Erinnerungen
Evakuierung und Flucht

Leningrader Blockade

Chanina (Rubinsteyn) Alina

ICH WAR DAMALS NOCH NICHT EINMAL FÜNF JAHRE ALT…

Zu Kriegsbeginn lebten wir im Zentrum Leningrads in der Sagorodnaja Allee. Unsere Familie bestand aus meinem Vater Salman Rubinsteyn, meiner Mutter Sara Gurewitsch, meinen jüngeren Brüdern Ljowa und Schenja sowie mir. Als der Krieg ausbrach, waren meine Brüder dreieinhalb und eineinhalb und ich fast fünf Jahre alt.

Vor dem Krieg arbeitete meine Mutter als Buchhalterin beim kurz zuvor geschaffenen Leningrader U-Bahnbauamt. Als die Blockadegefahr immer größer wurde, wurden fünfhundert Kinder von Mitarbeitern der Oktobereisenbahn sowie des Leningrader U-Bahnbauamts in einem Kinderheim versammelt, um anschließend aus der Stadt evakuiert zu werden. Weil meine Mutter über eine pädagogische Ausbildung verfügte und darüber hinaus drei kleine Kinder hatte, wurde sie kurzerhand beim Kinderheim als Erzieherin eingestellt und mit uns zusammen evakuiert.

Das Kinderheim wurde nach Soltanowo gebracht. Das Dorf befand sich unweit von Neja, einer Siedlung städtischen Typs, die bis 1944 zur Oblast Jaroslawl und anschließend zur Oblast Kostroma gehörte. Aufgrund der Überbelegung des Heims und der schlechten Luft gab es dort unendlich viele Wanzen. Sie nisteten sich sowohl in unseren Stapelbetten als auch in den Wänden ein, die aus mit Werg abgedichteten Holzbalken bestanden. Wir litten sehr unter dieser Plage. Insbesondere im Sommer organisierten wir zeitweise Aktionen, um die Wanzen zu vertreiben. Wir brachten die Bettwäsche nach draußen zum Lüften, wechselten das Heu in den Matratzen und Kopfkissen und gossen kochend heißes Wasser in die Löcher in den Wänden und Betten. Während dieser Maßnahmen schliefen wir in einem Heuhaufen im Flur oder auf der Straße. Das half einigermaßen, jedoch hielt der Effekt nicht lange an. Sehr bald führten die unhygienischen Verhältnisse dazu, dass bei den Kindern immer häufiger Läuse gefunden wurden. Zuerst versuchte man mit Hilfe dichter Kämme dagegen anzukämpfen, dann fing man an, uns mit Kerosin einzuschmieren. Zusätzlich durchsuchten die Mädchen sich gegenseitig nach Läusen. Als auch diese Maßnahmen nicht von Erfolg gekrönt waren, rasierte man einfach allen die Köpfe kahl, sowohl den Jungen als auch den Mädchen.

Ein Kinderfoto von Alina Rubinsteyn

Eines Tages brach im Heim eine Masernepidemie aus. Das gesamte naheliegende Krankenhaus war überfüllt mit erkrankten Heimkindern. Auch ich war darunter. Kurz nach meiner Einlieferung brachte man einen kleinen Jungen mit derselben Diagnose ins Krankenhaus und legte ihn zu mir ins Bett. Das war mein Bruder Ljowa. Seitdem wusste ich, dass ich einen Bruder habe.

Davon, dass ich auch noch einen jüngeren Bruder Schenja habe, erfuhr ich nach einem anderen Vorfall. Meine Mutter besuchte meine Brüder regelmäßig in der Vorschulgruppe. Einmal, im Winter, sehnte sich der damals etwa dreijährige Schenja nach seiner Mutter und fing an, nach ihr zu suchen. Er rannte vom großen Gebäude, in dem seine Gruppe untergebracht war, barfuß und ohne warme Klamotten durch das Dorf, um sie zu finden. Es war erstaunlich, dass er anschließend nicht krank wurde.

