen meine Mutter und ich am Bahnhofsvorplatz einer Stadt im Ural. Eine Gruppe von Rekruten stieg in einen Güterzug. Diebe versuchten, die unübersichtliche Situation am Bahnsteig auszunutzen. In diesem Chaos schubste mich einer von ihnen ins Gleisbett. Plötzlich lag ich unter einem Wagen. Auf der einen Seite sah ich im trüben Licht riesige Füße, auf der anderen Seite nichts als die blanke Finsternis. Ich rückte so nah an die vorbeiziehenden Füße, wie es nur ging, traute mich aber nicht hoch aus Angst, von den Riesenfüßen zertrampelt zu werden. Stattdessen rief ich pausenlos nach meiner Mutter. Erstaunlicherweise hörte sie trotz der Geräuschkulisse am Bahnhof und des von den Soldaten erzeugten Lärms meine Schreie. Sie drängte sich durch die schimpfende Soldatenmenge und holte mich heraus. In der Zwischenzeit stahlen Diebe alle unsere Sachen. Wir standen vor dem Nichts.

Im strengen Winter 1942 kamen wir in die Oblast Tschkalow. Der seit dem Bürgerkrieg einarmige Kolchosvorsitzende Simonow meinte es gut mit uns, den benachteiligten Flüchtlingen. Er quartierte uns in einem großen Landhaus mit gefärbten Dielen ein. Es war das prächtigste Haus im ganzen Dorf. Trotzdem war das die denkbar schlechteste Idee. Die Hausherrin Maslowa, die entkulakisiert und aus der Ukraine deportiert worden war, hasste sowohl die Sowjetmacht als auch die Juden abgrundtief.

Für einen Tag Arbeit in der bitteren Winterkälte erhielt meine Mutter dreihundert Gramm Mehl, aus dem wir unsere einzige Speise zubereiteten – den Mehlbrei. Die Hausherrin ließ uns den Kochtopf nicht auf den Ofen stellen: „Geh‘ doch in den Wald und hol‘ mir Feuerholz!“, schrie Maslowa, deren Schuppen bis zum Dach mit Feuerholz aufgestapelt war. „Bin ich die Sonne, um alle verdammten Flüchtlinge warm zu halten?“ Die Wärme war das Einzige, was sie uns nicht hätte wegnehmen können und diese Tatsache machte sie wütend.

Mein Zufluchtsort war unser Bett, das am Fenster stand. Als die Wölfe nachts heulten und ich Angst hatte, sie würden durch das Fenster steigen, klammerte ich mich an meine Mutter. Und wenn unsere Nachbarn „speisten“, verkroch ich mich unter der Decke, um den berauschenden Gerüchen von Borschtsch und Kartoffeln mit angebratenem Speck zu entkommen. Einmal, als ich mit Frau

Maslowa alleine zu Hause war, versteckte ich mich mal wieder vor ihren bösen Augen unter der Decke. Offensichtlich hatte sie vergessen, dass ich im Haus war. Dabei konnte ich sie durch einen Schlitz sehen. Sie kniete vor einer Ikone nieder und betete eifrig. Plötzlich sagte sie leidenschaftlich, mit einer dumpfen, tiefen Stimme: „Hitler, mein Lieber, komm’ hierher!“ Abends, als ich neben meiner Mutter im Bett lag, erzählte ich ihr flüsternd von dem, was ich gesehen hatte und stellte nun die Frage, die mich den ganzen Tag lang gequält hatte: „Mama, warum lädt Tante Maslowa den bösen Hitler zu sich nach Hause ein?“

Unsere Hausherrin wütete immer weiter, sie wurde immer bösartiger und besessener, so dass wir keine andere Wahl hatten, als uns beim Kolchosvorsitzenden zu beschweren. Simonow platzte ins Haus, als würde er ein feindliches Lager betreten. Mit einer großen Geschicktheit schnürte er mit seiner einzigen Hand einige von Maslowas Sachen zusammen und warf sie aus der Tür mit den Worten: „Du verdammtes Miststück, zur Hölle mit dir! Verzieh’ dich von hier! Die beiden werden ab sofort hier leben.“ Maslowa fiel auf die Knie: „Oh Gott, Simonow, ich werd’ es nie wieder tun! Was hab’ ich denn verbrochen? Gut, lass sie hier wohnen.“ Simonow beschimpfte sie weiter aus tiefster Seele und um sie zusätzlich einzuschüchtern, bevor er das Haus verließ. Wir dachten, unsere Lage würde sich verbessern, doch wurden eines Besseren belehrt: man sollte dem Feind nie trauen.

