Erinnerungen
Evakuierung und Flucht

Leningrader Blockade

Minz Iossif

DAS PFEIFEN VON BOMBEN ERKLINGT NOCH HEUTE IN MEINEN OHREN

Der Krieg hatte begonnen. Über den Fluss Newel flohen Menschen aus Weißrussland. Ich erinnere mich, wie meine Mutter den Flüchtlingen Milch und Brot gab. Unterdessen wurde mein Vater zur Arbeitsarmee eingezogen. Er musste Schützengräben ausheben. Meine Aufgabe war es, ihm von zu Hause Essen zu bringen.

Am 8. Juli 1941 fuhren mein Vater und mein Onkel Haim-Gerschon zum Hufschmied, um unser Pferd beschlagen zu lassen. Dort wurden sie von einem Bombenangriff überrascht.

Eine der Bomben schlug auch bei uns auf dem Hof ein. Durch die Stoßwelle verschob sich der Flur, der sich durch das ganze Haus zog. Alle begannen, durch Fenster zu flüchten. Meine Mutter stand zum Zeitpunkt des Einschlags am Stubenofen, wurde von einem der einstürzenden Ziegelsteine getroffen und leicht verletzt. Das Pfeifen von Bomben erklingt noch heute in meinen Ohren. Das ist ein seltsames, jaulendes, furchterregendes Pfeifen.

Während des Krieges kämpften alle meine Brüder an der Front. Einer von ihnen tat sich bereits am 8. August 1941 im Kampf hervor und wurde mit dem Rotbannerorden ausgezeichnet. Später erhielt er auch die Medaille „Für die Verteidigung Moskaus“. Ich habe bis heute das Foto aufbewahrt, auf dem mein Bruder ausgezeichnet wird – von Michail Kalinin, dem Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets, der im Volksmund als Allunions-Ältester bezeichnet wurde. Meine anderen drei Brüder wurden ebenfalls ausgezeichnet. Nur einer von ihnen überlebte den Krieg.

Nach dem Bombenangriff kehrte Onkel Haim-Gerschon zu unserem Haus zurück. Mein Vater war nicht dabei. Mein Onkel erzählte, dass sie nach Beginn des Luftangriffs in verschiedene Richtungen geflüchtet waren. Anschließend kehrte er zu unserem Pferd zurück. Mein Vater kam nicht wieder. Seit diesem Tag bin ich Halbwaise. Ich weiß noch, dass mein Vater mich sehr liebte und dass er immer stolz auf mich war. Auch ich habe ihn sehr geliebt.

Nach dem Bombenangriff fassten wir die Entscheidung, aus Newel fortzugehen. Noch am gleichen Tag packten wir unsere Sachen zusammen, legten sie auf den Pferdewagen und brachen gemeinsam mit der Familie unseres Onkels und den Verwandten von Tante Zipa in Richtung Norden auf. Nachdem wir das erste Dorf auf unserem Weg erreicht hatten, machten wir einen Halt. Drei Tage in Folge kehrten meine Mutter und mein älterer Bruder Borja in die Stadt zurück, um nach meinem Vater zu suchen. Niemand hatte ihn gesehen…

Wir zogen weiter. Viele Tage und viele Nachte waren wir unterwegs. Während der Bombenangriffe packten wir mein kleines Schwesterchen Dora und liefen auseinander. Manchmal kamen die Angriffe so plötzlich, dass wir es nicht schafften – dann blieb die Kleine im Wagen.

Auf der Flucht wurde mein Bruder Borja angeschossen. Die Kugel schlug durch seine Kleidung, streifte aber zum Glück nur leicht seine Haut.

Immer und immer wieder wurden wir aus der Luft beschossen. Eines Nachts warfen die Deutschen eine Leuchtgranate ab. Ich stand im Wald, am Rande einer Lichtung. Plötzlich wurde es so hell, dass man den Eindruck hatte, man stünde völlig entblößt vor einer Menschenmenge.

In Welikije Luki, als wir an einem Marktplatz ankamen und einen Halt vor einem dreistöckigen Haus machten, beschossen uns plötzlich zwei deutsche Flieger aus Maschinengewehren. Wahrscheinlich war ich dumm und leichtsinnig, aber ich hatte keine Angst, dabei kam eines der Flugzeuge im Sturzflug direkt auf uns zu. Ich schaute den Piloten direkt an und sah seine Schutzbrille und seinen Helm. Als das Gebäude schon ganz nah war, brach er den Sturzflug abrupt ab und die Kugeln trafen uns nicht.

