Erinnerungen
Evakuierung und Flucht

Leningrader Blockade

Wolfljonok Boris

Geboren 1937 in Kirowograd, Ukraine. Lebte bis zu seiner Auswanderung nach Israel im Jahr 1990 in Smolensk, wo er als Ingenieur tätig war. Lebt in Kirjat Gat, hat zwei Kinder und vier Enkelkinder.

WIR BLEIBEN AN DEM ORT, AN DEM ES NICHT REGNET

Ich kann nicht sagen, wie viele Tage unsere Zugfahrt dauerte. Nur dunkel erinnere ich mich daran, dass wir mit einem Güterzug unterwegs waren. Wir bezeichneten unseren Wagen als „Kuhstall“, denn vor dem Krieg war dieser für Viehtransport genutzt worden. Während der Fahrt lagen wir auf einer Holzpritsche. Meine Oma gab uns Trockenbrot, das vorher im kochend heißen Wasser aufgeweicht worden war. Wir aßen diese Mahlzeit aus einem Einmachglas, das während unserer Flucht auf wundersame Weise nicht zerbrochen war. Heißes Wasser war ein kostbares Gut und wurde in Teekesseln transportiert. Einmal begleitete ich meinen älteren Bruder, als er sich bei einem Halt des Zuges auf den Weg zur Station machte, um heißes Wasser zu holen. Ab und an traf man an den Stationen Frauen, die Suppe aus Eimern verkauften. Das war eine große, wenn auch seltene Freude.

Nach dem Krieg erfuhr ich von den Erwachsenen, dass die Nazis unseren Zug am Anfang häufig unter Beschuss genommen hatten. Mir persönlich ist aus irgendeinem Grund nur eine Episode solcher Art in Erinnerung geblieben. Während eines abermaligen Luftangriffs lagen wir in einer Reihe auf dem Erdboden.

Permanent hörten wir Schüsse, die kaum voneinander zu unterscheiden waren. Mal waren es Maschinengewehre, die aus den Fliegern mit schwarzen Kreuzen auf den Tragflächen auf uns zielten, mal die sowjetische Flugabwehrartillerie, die uns vor ihnen zu beschützen versuchte. Meine Schwester wiederholte ununterbrochen: „Lass es regnen, bitte, lass es regnen!“ Vermutlich erinnere ich mich deshalb so gut daran, weil ich damals noch zu klein war, um zu begreifen, warum sich alle in diesem Moment sehnsüchtig den Regen wünschten.

Seltsamerweise ist mir in Erinnerung geblieben, wie wir mit unseren Habseligkeiten über die weitläufigen und dennoch menschenleeren Straßen einer Kleinstadt in der Oblast Saratow marschierten. Doch bis wir uns in diese Region vorgekämpft hatten, vergingen viele lange Wochen.

Im Juli 1941 wurden wir aus Kirowograd[1] evakuiert. Das rechte Wolgaufer erreichten wir erst Mitte September, nach der Deportierung der Wolgadeutschen. Dort wurde uns ein großes, leerstehendes Haus zugeteilt. In den Küchenregalen standen Säcke und Gläser voller Getreide. Anfangs trauten wir uns nicht, die Vorräte anzurühren: es hätte sein können, dass die Deutschen sie vor dem Verlassen des Hauses vergiftet hatten. Plötzlich hatte mein Bruder Sascha eine Idee: er vermischte das Getreide mit Mehl und Wasser, rollte daraus ein Bällchen und warf es einem zutraulichen Hund hin, der in der Nähe umherlief. Der Hund verschlang die Leckerei sofort und wedelte erwartungsvoll mit dem Schwanz, in der Hoffnung, Nachschlag zu bekommen.