Wir lebten in der Bauernsiedlung Lossewka. Täglich musste meine Mutter drei Kilometer zu ihrem Arbeitsplatz in der Nachbarssiedlung Wolnyj viermal zurücklegen. Während der Mittagspause kehrte sie nach Hause zurück, um nach mir zu schauen und mir ein paar Löffel Brei zu essen zu geben. Eines Tages, etwa zwei Wochen nach der Schimpftirade von Simonow, traf meine Mutter Maslowa auf ihrem Weg nach Hause. Auf ihrem Schlitten lag unser klägliches, mit Heu gefülltes Bett, das der Kolchose gehörte. „Geht doch zum Vorsitzenden und wohnt bei ihm zu Hause!“, pöbelte Maslowa meine Mutter an. „Wo ist Lina?“, fragte meine Mutter. „Dahinten!“, antwortete sie und zeigte mit der Peitsche hinter sich. Doch ich war nirgends zu sehen, weder im Schlitten noch in der Nähe. Von Grauen erfüllt schaute sich meine Mutter um. Ziemlich weit vom Schlitten entfernt sah sie im schneebedeckten, schimmernden Flachland zwei kleine Stiele – das waren meine Beine. Der Schnee war alt und fest. Als ich schlafend in die Schneeverwehung geworfen wurde, war ich deshalb nicht komplett von der Schneemasse verschlungen worden und meine Füße blieben an der Oberfläche.

…ich stand auf einem festen, für die Schlitten freigeräumten Weg und meine Mutter schüttete den Schnee aus meinem Mäntelchen aus. Sie sagte etwas, doch ich konnte nichts verstehen, denn mein Gehörsinn war erst eine Weile später wiederhergestellt. „Ich töte dich! Ich töte dich, du Mistvieh!“, schrie meine Mutter. Meine kleine, zierliche Mutter schrie Maslowa an, und sie, eine stämmige Frau mit rotem Gesicht und einem dicken Pelz saß seelenruhig und schweigend auf dem Schlitten. Die sonst so vulgäre und laute Frau war geradezu zahm und unterwürfig. Meine Mutter drehte das Pferd um und befahl der Hausherrin: „Fahr’ nach Hause!“ Schweigend kehrte Maslowa zu ihrem Haus zurück.

Maslowa war sicher nicht aus Reue so schweigsam. Als wir wieder zu Hause waren, gab sie mir nicht einen Krümel Brot. Weil ich lange im Schnee geschlafen hatte, hungrig und unterkühlt war, erlitt ich einen Schwächeanfall. Ich war halbbewusstlos und lag mit geschlossenen Augen und offenem Mund da. Meine Mutter rannte zur Nachbarin. Stotternd und völlig durcheinander erzählte meine Mutter ihr, was Maslowa mir angetan hatte und bat sie um etwas Brot für mich. Die alte Frau wandte sich einer Ikone zu, bekreuzigte sich, betete zu Gott und bat ihn um Gnade für ihre zwei Söhne, die im Krieg waren – Gott sollte ihnen genauso helfen, wie sie gerade den Hungrigen half. Mit zittrigen Händen, aus Angst, von ihrer geizigen Tochter beim Brotweggeben erwischt zu werden, gab sie meiner Mutter ein volles Säckchen Trockenbrot aus Roggen. Das erste Stück weichte meine Mutter im Wasser auf und gab es mir. Vom zweiten Stück konnte ich schon selbst abbeißen. Beim dritten Stück richtete ich mich auf, setzte mich hin und nagte schon fast fröhlich daran. Dieses Trockenbrot rettete mich damals. Das macht alles nichts, wir werden Maslowa zum Trotz alles durchstehen, sagten wir uns damals.

