Weiner Zilja
Geboren im Jahr 1902. Floh im Juli 1941 aus Sluzk, Weißrussland, nach Tschistopol, Tatarische Autonome Republik, heutiges Tatarstan, Russland. Verstarb im Jahr 1987, hinterließ vier Kinder, sieben Enkelkinder und sieben Urenkel.
ICH MAG MICH NICHT AN DIESE ZEIT ERINNERN
…meine Cousine Klara kam angerannt und stand bei uns auf dem Hof. Ihre Haare waren zerwühlt, ihre Augen rotgeweint.
„Zilja“, sagte sie, „hast du noch nicht gehört, dass die Deutschen im Anmarsch sind und bald in Sluzk sein werden?[1] Viele Einwohner haben die Stadt bereits verlassen. Man hat bereits angekündigt, dass eine organisierte Evakuierung der Bevölkerung durchgeführt wird… Brauchst du eine persönliche Einladung? Hast du nicht gehört, welch grausame Verbrechen die Faschisten verüben? Sie erschießen sowjetische Angestellte und alle Juden an Ort und Stelle!“
In diesem Moment saß ich am Tisch und war dabei, den Buchweizen zu verlesen. Bald war Mittagszeit und ich musste eine sechsköpfige Familie sattbekommen – meine vier Kinder, meinen Ehemann und mich. Und da kommt Klara mit ihrem seltsamen Anliegen… Ich sagte zu ihr: „Beruhige dich! Schrei nicht so rum! Ich fahre nirgendwo hin! Überlegdoch mal: Wer soll denn auf unser Haus aufpassen und auf all das, wofür wir mehrere Jahrzehnte gespart und gearbeitet haben? Und was soll aus unserem Vieh werden? Unsere Tiere werden verrecken… Ich habe mich schon für den 30.
Tsilya Yosifovna Weiner, Chistopol, Tatarische ASSR, 1946
Juni mit dem Schlachter verabredet. Du weißt doch selbst, wir haben unseren Eber ein ganzes Jahr lang gemästet, jetzt soll er geschlachtet werden. Nur durch das Geld, das wir durch den Ver-kauf einnehmen, kann ich wenigstens etwas für das Haus kaufen, Winterkleidung für die Kinder und Futter für Hühner und Enten. Was glaubst du, soll ich einfach alles stehen und liegen lassen? Nein, eine Flucht ist nichts für mich.“
Diese Worte erschreckten mich plötzlich. Ich schaute auf meine kleine Tochter Sofia, die vor kurzem zwölf Jahre alt geworden war. Sie spielte mit ihrem kleinen Bruder Mischa. Er war für seine Geschwister wie ein Spielzeug: Sofia war zehn, Ljowa zwölf und Iossif ganze vierzehn Jahre älter als er. Dann sagte ich zu Klara: „Sage mal, wozu diese Eile? Erst gestern waren wir beide bei meiner Schwester Rewekka und du hast nachdrücklich versucht, sie dazu zu überreden, von hier wegzufahren… Und was sagten sie und ihr Mann Jascha zu dir? Sie waren klar dagegen! Und das, obwohl sie ganze elf Kinder haben!“
Klara fing wieder von vorne an: „Zilja, meine Liebste! Ich wiederhole es dir noch einmal, die Deutschen sind im Anmarsch! Begreifst du das etwa nicht? Hörst du, ich werde ohne dich nicht fortgehen! Meine Kinder Hana und Borja warten am Bahnhof auf uns. Mein Mann Arkadij wurde zur Armee eingezogen. Mach dich fertig, Schwester, schneller… Unser Nachbar hat versprochen, uns mit dem Pferdewagen zur Station zu fahren.“ Kaum war sie fertig mit dem Satz, schon stürmten meine älteren Söhne ins Haus, gefolgt von meinem Mann. Er arbeitete als Träger am Bahnhof und war stets gut über alle Neuigkeiten informiert. Er rief mir zu: „Zilja, nimm Mischa und Sofia und ab zum Bahnhof! Man hat mir gesagt, dass sehr bald der letzte Güterzug abfahren werde. Danach wird es keine weiteren Züge geben. Klara, danke dir vielmals für deine Hilfe!“
Ich wusste nicht, was ich zuerst einpacken sollte. Die Kinder halfen, mein Mann drängte ununterbrochen. Ich fragte ihn: „Gawriil, für wie viele Tage fahren wir weg?“ – „Ich denke, für drei oder vier Tage, mehr nicht.“ – „Na, dann werde ich nicht so viel mitnehmen.“
Ich zog mir eine Jacke über. Dann zog ich meine jüngeren Kinder an. Ich packte Sommerkleidung und etwas zum Essen vom Tisch ein und wir gingen aus dem Haus. In der Zwischenzeit kam der Pferdewagen. Klara half mir und Sofia, im Wagen Platz zu nehmen und stieg dann selbst ein. Gawriil umarmte Mischa, presste ihn an seine Brust und küsste ihn, als ob er wusste, dass er ihn nie wieder sehen würde. So ist es auch gekommen. Im Krieg ist er erblindet und konnte danach weder seinen Sohn noch sonst jemanden sehen.
Die älteren Söhne blieben zunächst bei ihrem Vater, um das Vieh zu füttern und die Fensterläden zu verschließen. Wir vereinbarten, dass wir am Bahnhof auf sie warten und dass sie sich beeilen würden. Am Bahnhof sahen wir erregte Menschenmassen. Alle rannten irgendwo hin, schrien durcheinander und suchten ihre Verwandten. Viele schleppten riesige, eilig zusammengepackte Bündel mit eigenem Hab und Gut. Klara hatte es geradeso geschafft, ihre eigenen Kinder auf der Tragfläche des letzten Flachwagens zu finden.