Meine Mutter war in einem Sowchos tätig, mein Bruder arbeitete als Hirte, während meine Schwester zur Schule ging und ich mit meiner Oma zu Hause blieb. Doch dieses arbeitsintensive, aber dafür relativ friedliche Leben fand schon kurze Zeit später ein Ende. Schon bald tauchten auch hier immer öfter deutsche Flugzeuge am Horizont auf. Die Flieger mit den schwarzen Kreuzen auf den Tragflächen warfen Zündbomben ab. Um ihnen zu entkommen, brachte man uns mit einem Pferdewagen zur Anlegestelle in Dobrinka. Anschließend sollten wir per Schiff oder Fähre evakuiert werden. Meine Mutter war gerade dreißig Jahre alt geworden und der Kontrolleur auf dem Schiff wollte partout nicht glauben, dass der zwölfjährige Sascha ihr Sohn war. Glücklicherweise hatte meine Mutter alle Papiere dabei. Nichtsdestotrotz dauerte es lange, bis man die Verantwortlichen überzeugen konnte. Direkt hinter uns wurde das Fallreep eingeklappt und Oma Manja blieb ohne jegliche Dokumente am Ufer zurück. Einen Augenblick später rannte meine Mutter unter Tränen zum Kapitän, der ihr versprach, dass Oma baldmöglichst zu uns gebracht werden würde.

Und wieder begann ein Luftangriff. Unsere Familie blieb unversehrt, trotzdem war es ein furchtbares Erlebnis. Auf dem Schiff wurden viele Menschen getötet oder verletzt. Etwas weiter stromabwärts, am linken Ufer, gingen wir von Bord. Dort warteten wir etwa einen Tag lang auf unsere Oma, bis sie endlich eintraf. Überglücklich darüber, dass wir wieder vereint waren, stiegen wir abermals in einen Güterzug ein und brachen in östliche Richtung auf. Die Nächte wurden kühler, deshalb befand sich in unserem Wagen ein Kanonenofen, der mit Feuerholz beheizt wurde. Der Zug kam nur langsam voran, es war eng und kalt im Wagen, doch das machte uns nichts aus – am wichtigsten war, dass der Fliegeralarm stumm blieb.

Etwa eine Woche später hielt der Zug in Taschkent. Die Mehrheit der Flüchtlinge entschied sich, dort zu bleiben. Doch es war kalt und regnete ununterbrochen. Die Stiefel meines Bruders waren längst undicht und er hatte ständig nasse Füße. Er sagte: „Mama, wenn du willst, dass ich mich erkälte und sterbe, lass uns hier bleiben!“ Meine Mutter entschied, dass wir uns an einem Ort niederlassen sollten, an dem es nicht regnet. Wir warfen unsere Sachen zurück auf den Güterwagen und setzten unsere Reise fort.

In Kokand war es trocken. Bei der Flüchtlingsaufnahmestelle angekommen, schickte man uns umgehend in ein Dampfbad. Mir blieb in Erinnerung, dass sich in einem kleinen Badehaus gleichzeitig Frauen, mehrheitlich ältere Männer und Kinder auf engstem Raum wuschen.

Zunächst wurden wir im Stadtteil Achtipassaj untergebracht, im Frühling sind wir dann in die Engelsstraße 10 umgesiedelt worden. Dem Straßennamen nach zu urteilen, befand sich das Haus unweit vom Stadtzentrum entfernt. Das riesengroße Haus gehörte einem etwa sechzig Jahre alten Usbeken, der vier Ehefrauen hatte. Seine jüngste Frau war fünfzehn Jahre alt und damit jünger als viele auf dem Hof spielende Nachbarskinder. Ich freundete mich schnell mit dem gleichaltrigen Schamil an. Die Erwachsenen spannten ein Seil zwischen einem Quitten- und einem Maulbeerbaum – daraus entstand eine improvisierte Schaukel für uns.

Meine Mutter ging nach unserer Ankunft umgehend arbeiten – zuerst war sie in einem Lazarett und später in einer Militärhandelsorganisation tätig. Mein Bruder wurde an einer Musikschule, die Musiker für Militärblasorchester ausbildete, angenommen. Meine Schwester ging zur Schule und ich in den Kindergarten. Aus dieser Zeit blieb mir unter anderem ein riesiges Stalindenkmal vor dem Kindergartengebäude in Erinnerung.