Verzweifelt ums Überleben kämpfend, insbesondere aber um das Leben ihrer Tochter, ging meine Mutter ein enormes Risiko ein. Ein Eimer Sonnenblumenkerne war der Lohn für neun von ihr für die Kolchose gedroschene Eimer. Diese Arbeit verrichtete sie hüfttief im Schnee stehend. Natürlich hatte Maslowa es uns verboten, die Sonnenblumenkerne auf dem Ofen zu rösten, deshalb aßen wir sie roh. Später kam meine Mutter auf die Idee, die Kerne auf dem Markt zu verkaufen. Sie schloss sich frühmorgens, noch vor dem Sonnenaufgang, einer Versorgungskolonne an, die das Getreide zum Speicher brachte. Als der Markt öffnete, stand meine Mutter schon auf ihrem Platz. Von den Verkäuferinnen ausgeschimpft, angepöbelt und sich ständig rechtfertigend und entschuldigend, verkaufte sie zügig ihre Ware unter dem Marktwert. Von dem Erlös kaufte sie einen Laib Brot, etwas Butter und Zucker, und machte sich schnellen Schrittes wieder auf den Weg, um rechtzeitig vor dem Einbruch der Dunkelheit zu Hause zu sein.

Um zum Markt zu gelangen, legte meine Mutter dreißig Kilometer durch die winterliche Steppe von Orenburg zurück, jene Steppe, wo es jeden Moment zu einem blendenden Schneesturm kommen konnte, den selbst die stämmigsten Männer nicht immer überlebten. Die Dorfbewohner schauten meine Mutter an wie eine Wahnsinnige. „Geh’ nicht hin! Entweder wird dich ein Schneesturm erwischen oder du wirst von einem Wolf gefressen“, sagten die Dorffrauen zu ihr. Zunächst hielt meine Mutter die Geschichten über die Wölfe für eine Legende, denn anfangs tauchten sie nicht auf. Sie hörte auf niemanden und arbeitete wie eine Besessene, um sich schnell den heißersehnten Eimer Sonnenblumenkerne zu verdienen, den sie dann in Brot und Butter für mich ummünzen konnte. Vom Schneesturm wurde sie glücklicherweise nie erwischt, doch einmal verfolgte sie ein Wolf in einem unberührten Schneeneuland. Zum Glück passierte das in Dorfnähe. Meine Mutter begann zu rennen, doch irgendwann war sie am Ende ihrer Kräfte. Sie fiel hin, und rollte bergab zum Dorf. Ein alter Pferdewirt wurde auf ihre Schreie aufmerksam und kam ihr mit einer Forke entgegen. „Hast du ein Glück, Mädel“, staunte er. „Schau, da ist der Wolf wieder in Richtung Wald abgebogen.“

Nach diesem Vorfall musste meine Mutter ihre Ausflüge in die Stadt einstellen. Dadurch gab es nichts mehr zu essen für mich. Dann fing meine Mutter an, Maslowa insgeheim etwas vom Brot zu nehmen – das passierte insgesamt etwa fünfmal. Von einem angefangenen Laib schnitt sie ein kleines Stück ab, gab es mir und sagte in einem seltsamen, triumphierenden Ton: „Hier, iss das!“ Wie ein kleines Tier sich mit seiner Beute in einer Höhle in Sicherheit bringt, so versteckte auch ich mich unter der Decke, ohne dass meine Mutter mir etwas sagen musste. Das Brot war wahnsinnig lecker und schmeckte süßlich. Doch noch süßer war die Rache dafür, dass Maslowa mich beinahe umgebracht hatte. Sie verdiente es nicht anders, für alles, was sie uns angetan hatte. Es stellte sich heraus, dass Maslowa Einschnitte auf dem Laib gemacht hatte – sie bemerkte es also. „Brooot, man klaut von mir Brooot!“, heulte sie einmal wie eine Wölfin auf. Ich sah meine Mutter an – ihr Gesichtsausdruck strahlte Ruhe aus und ich versuchte es ihr gleichzutun.