Unser Kinderheim wurde als Kindergarteninternat bezeichnet, denn mit uns zusammen waren viele sehr kleine Kinder evakuiert worden, darunter zahlreiche Säuglinge. Viele von ihnen konnten noch nicht laufen, sondern krabbelten nur. Ich erinnere mich an ein kleines Mädchen namens Flora, das wie ein Engel aussah und deswegen bei allen Kindern beliebt war. Sie war noch ganz klein. Viele Säuglinge und Kleinkinder haben diese Zeit nicht überlebt: es gab weder Muttermilch noch andere angemessene Nahrungsmittel für sie. Hinzu kam, dass im Kinderheim Erkältungs- und Infektionskrankheiten wüteten und Medikamente fast nicht vorhanden waren.

Ich weiß nicht warum, aber alle im Kinderheim – sowohl die Kinder als auch das Personal – mussten bei jedem Wetter bei den Beerdigungen der Säuglinge und Kleinkinder anwesend sein. Die Anfangszeit in Soltanowo blieb mir als eine ewige Folge von Beerdigungen in Erinnerung. Dem toten Kind band man das obligatorische weiße Tuch um den Kopf und wickelte die Leiche in ein Laken. Anschließend wurde eine Grabrede gehalten, man schüttete ein kleines Häufchen Erde über das Grab und platzierte einen Grabstein darauf – eine kleine Pyramide aus Blattholz mit einem aufgemalten roten Stern. Aus diesen zahlreichen Pyramiden wurde nach einiger Zeit ein ausgewachsener Friedhof.

Die Winter in dieser Gegend waren rau und schneereich, es gab häufig Schneestürme mit starkem Wind. An Kleidung standen uns nur die Klamotten zur Verfügung, welche wir bei der Evakuierung mitgenommen hatten. Handschuhe waren Mangelware und die mitgebrachten Schuhe nutzten sich bald ab. Hinzu kam, dass die Kinder aus ihren Klamotten bald herauswuchsen.

Das Leben in einem Kinderheim während der Kriegszeit war nicht nur für die Kinder, sondern auch für das Personal hart. Die Erzieherinnen und die Pflegerinnen waren Tag und Nacht im Einsatz, ohne sich zu schonen oder auf ihre Gesundheit zu achten. Das waren heldenhafte Frauen. Sie heizten die Öfen so gut, wie es ging, auch wenn es meist nicht ausreichte, um die Räume warmzuhalten. Jede Gruppe bestand aus dreißig oder mehr Kindern. Alle mussten gewaschen, angezogen, die Mädchen gekämmt werden, die Wäsche und Laken mussten gewechselt und gewaschen, die Räume geheizt und jeden Morgen das Wasser zum Waschen vom Brunnen geholt werden. Nachts mussten sie die Bettnässer wecken und ihnen den Nachttopf reichen, morgens die Betten machen, Wanzen und Läuse bekämpfen, die Kinder zum Essen fertig machen und in die Kantine bringen (draußen war es frostig und die Kinder hatten keine passende Kleidung), sich um die Kranken kümmern, die Disziplin in der Gruppe im Blick behalten und mit den Kindern lernen. Neben ihren zahlreichen Verpflichtungen hatten die Erzieherinnen und Pflegerinnen eine besonders kräfteraubende Aufgabe: sie mussten eigenhändig Feuerholz beschaffen. Deshalb transportierten, sägten und hackten sie eigenhändig das Brennholz. Meist passierte das im Winter. Die Kolchose stellte Pferde mit Schlitten zur Verfügung und zwei der Frauen machten sich auf den Weg in den Wald. Hüfttief im Schnee stehend und ohne warme Kleider am Leib mussten sie Bäume fällen und sägen, Äste abhacken, die Schlitten mit Holz beladen und zurück zum Heim fahren.

