Fradkina Dora
Nach ihrem Studienabschluss am Institut für Medizin in Irkutsk arbeitete Dora Fradkina als Kinderärztin. Sie wurde als Herausragende Mitarbeiterin des Gesundheitswesens und Verdiente Ärztin der Russländischen Föderation ausgezeichnet. Lebt in Aschkelon.
MUTTI, MEINE LIEBSTE MUTTI, ICH DANKE DIR!
Ich erinnere mich, wie wir nachts durch den Wald zum Bahnhof rannten, um den letzten, bald abfahrenden Zug für Flüchtlinge zu erwischen. In unserer Familie gab es fünf Kinder, das jüngste war meine dreimonatige Cousine. Meine Tante hatte keine Muttermilch und übergab das Mädchen immer wieder an eine andere Frau, die nun zwei Babys stillte – ihr eigenes und meine Cousine…
Neben uns versuchten unzählige ältere Leute und Mütter mit Kindern, über einen Waldweg ihrem Schicksal zu entkommen. Eine Szene ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Ich sehe sie wie in Zeitlupe vor meinem inneren Auge. Eine junge Frau rennt durch den Wald, sie ist großgewachsen und bildhübsch, hat schöne lange Haare, die ihr fast bis zu den Füßen reichen und vom Wind verweht werden. In ihren Händen hält sie ein Wickeltuch. Plötzlich hört sie ein Quietschgeräusch. Sie lehnt sich vor und entdeckt im Wickel einen Hundewelpen. Das Entsetzen in ihren Augen ist nicht mit Worten zu beschreiben. Direkt vor meinen Augen, innerhalb weniger Augenblicke, ergrauten ihre Haare. In der Eile hatte sie die Wickel verwechselt und nicht ihr Baby, sondern ihren Hundewelpen mit auf die Flucht genommen. In einem hysterischen Anfall tobte sie vor Verzweiflung und rief nach ihrem Kind:
durch einen direkten Einschlag einer Bombe zerstört worden war, kurz nachdem sie es verlassen hatte. In diesem Augenblick ist ihr bewusst geworden, dass ihr Kind im Haus geblieben war… Die Menschen versuchten die Frau davon abzuhalten, zurück zum Haus zu rennen. Sie riss sich immer wieder aus ihren Händen los. Mit großer Mühe gelang es schließlich, sie in den Zug zu setzen.
Unser Güterzug kam sehr langsam voran. Nur während der kurzen Feuerpausen zwischen den Bombardements bewegten wir uns fort. Während der Luftangriffe sprangen alle kopfüber vom Bahndamm, um sich in einem der nahegelegenen Waldstücke zu verstecken. Bei einem abermaligen Bombenangriff verdeckte ein Soldat meinen Bruder Borja im Fallen mit seinem Körper, um ihn vor den Splittern zu beschützen, doch wurde selbst getroffen. Ihm wurde durch einen Splitter sein Bein abgerissen. Nachdem der Fliegeralarm verstummt war, zerriss meine Mutter als Erstes ihr Hemd und band dem Soldaten die Ader ab, um seine schreckliche Verletzung zu versorgen. Erst dann konnte sie meinen kleinen Bruder befreien.
Während unserer Reise wurde meine Mutter zur Wagenvorsteherin gewählt. Während einem der unzähligen Luftangriffe verschloss sie die Wagentür, anstatt die Rettung im Feld zu suchen und sagte: „Wenn es uns vergönnt ist zu überleben, dann ist es unser aller Glück! Wenn nicht, sollen wir alle sterben! Bleiben wir im Wagen, entkommen wir wenigstens den Splitterverletzungen!“ Plötzlich kehrte eine surreale Stille ein. Die Tür ging auf und es bot sich ein grauenhaftes Bild: die Hälfte der Lok, der Wagen vor und alle Wagen hinter uns waren völlig zerstört. Unser Wagen hatte als einziger diese Bombenhölle unbeschadet überstanden. Die Leute umarmten meine Mutter und weinten vor Glück – sie waren vorerst am Leben geblieben…
Dabei war meine liebe Mutter damals noch so jung – sie war erst siebenundzwanzig Jahre alt. Unterwegs zerbrach sie sich permanent den Kopf darüber, wie sie ihre Kinder ernähren sollte. An den Stationen gelang es mitunter, Kerzen zu besorgen. Man zündete sie zwischen den Schienen an und bereitete darauf die Milch für die Babys zu. Wenn es keine Kerzen gab, hielten alle Passagiere nacheinander die Babyflaschen mit der Milch so lange unter den Achseln, bis sie warm wurde.