„Pfeif’ auf Maslowa, dieses Monster, zieht bei mir ein“, sagte Polina von der Nachbarsbauernsiedlung Wolnyj eines Tages zu meiner Mutter. In ihrem verarmten Haus mit einem Boden aus Erde blühte ich wieder auf. Dort lebten wir mit einer Horde Kinder zusammen. Die elfjährige Walja und der siebenjährige Kolja stellten Fallen für Ziesel auf. Meine Mutter zuckte zusammen: „Das sind Ratten!“ – „Das sind keine Ratten, das sind Ziesel“, wurde sie von Polina streng korrigiert. „Du musst das nicht essen, wenn du nicht willst, aber schreck das Mädchen nicht ab“, sagte sie und gab mir ein Stückchen von dem angebratenen Fleisch.

Abends zog sich Polina den Ausgehmantel meiner Mutter an und ging feiern und „ein paar Takte tanzen“. Es gab praktisch keine Männer mehr im Dorf, außer der Alten und Verwundeten. Ein einziger hinkender Harmonikaspieler musizierte für die Frauen.

Polina überredete meine Mutter dazu, immer etwas Getreide von der Kolchose „mitgehen zu lassen“. „Ich darf das nicht machen, wenn man mich erwischt, gehe ich in den Knast. Du bist ’ne Evakuierte, dir wird nichts passieren. Schau’, so haben wir dann meine Milch und dein Getreide. Anders werden wir nicht überleben können.“ Also hatten sie beim Ausgehmantel meiner Mutter Innentaschen angenäht. Von Polina abgeschirmt und in tausend Ängsten schwebend füllte meine Mutter ihre Taschen mit Weizen. Abends versammelten sich um den Gusseisentopf mit Milchbrei sieben Personen – zwei Frauen und fünf Kinder. Alle Fenster und Türen waren abgeschlossen und niemand wusste Bescheid über dieses geheime und unwahrscheinlich köstliche Festmahl.

Zum Sommerbeginn wurde das Leben etwas erträglicher. Wir zogen in die Stadt, wo meine Mutter in einer Ziegelsteinfabrik eine Arbeit annahm. Wenig später bot ihr eine zufällige Bekannte, eine russische Frau, die als Kantinenchefin in der Ziegelsteinfabrik arbeitete, einen Job in der Kantine an. Einen ganzen Monat lang waren wir mit Brei versorgt und manchmal gab es sogar Fleisch. Danach war das glückliche Leben allerdings wieder vorbei. Zu der Kantine wurden in der Mittagszeit an der Arbeitsfront tätige ältere Kirgisen und Kasachen gefahren. Sie trugen spärliche graue Bärte, sprachen kein Russisch, waren erschöpft und verlaust. Sie riefen „Mama! Mama!“ zu meiner jungen Mutter und streckten ihr die leeren Metallschalen entgegen. Sie wusste, dass diese Ausgeberin ihnen als einzige so lange etwas zu essen geben würde, bis die Kessel leer waren.

„Was fällt dir ein?“, wurde meine Mutter eines Tages von den Kantinenfrauen eingekreist. „Warum gibst du den Schlitzaugen mehr, als denen zusteht?“ Diese dicken, großgewachsenen Frauen schleppten kanisterund eimerweise das übriggebliebene Essen nach Hause, um damit ihre eigenen Schweine zu füttern. Es wurde ein Ultimatum ausgesprochen: entweder kriegen die „Schlitzaugen“ nur eine Kelle, oder der Kessel mit der kochend heißen Suppe landet rein zufällig auf dem Kopf der „Evakuierten“.

Daraufhin war meine Mutter gezwungen, wieder in die Werkhalle zurückzukehren. Sie musste nachts Ziegelsteine auf Güterwagen verladen und fror sich dabei ihre Hände ab. Ihre Finger wurden schlagartig gelb, die Ärzte schlussfolgerten, es sei eine Gangrän und wollten die Finger bereits amputieren. Doch meine Mutter kämpfte sich durch, ebenso wie sie später Malaria mit einem extrem hohen Fieber und andere Unglücke überstand.

