Goldstein Bella
Die Pädagogin und Journalistin lebt seit ihrer Auswanderung im Jahr 1995 in Jerusalem, wo sie als Vorsitzende des Vereins Junger Journalisten tätig ist. Hat eine Tochter und einen Enkelsohn.
DIE ÄLTEREN UND DIE KINDER STARBEN ZUERST
Als ich geboren wurde, sah ich kein Licht. Ich sah die Dunkel- heit. Ich kam im Jahr 1942 in einem Kellerraum zur Welt. Es war mitten im Krieg. Meine Eltern waren kurz zuvor aus Odessa nach Naltschik[1] evakuiert worden. Einen Tag vor meiner Geburt sagte die Vermieterin unserer Wohnung zu meinen Eltern: „Die Deutschen werden bald einmarschieren. Wenn sie erfahren, dass ihr, Juden, bei mir wohnt, komme ich in Schwierigkeiten. Es wäre besser, wenn ihr jetzt gehen würdet.“
Meinen Eltern blieb nichts anderes übrig, als ihre Habseligkeiten in den Keller des alten, halbverfallenen Hauses gegenüber zu schaf- fen. Anschließend brachten sie auch unseren alten, schwachen und an den Rollstuhl gefesselten Opa Natan in den Kellerraum. Genau dort kam ich am darauffolgenden Tag zur Welt. Als unsere Ver- mieterin meinen grellen Schrei hörte, kam sie zu meinen Eltern und sagte, ohne die in solchen Fällen angebrachten Gratulationen auszusprechen: „Gebt mir das Mädchen! Wie wollt ihr sie nennen? Bella? Gut. Gebt sie mir, auf der Stelle. Hier ist es dreckig, feucht, es gibt weder Wasser noch Licht. Ihr werdet eh sterben. Ich werde sie von nun an großziehen. Nur wird sie nicht Bella heißen, und sie wird auch meinen Nachnamen tragen – Lyssenko.“
Die Lage war zum Verzweifeln. Was tun? Im Keller zu bleiben würde bedeuten, den Deutschen in die Arme und damit ins Ver- derben zu laufen. Aber auch die Flucht mit einem neugeborenen Baby und einem alten Mann im Rollstuhl verhießen nichts Gutes. Meine Eltern waren kurz davor zu bleiben. Doch dann stürmte Minna Wolf, die jüngere Schwester meines Vaters, in den Raum hinein. Sie war die Retterin in der Not: oben vor dem Haus war- tete ein mit einem schwächlichen Pferd bespannter Wagen auf uns. „Schnell auf den Wagen und los, zum Bahnhof! Die letzten Züge verlassen die Stadt! Wer bleibt, wird sterben!“, komman- dierte sie und entriss meiner Mutter das friedlich schlafende Baby aus den Händen. Die Eltern samt dem Rollstuhl, in dem mein Opa saß, rannten hinterher.
Am Bahnhof fand vor dem Zug ein Todeskampf statt. In der Hoffnung, bis zu einem rettenden Wagen durchzukommen, lie- ßen die Menschen keine Mittel unversucht – zum Einsatz kamen Fäuste, Ellenbogen, Knie und üble Kraftausdrücke. Viele Jahre später erinnerte sich mein Vater mit Verbitterung an diesen Tag: „Die Menschen wurden wie Tiere in Viehwagen verladen, doch selbst dort gab es keinen Platz für unsere Familie.“ Als der Zug losfuhr, saßen wir an der Kante eines offenen Wagens, auf dem Betriebsausrüstung transportiert wurde. Wir hielten uns gegen- seitig fest, denn jeden Moment riskierte man, vom Wagen zu fal- len und unter die Räder zu geraten. Später wurde unser Wagen vom Zug abgekoppelt und wir setzten unsere Reise auf dem Dach eines anderen Wagens fort. Dort gab es mehr Platz, aber es war auch gefährlicher. Nach einiger Zeit bot man uns einen Platz im Wagen an. Alle dachten nun, man könne durchatmen. Doch plötzlich begriffen die Menschen, dass man den Platz im Wagen aufgrund einer „natürlichen Auslese“ ergattert hatte. Die Dysen- terie wütete im Zug.
Als Erste starben ältere Leute und Kinder. Ich war an der Schwelle zwischen Leben und Tod. Am Ende habe ich überlebt. Mein Opa hat es hingegen nicht geschafft. Er starb. An einem der Halte- punkte trug man ihn zusammen mit anderen Verstorbenen aus dem Zug, um ihn am Bahndamm zu beerdigen. Gott habe ihn selig.
Nach unserer Ankunft in Orsk brachte man die Flüchtlinge in der Siedlung Kreking unter. Dort war es eisig kalt – um die vier- zig Grad minus. Uns wurden eilig zurechtgezimmerte Baracken zur Verfügung gestellt. Unsere Familie kam in einem kleinen Zimmer unter. Es gab weder eine Toilette noch Wasser oder Möbel, die einzige Annehmlichkeit war der Ofen. Man munkelte, dass die Baracken zuvor von Strafgefangenen bewohnt gewesen waren. Als die Häftlinge an die Front geschickt wurden, war der Wohnraum für Flüchtlinge freigeworden.