Unsere Erzieherinnen riskierten nicht nur ihre Gesundheit, sondern manchmal sogar ihr Leben für uns. Einmal, im Winter, bekamen mehrere Kinder Zahnschmerzen und mussten nach Neja zum Zahnarzt gefahren werden. Man stellte meiner Mutter ein Pferd mit einem Schlitten zur Verfügung. Fast der gesamte Weg verlief durch einen dichten, eingeschneiten Wald. Plötzlich hörten sie die Wölfe heulen und merkten, dass diese immer näher kamen. Bald konnten sie die Tiere sehen. Wölfe in dieser Gegend waren keine Seltenheit. Vor dem Krieg hatte man sie gejagt, doch mittlerweile waren alle Jäger an der Front und die Wölfe konnten sich ungehindert vermehren. Die Wölfe nahmen die Verfolgung auf, das Pferd erschrak und wurde immer schneller… Wie durch ein Wunder schaffte es meine Mutter, die Kontrolle über den Schlitten zu behalten und sich von den Wölfen abzusetzen.

In dieser Zeit hungerten wir permanent. Zu essen gab es haupt sächlich Erbsen, daraus bestanden sowohl unsere Vorals auch unsere Hauptspeisen. Manchmal erhielten wir statt einer Hauptspeise eine Kaltschale aus Hafer. An Zucker, Butter, Speck oder Fleisch erinnere ich mich nicht: das alles gab es einfach nicht. Vor meinem inneren Auge sehe ich die folgende Episode von damals. In der Kantine standen reihenweise lange Tische aus Brettern. Auf den Tischen waren Metallschälchen mit Erbsensuppe platziert, daneben jeweils ein Stück Brot. Unsere Gruppe saß bereits am Tisch, eine andere betrat gerade die Kantine. Unsere Erzieherin Nadeschda Iwanowna sagte enthusiastisch: „Es gibt Erbsensuppe, was für ein Glück!“ Die Erzieherin klang so begeistert, dass sie auf der Stelle einen langen Spitznamen von uns erhielt: „Erbsensuppe, was für ein Glück“.

Trotz der Strapazen, denen alle im Kinderheim ausgesetzt waren, vernachlässigten unsere Erzieherinnen und Pflegerinnen die kulturellen Aktivitäten nicht. Sie organisierten Veranstaltungen anlässlich der Feiertage und der wichtigen Siege der Roten Armee. Das Personal war gut darin, die Kinder zu betreuen und erledigte die Arbeit mit viel Enthusiasmus. Besonders sind mir die Neujahrsfeiern in Erinnerung geblieben. In einem großen Saal stand ein riesiger, buschiger und angenehm duftender Tannenbaum, der bis zur Decke reichte. Die Tannen fällten unsere Erzieherinnen im Wald und brachten sie anschließend mit einem Pferd ins Heim. Der Baum wurde mit Ketten aus angemalten Zeitungen und einer Vielzahl von selbstgebastelten Kartonfiguren – darunter waren unter anderem Tiere, Früchte und Blumen – dekoriert. Einige ältere Kinder hatten vor dem Krieg in Leningrad Tanz-, Gesangs-, Sprechkunst- oder Ballettunterricht gehabt. Wir saßen im Kreis um den Tannenbaum herum versammelt und sahen zahlreichen von uns vorbereiteten Aufführungen zu. Erzieherinnen und ältere Mädchen fertigten für alle Aufführungen Kostüme an. In diese Aktivitäten waren alle involviert: Mädchen, Jungen und sogar ganz kleine Kinder aus den Krabbelgruppen.