Als ich sechs Jahre alt wurde, begann meine Mutter mit meiner jüdischen Erziehung. Wir saßen bei Sonnenuntergang am Fenster, in einem Raum in der Ziegelsteinfabrik. „Es war einmal vor langer Zeit, weit weg, in Palästina, da hatten die Juden einen eigenen Staat“, begann meine Mutter im singenden Tonfall zu erzählen, als wäre es ein Märchen. Ich glaubte ihr jedes Wort. „Wir hatten Gärten, Felder und Häuser und genügend Fisch im Meer. Dann wurden wir von den Römern angegriffen. Wir kämpften tapfer, doch sie waren viel mehr als wir. Sie besiegten uns, nahmen uns gefangen und verkauften uns in die Sklaverei. Seitdem sind wir schon seit zweitausend Jahren auf der Welt zerstreut und haben kein eigenes Land. Aber wir sind auf keinen Fall schlechter als alle anderen.“ Durch diese erste Begegnung mit der jüdischen Geschichte habe ich mir für immer gemerkt, dass wir – also auch ich – nicht schlechter sind als jemand anderes. Dieser Maxime entsprechend habe ich mich immer verhalten.

Zur gleichen Zeit begann meine Mutter, mir Lieder auf Jiddisch zu singen, mir Sprichwörter zu erläutern und mich mit der Geschichte des jüdischen Volkes und meiner Familie vertraut zu machen. Sie erzählte mir von der Beilis-Affäre und ihren Kindheitserinnerungen, die damit verbunden waren[1]. „Wissen Sie, was in Kiew los ist, Ruchl?“, sagte Wäscherin Marussja im Jahr 1913 zu meiner Oma. „Di ganze stut zidt ot azoi o!“[2] Und sie rüttelte kämpferisch mit geballten Fäusten. „Und wenn sich herausstellen sollte, dass ihr unser Blut saugt, was dann wohl passieren wird, Ruchl!“ – „Shem zich,[3] Marussja“, unterbrach sie meine Oma.

„Du bist doch oft bei uns in einem jüdischen Haus, du siehst wie ich koche. Was schwafelst du für einen Unfug über das Blut?“

Über die Pogrome, die jüdische Selbstverteidigung während der Pogrome in Odessa und die Ermordung von Symon Petljura[4] erfuhr ich bereits als Kind von meiner Mutter. Von ihr hörte ich auch einen antisemitischen Vierzeiler, der früher bei den Ukrainern in Schytomyr verbreitet war:

Juden, Juden, Judenbengel,

Wo seid ihr zu Haus’?

Denkt nicht, ihr werdet verschont,

Wenn Petljura hierher kommt!

Es war der dritte Sommer seit Beginn des Krieges. Ich war sechs Jahre alt und auf meinem Weg vom Kindergarten nach Hause. Meine Mutter und ich wohnten am Stadtrand von Tschkalow in einem zu etwa einem Viertel bewohnten Haus, das der Ziegelsteinfabrik gehörte. Die Straße war ziemlich menschenleer, kaum jemand begegnete mir auf meinem Heimweg. Ich war auf der Hut. Wenn mir eine Frau mit Kind entgegenkam, hatte ich nichts zu befürchten. Wenn ich einen Mann sah, war ich sofort angespannt. Bei uns im Kindergarten sprach man die ganze Zeit darüber, dass Kinder entführt, getötet und zu Fleisch für gefüllte Teigtaschen und Buletten verarbeitet würden.

An diesem denkwürdigen Tag legte ich beinahe den gesamten Nachhauseweg problemlos zurück. Fast hatte ich die Straße erreicht, hinter der unser Ziegelsteinhaus stand. Ich konnte es schon sehen, doch ich entschied mich, meine Mutter, die hin ter der Fabrik auf der dazugehörigen Gemüseplantage arbeitete, zu besuchen. Plötzlich hörte ich einen seltsamen Lärm, der sich hinter mir näherte. Ich versteckte mich im hohen Gras des Straßengrabens. Die Geräuschkulisse wurde lauter, ich hörte Hufgeklapper und Menschenschreie. Auf der Straße traten zwei oder drei Pferdewagen in Erscheinung. Mit den Wagen waren Roma unterwegs. Auch über sie hatte man viele unschöne Sachen gehört und ich atmete erleichtert auf, als ich sah, dass sie vorbeigefahren waren. Ich bin also heil davongekommen, dachte ich mir. Ich war schlau genug abzuwarten und mich nicht aus meinem Versteck zu begeben, bevor sie außer Sichtweite waren. Als sie sich hundert oder hundertfünfzig Meter von mir entfernt hatten, sprang ich aus meinem Versteck und rannte davon. Plötzlich machten die Kinder der Roma einen Riesenlärm. Ich hatte dunkle, lockige Haare und sah ihnen ähnlich. Sie schauten aus ihrem Wagen, zeigten bei einem der Erwachsenen auf mich und schrien lauthals. Eine Romafrau stürmte auf mich zu. Ich versuchte, ihr davon zu laufen, durchquerte das menschenleere Fabrikgelände und rannte weiter. Die Plantage, auf der meine Mutter arbeitete, war ganz nah, am Fuße des Hügels. Die Frau hatte mich fast eingeholt, war aber schon außer Atem. Am Abhang angekommen, sah ich weiße Tücher auf den Köpfen der dort arbeitenden Frauen. Ich schrie so laut wie ich konnte: „Mama!“ und hüpfte den Abhang herunter.