Mit Gottes Hilfe kamen wir in Kalinin an. Während unseres gesamten Marsches warteten wir darauf, dass mein Vater uns einholte. Kalinin stellte die letzte Hoffnung dar, ihn zu treffen. Dort studierte meine ältere Schwester Mira Deutsch auf Lehramt an einem Institut. Mira war nicht zu Hause, sie war bei einem Arbeitseinsatz und hob Schützengräben in der Nähe des Orts Sabesch aus. Die Deutschen warfen Flugblätter mit höhnischen, geschmacklosen Versen ab: „Russische Mädchen, grabt keine Grübchen, unsere Panzerchen kommen eh durch.“ Wir hinterließen für Mira einen Brief bei ihrer Vermieterin. Wir teilten ihr mit, dass wir in die Stadt Kaljasin aufbrachen. Später schloss sich Mira uns an. Mein Vater hingegen tauchte nicht wieder auf…

Das Sukkot-Fest stand vor der Tür. Mein Großvater kaufte ein Huhn, um Kapparot[1], ein Ritual zur Erlassung von Sünden, durchzuführen. Es gab in Kaljasin jedoch keinen Schächter, so dass mein Großvater und ich in die nahegelegene Stadt Kaschin an der Wolga fuhren. Diese russische Stadt hat mich sehr beeindruckt – fast an jeder Ecke standen kleine, stämmige Kirchen; solche habe ich später in Pskow gesehen…

Es war uns nicht vergönnt, lange in Kaljasin zu bleiben. Die Frontlinie kam immer näher und wir mussten in östliche Richtung fliehen. Es war schon Herbst. Wir stiegen auf ein Frachtschiff und fuhren die Wolga abwärts. Es wehte ein eisiger Wind, die Kälte ging durch Mark und Bein. Das Schiff war vollkommen überfüllt, wir fühlten uns wie in einer Sardinenbüchse… Auf dem Schiff starb Tante Riwas einjähriger Sohn. Er wurde in der Nähe einer Anlegestelle beerdigt.

Wenig später kamen wir in Kineschma an und blieben dort für drei Tage. Ich hatte das Gefühl, dass ich der Hungrigste von allen war. In irgendeiner Fabrik hatte man Lebensmittel für uns bereitgestellt. Um dort anzukommen, mussten wir einen langen Fußmarsch zurücklegen. Mein Bruder Borja ärgerte mich, indem er ständig meinte, wir würden eher verhungern, bevor wir bei dieser Fabrik ankommen. Mir hingegen machte der Fußmarsch nichts aus, ich war bereit die längsten Stecken zurückzulegen, nur um etwas zu essen zu bekommen.

Nach drei Tagen wurden wir in einen Zug gesetzt. Wir fuhren in einem Güterwagen mit einem Kanonenofen in östliche Richtung. Die Fahrt war lang, der Zug stand tagelang auf einem Abstellgleis, denn die Militärtransporte wurden bevorzugt behandelt. Niemand wusste, wann wir wieder losfahren würden. Ständig rannten wir zum Stationsvorsteher, aber auch er gab uns keine Auskunft. An jeder Station suchten wir verzweifelt nach Lebensmitteln, heißem Wasser, Kohle und einer Toilette. Wir versuchten, uns am Kanonenofen aufzuwärmen, aber kaum hatte man sich davon entfernt, schon fror man wieder. Unterwegs erkrankte mein Opa. In Arsamas stiegen mein Onkel Miron und er aus dem Zug aus. Dort starb mein Opa auch…

Wir fuhren immer weiter. In unserem Wagen war eine junge Frau gestorben. Ich erinnere mich daran, wie ihre Angehörigen verzweifelt versuchten, ihr einen festsitzenden Ring vom Finger abzunehmen…

Erst im Dezember kamen wir endlich in Taschkent an. In der Mitte des Bahnhofsvorplatzes lag unser Gepäck und wir saßen um es herum. Der ganze Platz war voll mit Flüchtlingen. Wo sollten wir als nächstes hin? Mein Bruder scherzte, wir sollten nach Afrika fahren, dort brauche man ja überhaupt keine Kleidung. Meine Mutter kaufte zwei Einmachgläser Aprikosenkompott. Das war ein leckeres, süßes Getränk, das bei mir allerdings arge Magenbeschwerden verursachte. Die Schlange bei den Toiletten war riesig. So stellte ich mich nach jedem Toilettenbesuch gleich wieder hinten an. Überall gab es Diebe. Einer von ihnen wollte unsere Nähmaschine stehlen, hatte dann aber nur den Deckel in der Hand. Meine Mutter rannte hinterher und er ließ den Deckel fallen. Als nächstes band meine Mutter den Deckel mit einem Handtuch an der Maschine fest. Schon kurze Zeit später wurde uns die Nähmaschine samt Deckel gestohlen.