Durch die zahlreichen Betriebe, die nach Orsk evakuiert worden waren, kamen besonders viele Menschen in die Stadt. Es war des- halb nicht verwunderlich, dass eine enorme Lebensmittelknapp- heit herrschte. Ich erinnere mich an riesige Schlangen vor den Geschäften. Man reihte sich abends in die Schlange ein und stand die ganze Nacht an, um morgens um ein Stück Brot kämpfen zu dürfen. Niemand achtete darauf, dass alles mit rechten Dingen zuging. Viele Leute versuchten, sich vorzudrängen. Um das zu ver- hindern, standen die Menschen in der Schlange direkt hinterein- ander und bildeten damit eine lebende Kette. Jeder umklammerte seinen Vordermann von hinten, so war es sicherer. Doch gau- nerhaft aussehende junge Männer durchbrachen die Kette und schubsten ganze Familien aus der Schlange. Am schwersten hat- ten es die Tataren, denn sie fielen durch ihre bunte Landestracht auf. Um gegen die Anarchie anzukämpfen, richtete man neben der „Hauptschlange“ eine „Männerschlange“ ein. Damit stellte man sicher, dass es gerecht zuging. Nachdem fünf Frauen Brot erhalten hatten, durfte einer der Männer an die Theke.
Je älter ich wurde, desto mehr erfuhr ich über die Menschen, die unsere Baracke bewohnten. Die Flucht hatte bei allen Spuren hin- terlassen und jeder Mensch hatte unersetzbare Verluste erlitten, bevor er in Orsk angekommen war. Einige Menschen trauerten ihren alten Eltern hinterher, die auf der Flucht im Zug ihr Leben gelassen hatten. Jemand hatte seinen elfjährigen Bruder aus den Augen verloren, nachdem er die Abfahrt des Zuges verpasst hatte und am Bahnsteig zurückgeblieben war. Der Onkel einer anderen Person war vor einen Zug gefallen, unter die Räder geraten und hatte eine Behinderung davongetragen. Eine untröstliche Mutter betrauerte den frühen Tod ihrer Kinder. Es betraf auch unsere Familie. Jakow Pan, der Bruder meiner Mutter, ist verschollen. Was alle Menschen in unserer Baracke einte, war die Sorge über das Schicksal derjenigen, die an der Front kämpften.
Acht Jahre meiner Kindheit verbrachte ich in jener Baracke. Dort starb mein jüngerer Bruder Jura. Eines Tages betrat ein Lands- mann meiner Mutter die Baracke und teilte ihr mit, dass ihre große Familie aus Horodok, etwa siebzig Personen, im Ghetto von Jar- molynzi ermordet worden war.[2] Ich weiß noch, wie meine Mutter, völlig trostlos und bitterlich weinend, wie eine Wahnsinnige einem Zug hinterherrannte, vermutlich um sich unter die Räder zu wer- fen. Gott sei Dank hielten die Menschen sie auf und retteten sie.
Nach dem Krieg fuhren meine Eltern gemeinsam mit mir und meiner jüngeren Schwester Larissa nach Odessa, in der Hoff- nung, Verwandte wiederzufinden und zu versuchen, in die alte Wohnung meiner Mutter zurückzukehren. Doch diese war von der Hausmeisterin bewohnt. Sie öffnete die Tür, verblasste und versuchte, die Tür zuzuwerfen. Doch der Fuß meiner Mutter war bereits in der Türschwelle. Sie sah ihr Zimmer, ihre Möbel und ihren Lammfellmantel, den sie bei strengem Frost im Ural so gut hätte gebrauchen können.
„Du bist also am Leben? Überlebt hast du, ja?“, fragte die Haus- meisterin erschrocken, misstrauisch und mit einer offensichtli- chen Enttäuschung in der Stimme. „Das hätte ich nicht gedacht… Man sagte uns, man hätte euch alle…“ Plötzlich fing sie an zu schreien: „Ich lasse euch nicht rein! Wo soll ich denn wohnen? Ihr habt euch irgendwo versteckt, während wir hier unter den Deut- schen lebten! Ich gebe euch gar nichts!“
„Dort, im Fach, ist ein Fotoalbum“, sagte meine Mutter leise.
„Bringe es mir.“ Die Hausmeisterin nahm hastig das Album in die Hand und übergab es ihr. Meine Mutter drehte sich um und ging. In ihren Händen hielt sie das Wertvollste. Von den Fotos schauten ihre wichtigsten Menschen ihr in die Augen. Mit ihrem tragischen Tod konnte meine Mutter bis ans Ende ihrer Tage kei- nen Frieden finden.
[1] 1 Naltschik ist die ehemalige Hauptstadt der Kabardino-Balkarischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik (heute gleichnamige Region der Russländischen Föderation). Nach dem Kriegsbeginn wurden zahlreiche Juden aus dem eu- ropäischen Teil der Sowjetunion nach Naltschik evakuiert. Die Stadt wurde am 28. Oktober 1942 von den Truppen der Wehrmacht eingenommen. Die Mehrheit der evakuierten Juden hat es geschafft, rechtzeitig die Stadt zu verlassen. Unmittelbar nachdem die Stadt besetzt wurde, sind mehrere Dutzend aschkenasischer Juden erschossen worden, sowohl Flüchtlinge als auch Einheimische. Den einheimischen Bergjuden gelang es, die Zeit der Besetzung zu überleben (Anm. der Redaktion).
[2]Horodok ist eine Stadt in der Oblast Kamjanez-Podilskyj der Ukrainischen SSR (heutige Oblast Chmelnyzkyj, Ukraine). Im Jahr 1939 lebten in Horodok 2.329 Juden. Die Stadt wurde von den deutschen Einheiten am 9. Juli 1941 besetzt. Im Oktober 1941 wurden die Juden nach Jarmolynzi (Oblast Kamjanez-Podilskyj) deportiert, wo alle Ghettohäftlinge im Oktober 1942 im Zuge mehrerer Aktionen ermordet wurden. Insgesamt sind in Jarmolynzi über 10.000 Juden ermordet worden (Anm. der Redaktion).