„Schneller, schneller, ich muss zu meiner Mutter und zu diesen Tanten, deren Gesichter in der Abendsonne rosarot erleuchtet werden“, dachte ich mir.

„Was willst du?!“, riefen die Frauen und ich verstand, dass sich ihre Frage an die Romafrau richtete. „Mein Kind!“, antwortete sie und zeigte mit dem Finger auf mich. Wie dreist sie gelogen hat! Sie wusste, dass dort meine Mutter stand und alle ihre Kolleginnen wussten, dass ich ihre Tochter bin. Ein Lärm brach los, alle Frauen drohten ihr an, hochzukommen und ihr den Hals umzudrehen. „Verschwinde, solange dir nichts passiert ist!“, brüllten sie zu ihr. Sie schimpften, und die Romafrau stand da, ihre Arme in die Seite gestemmt. Sie schaute die Frauen mit Verachtung an.

Jung, mit dunkelblonden Haaren, sah sie im Gesicht nicht aus wie eine Roma, man sah es ihr nur an der Kleidung an. Sie deutete an, dass sie sowohl diese in der Erde wuselnden Menschen als auch ihre Drohungen verachtete. Sie war nicht in Gefahr: die Frauen würden lange brauchen, um den Hügel hochzuklettern. In der Zeit würde sie gemütlich verschwinden, was sie im nächsten Moment auch tat. Vor den Augen aller entfernte sie sich mit einem herablassenden Blick aus der Konfliktzone…

 


[1]Im Jahr 1911 wurde der Kiewer Jude Menachem Mendel Beilis verdächtigt, einen Ritualmord begangen zu haben. Er wurde beschuldigt, einen christlichen Jungen getötet zu haben, um anschließend sein Blut für rituelle Zwecke zu nutzen. Die auf der Ritualmordlegende basierenden Beschuldigungen wurden von den rechtsextremen Kräften und der Presse aufgegriffen und befeuerten antisemitische Stimmungen innerhalb der russischen Gesellschaft. Der Fall sorgte europaweit für Aufsehen. Trotz Mangels an Beweisen begann im Jahr 1913 ein Strafprozess, in dem Beilis schlussendlich von den Geschworenen freigesprochen wurde. Er fürchtete um sein Leben und emigrierte zunächst ins heutige Israel und später in die USA (Anm. der Redaktion).

[2]Die ganze Stadt ist nur am Brodeln (jidd.).

[3]Schäm dich (jidd.).

[4]Symon Petljura (1879-1926) war ein ukrainischer Politiker, Journalist und Publizist. Während des Russischen Bürgerkrieges kämpfte er gegen die Bolschewiki und wurde Anfang 1919 de facto Präsident der Ukrainischen Volksrepublik. Obwohl Petljura selbst kein Antisemit war, sind seine Einheiten für Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung verantwortlich. In den Jahren 1918 und 1919 sind etwa 35.000-50.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder bei den Pogromen ermordet worden. Nach der Niederlage gegen die Bolschewiki floh Petljura zuerst nach Polen und später nach Westeuropa. 1926 wurde er in Paris vom Anarchisten Scholom Schwartzbard, einem Juden aus Odessa, der seine Eltern sowie 13 weitere Angehörige während der Pogrome verloren hatte, ermordet. In einem Prozess wurde Schwartzbard freigesprochen. Petljura wird nach dem Zerfall der Sowjetunion in Teilen der Ukraine als nationale Kultfigur und Märtyrer gewürdigt (Anm. der Redaktion).