Während wir unterwegs waren, gab es keine Gelegenheit, sich zu waschen. Die Läuse waren eine richtige Plage und davon blieb niemand verschont. Alle litten unter ständigem Hautjucken. Es war kaum auszuhalten. Hinzu kam, dass es mitten im Sommer und sehr heiß war. Nach einem der Luftangriffe warteten wir wieder darauf, dass ein neuer Zug aus den noch fahrtüchtigen Wagen zusammengestellt wurde und wir die Reise fortsetzen durften. Für die Soldaten hatte man in der Zwischenzeit einen Badetag organisiert. Dann teilte man uns mit, dass auch wir uns in der Entlausungsanstalt waschen durften. Was war das für ein Glück, sich unter diesen Umständen unter einen Wasserstrahl zu stellen!
Eines Tages erhielt meine Mutter ein unfassbar großzügiges Geschenk von den Soldaten – einen kleinen Eimer mit Eiern und Milch. Das kam uns wie ein unbeschreiblicher Reichtum vor! Beim nächsten Halt kamen zwei Bengel auf unseren Wagen zu. Sie waren verschmutzt, erschöpft und trugen nur Fetzen am Leib. Ihre Haut war mit Krusten bedeckt. Die Jungen waren völlig abgemagert. Es stellte sich heraus, dass sie Tschuwaschen[1] waren, zwei Brüder, der eine ein Jahr älter als der andere. Nach dem Tod ihrer Eltern lebten sie im Wald und ernährten sich von Beeren und Blättern. Meine Mutter nahm die beiden mit in unseren Wagen und gab ihnen etwas zu essen. Von nun an schlossen sie sich uns auf unserer Flucht an. Auf einmal hatten wir zwei weitere Brüder bekommen. Sie wurden Teil unserer Familie. Sie folgten uns nach Irkutsk, beendeten dort die Hauptschule und gingen zur Armee. Ihr Leben lang blieb meine Mutter wie eine richtige Mutter für sie.
Eines Tages erhielt meine Mutter ein unfassbar großzügiges Geschenk von den Soldaten – einen kleinen Eimer mit Eiern und Milch. Das kam uns wie ein unbeschreiblicher Reichtum vor! Beim nächsten Halt kamen zwei Bengel auf unseren Wagen zu. Sie waren verschmutzt, erschöpft und trugen nur Fetzen am Leib. Ihre Haut war mit Krusten bedeckt. Die Jungen waren völlig abgemagert. Es stellte sich heraus, dass sie Tschuwaschen[1] waren, zwei Brüder, der eine ein Jahr älter als der andere. Nach dem Tod ihrer Eltern lebten sie im Wald und ernährten sich von Beeren und Blättern. Meine Mutter nahm die beiden mit in unseren Wagen und gab ihnen etwas zu essen. Von nun an schlossen sie sich uns auf unserer Flucht an. Auf einmal hatten wir zwei weitere Brüder bekommen. Sie wurden Teil unserer Familie. Sie folgten uns nach Irkutsk, beendeten dort die Hauptschule und gingen zur Armee. Ihr Leben lang blieb meine Mutter wie eine richtige Mutter für sie.
[1]Tschuwaschen sind ein turkstämmiges Volk, das mehrheitlich in Tschuwaschien, einer autonomen Republik im europäischen Teil Russlands, lebt. Der Großteil der heute etwa 1,7 Millionen Tschuwaschen bekennt sich zum orthodoxen Christentum (Anm. des Übersetzers).