Für unsere Familie verliefen die Flucht und die Zeit danach vergleichsweise glimpflich, doch leider ist es nicht allen so ergangen. Eines Tages sah meine Mutter in der Nähe des Marktes eine Gruppe auf dem Boden liegender, verwahrloster Menschen. Sie waren abgemagert und ihre Bäuche wegen Mangelernährung aufgebläht. Nachdem meine Mutter genauer hingeschaut hatte, erkannte sie ihre Landsleute, die Familie Prokopez. Sie waren zu viert: die Eltern Abram Efraimowitsch und Ida Israiljewna (beide Jahrgang 1889), Tochter Ljuba (Jahrgang 1922) und Sohn Fima (Jahrgang 1925). Meine Mutter heuerte umgehend einen in der Nähe herumlungernden Usbeken an und er unterstützte sie dabei, die völlig entkräfteten Menschen aufzurichten und ihnen zu helfen, auf einen Leiterwagen aufzusteigen. Meine Mutter ließ sie zu uns nach Hause bringen. Wir halfen ihnen, sich zu waschen und umzuziehen, schnitten ihnen die Haare und gaben ihnen vorsichtig etwas zu essen. Meine Mutter rannte zur Flüchtlingsaufnahmestelle und bestand darauf, dass den anderen völlig erschöpften Flüchtlingen, die sich in Marktnähe auf hielten, geholfen wurde. Als die Landsleute meiner Mutter etwas zu sich gekommen waren, erzählten sie, wie sie aus Kirowograd zunächst zu Fuß und den Bombenangriffen entkommend bis Nikopol marschiert waren. Anschließend waren sie mit Güterwagen unterwegs, bis sie in Machatschkala ankamen. Daraufhin wurden sie per Schiff über das Kaspische Meer nach Krasnowodsk gebracht. Den Weg nach Kokand mussten sie wieder zu Fuß zurücklegen. Familie Prokopez und viele andere Flüchtlinge wurden allein gelassen: sie waren ohne jegliche Unterstützung seitens der Behörden, ausgehungert und meist ohne Trinkwasservorräte unterwegs. Aus Kirowograd waren ursprünglich etwa siebenhundert Flüchtlinge aufgebrochen. Aus dieser großen Gruppe kamen nur vierzig bis fünfzig Personen in Kokand an. Alle anderen verloren durch Bombenangriffe, Hunger, Durst, Krankheiten und Läuse ihr Leben.

Von da an lebten wir zusammen mit den Prokopez wie eine große Familie. Durch ihren außergewöhnlichen Einfallsreichtum und die Autorität einer Ehefrau des Obersten Politoffiziers, der an der Front gekämpft hatte, gelang es meiner Mutter, die gerettete Familie mit Lebensmittelmarken zu versorgen. Schon nach wenigen Tagen beschaffte sie der neunzehnjährigen Ljuba und ihren Eltern eine Arbeit. Wenig später wurde Abram Efraimowitsch allerdings von der Diphtherie niedergerungen und starb, da man diese Krankheit damals noch nicht richtig zu behandeln wusste. Fima, der sechzehn Jahre alt war, nahm seine Schulausbildung wieder auf. Nach der neunten Klasse wurde er Schüler einer Artillerieschule. Als junger Leutnant wurde er in Österreich bei der Abwehr eines Panzerangriffs der Nazis verwundet und kann bis heute seinen Ellenbogen nicht beugen. Ljuba machte in Kokand einen Institutsabschluss. Heute leben Ljuba und Fima mit ihren Familien in Haifa und erinnern sich voller Dankbarkeit an meine Mutter.

Im April 1942 erhielten wir eine Todesbenachrichtigung für unseren Vater. Hinzu kam, dass zum Ende des Sommers meine kleine Schwester Tamara an Bauchtyphus erkrankte. Sie musste mehrere Wochen im Krankenhaus bleiben. Als sie wieder entlassen wurde und nach Hause kam, mied ich sie zunächst – etwas in mir weigerte sich, ein skelettähnliches, kahlrasiertes Mädchen als meine Schwester zu akzeptieren.

