Erinnerungen
Evakuierung und Flucht

Leningrader Blockade

Schneider Boris

Boris Schneider hat einen Abschluss der Fachoberschule für Kommunikationstechnik in Odessa. Nach dem Krieg arbeitete er fünfzig Jahre lang als Ingenieur in Moldawien. Lebt in Aschdod.

FLUSSABWÄRTS MIT DER FÄHRE DES TODES

Oktober 1942. Ich war zu diesem Zeitpunkt zwölf Jahre alt. Eine Fähre brachte uns von Baku in die Nähe von Krasnowodsk, Turkmenistan. Nach dem Überqueren des Kaspischen Meeres setzten wir unsere Flucht auf dem Fluss Amudarja fort.

Unsere Fähre war nicht motorisiert, sondern trieb mit dem Strom wie ein Stück Holz. Auf diese Weise sollten wir an unseren Zielort gelangen. Insgesamt waren nicht weniger als dreihundertfünfzig evakuierte Frauen und Kinder an Bord. Wir erhielten Brot für drei Tage – eine solche Ration stand uns zu. Die Überfahrt mit einer nichtmotorisierten Fähre dauerte allerdings drei Wochen. Das war der Beginn einer Tragödie. In den darauffolgenden drei Wochen verdursteten und verhungerten auf der Fähre jeden Tag zahlreiche Menschen. Vor Hunger völlig geistesabwesend schlief ich von morgens bis abends auf dem Metalldeck der Fähre. Unterdessen tat Oma Riwa alles, um meinen achtmonatigen Bruder Sjoma vor dem Tod zu retten. Sie wärmte ihren kleinen Enkel Tag und Nacht mit ihrem Körper und ihrem Atem.

Wenige Tage vor unserer Ankunft kuppelte man mitten in der Nacht eine Fähre mit Getreide und Zwiebeln an unsere Fähre an. Am nächsten Morgen erfuhr ich von meiner Oma davon und entschied mich, sofort hinüberzuklettern, um Getreide zu besorgen. Doch meine vor Kälte und Hunger entkräfteten Gliedmaßen weigerten sich. Ich robbte über das Deck und zog meinen Körper mit der Kraft meiner Arme hinter mir her. Am Heck angekommen sah ich, dass etwa dreißig Zentimeter die beiden Fähren trennten. Ich klammerte mich an die hintere Fähre und schaffte es auf wundersame Weise, meinen Körper hinüberzuschwingen. Im nächsten Moment landete ich auf dem Getreideberg.

Als Erstes begann ich, gierig den Weizen zu kauen. Dann schnürte ich meine Hose unten ab und befüllte die Hosenbeine mit Getreide. Ich kletterte zurück auf unsere Fähre und krabbelte dorthin, wo meine Mutter, ihre Schwester Chassja, meine Schwestern Rosa, Anja und Lida, mein Bruder Sjoma und Oma Riwa lagen. Meine Mutter breitete ihren Schal auf dem Deck aus, löste die Schnur meiner Hose und schüttete das wertvolle Getreide auf den Schal. Alle fingen an, den Weizen zu kauen. Meine Oma zerkaute den Weizen, legte ihn in ein Stück Stoff und wickelte es zu einem Schnuller zusammen. Mein kleiner Bruder nuckelte Tag und Nacht daran. Nur deshalb hat er es geschafft zu überleben.

Das gesamte Ufer flussabwärts des Amudarja – von Türkmenabat bis Urgantsch – ist übersät von namenlosen Gräbern von Frauen und Kindern. Tagsüber starben die Menschen, nachts legte man an, um die Toten am Ufer zu beerdigen.

Auf der Fähre lernte ich einen gleichaltrigen Jungen kennen. Er hieß Sascha. Nachts war es sehr kalt, trotzdem mussten wir oben auf dem eisernen Deck der Fähre schlafen. Wir pressten uns aneinander, um uns gegenseitig wenigstens etwas aufzuwärmen…

Eines Morgens öffnete ich die Augen und sah, dass Sascha nicht da war. Der Kapitän kam auf mich zu und sagte: „Dein Freund lebt nicht mehr. Er ist heute Nacht gestorben.“ Die Fähre legte an und die Besatzung beerdigte ihn und mehrere in jener Nacht verstorbene Frauen…

Das war in der Tat eine Fähre des Todes. Von den dreihundertfünfzig Frauen und Kindern, welche die Fahrt auf dem Amudarja mit einer nichtmotorisierten Fähre angetreten waren, gingen nicht mehr als hundertfünfzig Personen von Bord.

Nach unserer Ankunft hatte man mich auf der Fähre vergessen. Ich kam wieder zu Bewusstsein und sah niemanden um mich herum – keine Passagiere, keine Matrosen, keinen Kapitän. Ich krabbelte zum Fallreep, doch konnte nicht an Land gehen: es war zu steil. Kurze Zeit später sah ich, wie zwei Turkmenen aufs Deck gingen. Sie kreuzten ihre Hände und deuteten mir an, mich hinzusetzen. Sie brachten mich ans Ufer, wo ich meine Mutter traf. Während ich ohnmächtig auf dem Deck gelegen hatte, hatte sie die Einheimischen gefunden und sie zu unserer Fähre gebracht. Die Turkmenen setzten mich auf einen Leiterwagen mit großen Rädern und wir verließen den Hafen.