Zu den Alltagsnöten des Heimlebens, die alle Kinder zur Kriegszeit durchlebten, kam bei uns der Antisemitismus hinzu. Diesen spürten wir sehr schnell. Sogar kleine Kinder wussten, was „Judenschwein“ bedeutet und konnten jüdische Kinder von anderen unterscheiden. Unter den Heimkindern gab es zahlreiche Sprüche, Redensarten, Gedichte und Abzählreime über Juden. Die Jungs kamen auf uns zu und sangen uns ein Lied vor:

Die Judenkinder balancieren

Auf einer langen Leine

Die Leine reißt

Da fallen sie hin, die Judenschweine

Hinzu kam, dass meine Brüder und ich das „R“ nicht deutlich aussprechen konnten. Man provozierte uns, indem man uns hartnäckig mit der Bitte belästigte, Zungenbrecher, bei denen der Buchstabe “R” häufig vorkam, aufzusagen. Ich erinnere mich auch an andere Verse, die aber so obszön sind, dass ich sie hier nicht in schriftlicher Form aufführen möchte. Oft war es unmöglich, die Erniedrigung zu ertragen und es kam zu Prügeleien.

Bei uns in der Gruppe gab es einen Jungen, der wesentlich älter als ich war. Eines Tages hänselte er mich und wir prügelten uns. Natürlich war er stärker als ich, aber ich verteidigte mich auf meine Weise, indem ich ihn biss. Danach ließ er mich endlich in Ruhe.

Während unseres gesamten Aufenthalts im Kinderheim wurden auch Ljowa und Schenja erniedrigt und geschlagen. Auch sie wehrten sich so gut, wie sie nur konnten.

Der Antisemitismus blühte und gedieh auch außerhalb des Kinderheims bei den Kindern und Heranwachsenden in Soltanowo. Die einheimischen Dorfkinder ließen keine Gelegenheit aus, um uns zu hänseln und zu provozieren. Von einem dreizehn- oder vierzehnjährigen Jungen hörte ich Schmähgedichte über Juden. Im Nachhinein habe ich mich immer gewundert, warum die Menschen in einer solchen Einöde, wo es nie Juden gegeben hatte, uns so hassten.

Doch was in Soltanowo passierte, war noch harmlos in Vergleich zu dem, was ich später erlebte. Nach dem Kriegsende kehrte das Kinderheim nicht sofort nach Leningrad zurück. Zunächst wurden wir in das Dorf Tajzy in der Oblast Leningrad umgesiedelt. Dort erhielt das Heim den Namen „Kinderheim Nummer 3 beim Schulverband der Oktobereisenbahn“. Wir wurden in einem blau gestrichenen Schulgebäude untergebracht, das deshalb „blaues Haus“ getauft wurde. Unserem Heim wurden viele ältere Kinder zugeordnet. Diese hatten den Krieg in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten erlebt. Einige von ihnen waren verwaist, andere lebten weit von ihren Eltern entfernt, wiederum andere waren von ihren Eltern getrennt worden, weil diese sie nicht versorgen konnten. Einige dieser Heranwachsenden waren Zeugen des Völkermords an den Juden. Trotzdem begannen sie eine regelrechte Hetzjagd auf uns. Wir wurden gemobbt, verprügelt, man nahm uns das Essen weg, obwohl wir auch nach dem Krieg hungerten. Besonders viele Erniedrigungen mussten meine Brüder in den jüngeren Gruppen erleiden. Ich versuchte, sie zu beschützen. Oft hob ich nach dem Frühstück oder Mittagessen Brot auf und teilte es mit ihnen. Insbesondere ist mir ein relativ erwachsener Junge in Erinnerung geblieben, der mit einer erstaunlichen Brutalität die jüdischen Kinder quälte und andere dazu anstiftete. Er war etwa vierzehn Jahre alt und kam aus der Ukraine. Das Mobbing und die Quälerei dauerten so lange, bis wir im Oktober 1946 das Kinderheim verließen. Nachdem mein Vater aus der Roten Armee entlassen worden war, kehrten wir gemeinsam nach Leningrad zurück.

Durch diese Erlebnisse waren wir gut auf verschiedene Auswüchse des Antisemitismus vorbereitet – nach dem Krieg erfuhren wir antisemitische Diskriminierung in der Schule, beim Spielen draußen, in verschiedenen Behörden, in der Universität, auf der Arbeit und an vielen anderen Orten…