Im Sommer war es sehr heiß in Kokand und wir schliefen auf großen Betten direkt auf dem Hof. Eines Morgens räumte Ljuba Prokopez das Bett ab, steckte einen Arm in den Kissenbezug und wurde von einem Skorpion gestochen. Danach war sie noch sehr lange in Behandlung.

Auch meine Oma wurde von einer Krankheit heimgesucht. Sie bekam plötzlich heftige Magenkrämpfe. Nach einer Röntgenuntersuchung diagnostizierte man bei ihr ein Magengeschwür und riet ihr dringend zu einer Operation. Alle OP-Chirurgen waren allerdings entweder an der Front oder in Lazaretten. Dann empfahl eine gute Bekannte meiner Oma ein Hausmittel. Man soll vor dem Essen etwa dreißig Milliliter Reinigungsalkohol trinken und dazu ein Stückchen Butter essen. Beide „Arzneimittel“ waren schwer zu beschaffen, doch es war uns gelungen, sie zu organisieren. Erstaunlicherweise ließen die Schmerzen etwa zwei Wochen später nach. Meiner Oma hat diese Behandlungsmethode so gut gefallen, dass sie ihr Leben lang keine Gelegenheit mehr ausließ, diese anzuwenden. Bis zu ihrem Tod plagten sie keine größeren Beschwerden. Sie starb mit siebenundneunzig Jahren.

Oma wurde wieder gesund, doch das Unheil verfolgte sie weiterhin. Nachdem Kirowograd befreit worden war, erfuhren wir, dass es ihrer älteren Tochter Ljuba nicht gelungen war, die Stadt zu verlassen. Sie wurde am 30. September 1941 gemeinsam mit ihrer Schwiegermutter und vier Kindern sowie Tausenden von Juden von den Nazis ermordet. Man hat uns erzählt, dass meine zwölfjährige Cousine Fenja es schaffte, sich im Gebüsch, unter einem großen Klettenblatt zu verstecken. Doch eine Nachbarin zog sie an den Zöpfen aus ihrem Versteck und schubste sie zurück in die Menge, in den sicheren Tod, mit den Worten: „Da ist es, das dreckige Judenmädchen!“

Im Herbst 1943 brachte meine Mutter einen Mann auf zwei Krücken mit nach Hause. Das war Lew Moissejewitsch Reysin, der nach seiner zwölften (!) Verwundung endgültig aus dem Kriegsdienst entlassen worden war. Als er an die Front gegangen war, hatte er in Sluzk seine Frau, die wie meine Mutter Zilja hieß, und fünf Kinder zurückgelassen. Sie alle wurden im Sluzker Ghetto durch die Nazis verbrannt. Lew Moissejewitsch wurde unser Stiefvater.

Nach der Befreiung unserer Heimatstadt kehrten wir nach Kirowograd zurück. Unser Eigentum war geplündert worden. Unserer Vermieterin Tante Frosja war es nur gelungen, eine alte, wertvolle Zuckerdose samt Zange vor den Plünderern zu verstecken und im Garten zu vergraben…

 


[1]Kirowograd (heutiges Kropywnyzkyj) ist eine Kreisstadt in der Ukrainischen Sowjetrepublik (heutige Ukraine). Im Jahr 1939 lebten 14.631 Juden in Kirowograd, was 14,58% der Gesamtbevölkerung entsprach. Als die Einheiten der Wehrmacht die Stadt am 14. August 1941 besetzten, war die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung entweder bereits evakuiert oder in die Reihen der Roten Armee einberufen worden. Die über 5.000 Juden, die sich zu diesem Zeitpunkt in Kirowograd aufhielten, wurden zwischen August und September 1941 durch eine SS-Division unter aktiver Beteiligung der ukrainischen Hilfspolizei erschossen (Anm. der Redaktion).