Auf dem Bahnhofsplatz trafen wir Tante Gisja, die Frau von Haim-Gerschon. Sie erzählte uns, dass sie ihren Sohn Ruwka an die Front verabschiedet und sich mit ihrer Familie im Dorf Grodnikowo in der Oblast Dschambul[2] niedergelassen hatte. So machten wir uns auf den Weg dorthin. Wir fuhren mit dem Zug bis Arys, wo wir umsteigen mussten, um nach Dschambul zu kommen. Am Bahnhof in Arys saß eine alte Frau. Ihre faltige Stirn war voller Flöhe. Es ist unschön, darüber zu schreiben, doch es blieb mir im Gedächtnis. Auf diese Weise nahm ich als achtjähriges Kind damals die Realität wahr.

Wir fünf wurden bei einer russischen Familie untergebracht (diejenigen, die von den Einheimischen als Russen bezeichnet wurden, waren meist entkulakisierte und deportierte Ukrainer). Das Haus der Familie hatte zwei Zimmer. Unsere Gastgeber stellten uns eine Ecke am Stubenofen im Eingangsbereich zur Verfügung. Wir schliefen im Stroh und meine kleine Schwester Dora auf dem Stubenofen, der allerdings nie geheizt wurde. Die Hausherrin hieß Lukerja, sie hatte vier Kinder: drei Jungen und ein kleines Mädchen. Alle waren bettelarm. Die Kinder unserer Gastgeber hatten viele Freunde. Sie waren neugierig auf uns – wir kamen aus der Stadt, außerdem waren wir Juden. Kaum angekommen, wurden wir von ihnen sofort beklaut.

Der Winter 1941 war schrecklich: in Kasachstan war es so bitterkalt wie noch nie, zudem gab es nichts zu essen. Die Flüchtlinge erhielten eineinhalb Kilogramm Mehl im Monat. Die Einheimischen bekamen gar keine Hilfe. Die Menschen waren sehr feindselig zu uns: wir hätten ihnen Kälte mitgebracht und würden ihnen das Brot wegessen. Wir ernährten uns fast ausschließlich von Maisbrei ohne Salz und Butter. Dora konnte den Brei nicht essen. So verbrachte sie den ganzen Winter auf ihrem Ofen, den sie kaum verließ.

Meine Mutter ging nach Dschambul, um Geld zu verdienen. Dort bekam sie starke Diarrhöe, verursacht von der Mangelernährung, und wurde in einem kritischen Zustand in ein Krankenhaus eingeliefert. Wie durch ein Wunder lebte in Dschambul die Cousine meiner Mutter aus Rostow. Sie und ihr Mann brachten meiner Mutter Hühnerbrühe ins Krankenhaus und retteten sie so vor dem sicheren Tod.

Als der Frühling einkehrte, verließ Dora ihren Stubenofen. Sie war völlig abgemagert und musste aufs Neue laufen lernen. Nur der liebe Gott weiß, wie sie überlebte. Meine Mutter sagte, das liege an den Reserven, die sie sich in Newel angehäuft hatte: mit Schmand und Sahne aufgezogen, war sie als Baby kugelrund gewesen. Nun war es wärmer geworden und die Kinder unserer Gastgeber vertrieben uns beide aus dem Haus, „zum Lüften“, wie sie sagten. Es war noch sehr frisch, wir froren und ich versuchte, Dora so gut wie ich konnte vor der Kälte zu schützen.

Mein Bruder Borja wurde zur Armee eingezogen, er war in Turkmenistan in Grundausbildung. Das Essen dort wurde mit Leinöl zubereitet, das er nicht vertrug. Vom Kantinenessen wurde er magenkrank und wenig später musterte man ihn aus. Doch kurze Zeit später wurde er wieder einberufen. Die medizinische Kommission hatte ihn für untauglich erklärt, doch die Einberufungsbehörde meinte: „Passt schon!“ Das war im Jahr 1942. Borja schrieb nicht gerne Briefe, wir erhielten nur selten welche von ihm und machten uns große Sorgen. In seinem letzten Brief schrieb er, dass er oberhalb des linken Auges und an der Schulter verwundet worden war. Erst knapp drei Jahre später erhielten wir die Nachricht, dass er seit April 1945 vermisst gemeldet war. Nach dem Krieg war ich im Archiv des Verteidigungsministeriums in Podolsk, wo man mir mitteilte, es lägen keine Informationen über vermisste Soldaten und Unteroffiziere vor.

