Erinnerungen
Evakuierung und Flucht

Leningrader Blockade

Portnowa Betti (Feldman Basja)

Geboren 1934 im Schtetl Romanowka, Bessarabien, heutiges Moldawien. Studium am Institut für Pädagogik in Taschkent, unterrichtete russische Sprache an einer Schule und einem Institut für Fremdsprachen. Auswanderung nach Israel im Jahr 1994. Lebt in Aschdod, hat zwei Kinder, drei Enkelkinder und einen Urenkel.

DUFT DES LEBENS, DUFT DER HOFFNUNG

Der Duft eines herzhaften Borschtsch, den Basja vorher nie gegessen hatte, reife Früchte, knackige Tomaten, viel Sonne, riesengroße Melonen – all das verbindet Basja mit der Kuban-Region…[1] In diese Gegend, in eine Kubaner Kolchose, wurde neben anderen Bewohnern Romanowkas auch die Familie Feldman evakuiert. Alle waren mitgekommen, auch die zahlreichen Tanten und Onkel, bis auf die Alten, die sich die lange Reise nicht zugetraut hatten.

Die Wehrmacht rückte immer näher an Rostow-am-Don heran und die Luftangriffe häuften sich. Basjas Vater wurde, wie andere Männer auch, zur Arbeitsfront eingezogen. Und sie waren wieder unterwegs, mal in beheizten Güterwagen, mal in Viehwagen. Brüderchen Borja war elf Monate alt, er weinte. Benzion, Basjas älterer Bruder, war schwer krank, er saß regungslos und stumm da.

Der überfüllte Zug hielt an und alle Menschen rannten aus den Wagen. Auch Basja war hinausgestürmt, ohne ihre Mutter nach Erlaubnis zu fragen. Sie war es gewohnt, selbstständig zu sein. Plötzlich erschienen Flugzeuge am Himmel. „Das sind die Unseren, das sind die Unseren!“, dachte sich Basja und machte vor Freude Luftsprünge. Doch plötzlich hörte man Bombeneinschläge, Feuerstöße, Menschenschreie… Und dann verschwand alles. Vermutlich wurde Basja bewusstlos.

Irgendwann kam sie zu sich. „Soll ich aufstehen, oder doch nicht? Lebe ich überhaupt noch?“ Der ganze rechte Arm war blutüberströmt und schmerzte stark. Sie stand auf. Es waren keine Stimmen, kein Weinen, keine Schreie, kein Gestöhn zu hören – nichts. Eine schaurige Stille. Sie schlängelte sich durch zwischen toten Menschen, immer schneller, sie musste dorthin, wo ihre Mutter und ihre Brüder waren. Neben ihr lief eine hübsche junge Frau mit einem ausgerissenen Arm. In diesem Moment merkte Basja nicht, dass das ihre Cousine war und sprach sie nicht an. Sie sahen sich erst zweiundfünfzig Jahre später wieder.

Ihre Mutter und der kleine Borja lagen unweit voneinander und waren tot. Auf dem Gepäck saß Benzion und war genauso regungslos wie vorher. Auch er lebte nicht mehr.

Die siebenjährige Basja stand wie versteinert da. Sie hatte soeben ihre Mutter und ihre Geschwister verloren. Das war erst der Anfang. Weitere schwere Belastungsproben standen ihr bevor.

Sie gewöhnte sich an den allgegenwärtigen Geruch von Eiter, Blut und Tabak. Der Güterwagen, in dem sie untergebracht wurde, war voll mit Verwundeten. Sie stöhnten, schrien und fluchten vor unerträglichem Schmerz. Basja war verfroren und wickelte sich in den Mantel ihres Bruders ein. Sie weinte die ganze Zeit. Ihr Arm war geschwollen und schmerzte höllisch. Zudem verstand sie kein Wort Russisch, denn in Romanowka sprachen alle Jiddisch. Sie wird nie vergessen, wie die sterbenden Soldaten ihr immer wieder mit Tabakresten überschüttetes Trockenbrot gaben. Sie wollten ein verwaistes, hungriges und totunglückliches Kind unterstützen, wie sie nur konnten.

Eines Tages brachte jemand die geschwächte und ausgehungerte Basja zu einer Durchreiche, an der die Soldaten ihre Rationen erhielten. Dann geschah ein Wunder: auf der anderen Seite stand ihr Vater. Er war abgemagert und sonnenverbrannt. Tränen der Freude liefen ihm über die Wangen. Niemand verwies ihn des Raums, obwohl es nicht befugten Personen nicht gestattet war, sich auf dem Lazarettgelände aufzuhalten. Er übernachtete so lange auf dem Hof vor dem Krankenhaus, bis Basja entlassen wurde.

Wieder waren sie unterwegs mit dem Zug. Es gab wieder nichts zu essen. An einer Station rührte Basjas Vater einen Fladen ein und brachte ihn zum Heizraum, um ihn zu backen. Plötzlich fuhr der Zug los. Schmil rannte dem Zug hinterher, mit einem Pfännchen oder einem Topf in der Hand, und schrie wie wild. Im Zug war sein größter Schatz, das Einzige, was ihm geblieben war und warum es sich noch zu leben lohnte. Plötzlich wurde der Zug langsamer und kam kreischend zum Stehen. Es stellte sich heraus, dass man nur die Kupplung am Zug testen wollte. Oder war es eine erneute Belastungsprobe, die das Leben für uns parat hielt?

Es schien, als konnte nichts mehr Basja und ihren Vater auseinanderbringen. Doch eines Tages wurde Schmil zum Wehrersatzamt bestellt. Er sollte nach Taschkent gehen, um dort in einer Panzerfabrik zu arbeiten. Er versuchte zu erklären, er habe ein kleines Kind, das er nicht zurücklassen könne. Aber ihm wurde erwidert, dieser Job sei nur für Männer geeignet, man lebe in einer harten Kriegszeit und es sei der falsche Zeitpunkt, um emotional zu werden. Wenig später wurde Basja in einem Kinderheim untergebracht. Der Vater kam, um sich von seiner Tochter zu verabschieden. Die Erzieher ahnten nichts und brachten sie zu ihm. „Du kommst mit mir mit“, sagte der Vater in einem verschwörerischen Ton. Kurz darauf liefen sie wie Gauner davon. Im Zug machte Basja es sich auf einem Sack mit Trockenaprikosen bequem. Sie kratzte ein Loch heraus und kaute während der ganzen Fahrt an den leckeren Sonnenfrüchten. Sie war vollkommen glücklich. Sie fuhr nun nach Taschkent, gemeinsam mit ihrem Vater.

 

 


[1]Das Kuban-Gebiet ist eine Region im Nordkaukasus, heutiges Russland. Aufgrund ihrer großen landwirtschaftlichen Bedeutung galt die Region traditionell als eine der „Kornkammern Russlands“ (Anm. des Übersetzers).