Währenddessen führten wir in Grondnikowo einen Überlebenskampf. Die Erwachsenen verrichteten Feldarbeit und ich verbrachte den ganzen Tag mit Dora. Ich versuchte, uns etwas zu essen zu organisieren und bereitete die Mahlzeiten draußen am offenen Feuer zu. Es gab allerdings kein Feuerholz. So sammelte ich große, trockene Grashalme, um Feuer zu machen. Die Grashalme brannten nicht und ich pustete, bis ich Tränen in den Augen hatte. Auch Streichhölzer hatten wir keine und so versuchte ich Feuer mit dem Feuerstahl zu machen. Noch öfter ging ich zu den Nachbarn, um Feuer zu besorgen.

Meine Mutter und meine Schwester Mira brachten uns Reste von der Brühe aus Roter Beete mit. Die Brühe bekamen sie bei den Feldarbeiten zu essen. Auf irgendeine Weise schafften sie es, von dieser mageren Portion noch etwas für uns übrig zu lassen…

Den zweiten Kriegswinter verbrachten wir im Haus einer kasachischen Familie. Dort hatten wir einen Teil des Zimmers neben der Eingangstür für uns. Die Bedingungen waren schrecklich, aber man kann nicht sagen, dass die Hausherren uns schlecht behandelten. Dora und ich waren ständig erkältet. Unsere Köpfe waren mit kleinen, offenen Wunden übersät, wo sich Flöhe bequem eingerichtet hatten. Dora musste deshalb sogar viele lange Tage in einem Krankenhaus in Dschambul verbringen. Ich vermisste sie während dieser Zeit sehr.

…wir schrieben das Jahr 1944. Langsam bereiteten wir uns darauf vor, zurückzukehren. Onkel Haim-Gerschon und seine Familie waren bereits nach Newel zurückgekehrt. Dorthin konnten wir nicht zurück: unser Haus war niedergebrannt. Tante Riwa und ihre Tochter Anja lebten in Saratow und wir fuhren zu ihnen. Wieder waren wir in einem beheizten Güterwagen unterwegs, diesmal kamen wir allerdings recht zügig voran. Wenn ich ein großes Geschäft verrichten musste, hielt ich mich am Griff fest, kletterte runter auf das Trittbrett und setzte mich in die Hocke. Ich weiß nicht, wie andere Menschen dieses Problem lösten. Währenddessen fuhr unser Zug mit voller Kraft in Richtung Saratow. Endlich passierten wir die Brücke über die Wolga und hielten an einem Güterbahnhof an. Das Geld reichte nur für einen Laib halbgares Brot. Mira hatte hohes Fieber bekommen und wurde sofort in ein Krankenhaus gebracht. Die Diagnose lautete Typhus. Erst einen Monat später wurde sie entlassen, völlig abgemagert und mit einem kahlgeschorenen Kopf.

Bei der Rückkehr schafften wir es auf irgendeine Weise, unsere Verwandten zu finden. Ich trug unser ganzes Gepäck. Mir fielen fast die Hände ab…

Aus unserer Familie haben mein Vater und mein Bruder Borja den Krieg nicht überlebt. Der Bruder meiner Mutter aus Leningrad war Soldat und wurde in einer Erdhütte durch einen Bombeneinschlag getötet. Tante Etka aus Witebsk und ihr Ehemann hatten es nicht geschafft zu fliehen und starben im Ghetto. Alle vier Söhne Etkas wurden ebenfalls getötet. Ermordet wurde Leyb, der Sohn von Haim-Gerschon, ermordet wurde auch Ljonja Minz, der Sohn von Dowid, dem Bruder meines Vaters. Ljonja hatte direkt vor dem Krieg sein Studium am Schiffsbauinstitut in Leningrad abgeschlossen. Ich erinnere mich, wie er seinen Urlaub in Newel verbrachte – er war großgewachsen, hübsch, trug einen langen schwarzen Mantel – der Stolz der ganzen Familie. Ermordet wurde auch sein Bruder Grischa, ebenso wie Haim Beylinson. Seine Einheit befand sich auf dem Rückzug in der Nähe von Newel und er nahm sich frei, um seine Eltern zu besuchen. Die Wehrmacht besetzte Newel und er wurde zusammen mit anderen Juden im Dorf Golubaja Datscha erschossen…

 


[1]Kapparot ist ein jüdischer Brauch am Vorabend des Jom Kippur. Dabei wird die Strafe für menschliche Sünden symbolisch auf Hühner übertragen, hergeleitet aus dem Gebetsbuch: „Das ist mein Stellvertreter. Das ist mein Auslöser. Das ist meine Sühne. Dieses Huhn geht dem Tode entgegen, ich aber gehe einem guten Leben und Frieden entgegen.“ Heutzutage wird dieser Brauch häufig durch Spenden an die Armen ersetzt (Anm. des Übersetzers).

[2]Heutiges Gebiet Schambyl, Südosten Kasachstans (Anm. des Übersetzers).