Ich suchte in der Menge meinen Mann und meine Söhne. Klara drängte darauf, auf dem Wagen Platz zu nehmen, solange es möglich war. Auch der Zugführer und die Soldaten forderten alle auf, schnellstmöglich einzusteigen, denn aus der Stadt waren bereits Granateneinschläge und Feuerstöße zu hören. Dann hörten wir die Auspuffschläge der Dampflok – einmal, zweimal, dreimal… Der Zug setzte sich in Bewegung. Klara sah, dass ich zögerte, riss mir Mischa aus der Hand und übergab ihn an ihre Tochter Hana, die auf dem Wagen saß. Sie packte Sofia an der Hand und setzte auch sie in den anfahrenden Zug. Dann rief sie zu mir: „Zilja!!! Spring auf! Los, gib mir deine Hand!“
Ich hatte keine Wahl: der Zug nahm Geschwindigkeit auf. Ich kletterte auf den Wagen. Im nächsten Moment bekam ich einen Nervenzusammenbruch. Das erschreckte meine Kinder zu Tode und auch sie fingen an zu weinen. Der Kleine wusste nicht, was geschehen war und heulte bitterlich. Klara weinte ebenfalls, versuchte aber mit aller Kraft, ihren kleinen Bruder zu beruhigen. Sie umarmte ihn, streichelte und küsste seinen kleinen Kopf… Dann fand sie einen Bonbon in der Tasche. Mischa lutschte den Bonbon und beruhigte sich allmählich.
Erst nach Kriegsende erfuhr ich, dass Gawriil und meine Jungs zu spät am Bahnhof angekommen waren. Sie rannten dem Zug hinterher, schafften es aber nicht, aufzuspringen. Während des gesamten Krieges wussten wir überhaupt nichts voneinander.
Ich erinnere mich an unseren Halt in Minsk. Alle Flüchtlinge liefen zum Bahnhofsgebäude, um Wasser zu holen. Wir aber hatten kein Behältnis dabei. Gott sei Dank hatten wir wenigstens Lebensmittel mitgenommen; das Essen reichte allerdings nur für zwei Tage. Dann sah ich, wie eine Frau einen kleinen Soldatenkochtopf in der Hand hielt. Ich rannte zu ihr und flehte sie an, uns den Topf zu verkaufen. Ich sagte ihr, dass meine Kinder verdursteten und sie erklärte sich bereit, den Kochtopf gegen meine Jacke einzutauschen. Ich gab ihr meine Jacke, schnappte mir den Topf, holte Wasser und verpasste dabei um ein Haar die Abfahrt des Zuges…
Wir näherten uns Witebsk, als wir Flugzeuge hörten. Es waren vier an der Zahl. Sie flogen tief und die Hakenkreuze auf ihren Tragflächen waren deutlich zu erkennen. Der Zug bremste scharf… Aus den Bäuchen der Flugzeuge fielen unzählige Bomben. Unmengen an Erde wurden in die Luft geschleudert. Alles um uns herum dröhnte und bebte. Schreiende Menschen rannten davon, einige wurden von Bomben getroffen und fielen zu Boden. Dann erfasste eine Stoßwelle Mischa, er fiel aus dem Wagen, kam mit dem Kopf gegen das Wagenrad und verlor das Bewusstsein. Ich fiel auf die Knie. Sofia versteckte sich unter dem Wagen und kauerte sich entsetzt zusammen. Ich erinnerte mich später, dass ich meine Fäuste in die Höhe riss und den Gott im Himmel anschrie: „Ich glaube nicht mehr an dich! Du existierst nicht! Du bist für mich gestorben!“ Dann wurde es schlagartig still. Ein Militärarzt eilte zu mir. Ich war völlig durcheinander und hatte es nicht begriffen, deshalb wollte ich den Arzt nicht zu meinem Sohn durchlassen. „Junge Frau, beruhigen Sie sich! Ihr Junge lebt! Er hat wegen eines schweren Stoßes sein Bewusstsein verloren, vielleicht hat er eine Gehirnerschütterung. Aber Hauptsache, er lebt!“, rief mir der Arzt laut zu. Dann hatte ich es endlich begriffen. Der Arzt beugte sich vor und fing an, den Jungen zu behandeln. Mischa kam zu sich und fing an zu weinen. Er hielt sich mit seinen kleinen Händen den Kopf und wiederholte immer wieder: „Mama, mein Kopf tut weh, mein Kopf tut weh!“ Er fing an, sich heftig zu übergeben, offensichtlich hatte er eine Gehirnerschütterung. Noch sein ganzes Leben lang plagten ihn starke Kopfschmerzen, manchmal hätte er vor Schmerz die Wände hochklettern können.
Familie Weiner, Baku, 1957
Der Arzt gab uns Schmerztabletten und erklärte mir, wie man sie einnehmen und wie ich mich dem Kind gegenüber verhalten sollte. Dann hörten wir die Stimme des Zugführers, der alle Überlebenden darum bat, Plätze im Zug einzunehmen. Es verging etwas Zeit, bis ich an Klara und ihre Kinder – den achtjährigen Borja und die dreizehnjährige Hana – dachte. Nachdem der Zug losgefahren war, begriff ich, dass ich sie nicht sah… Erst später erfuhr ich die Wahrheit: als Tote nach dem Bombenangriff geborgen wurden, waren auch Klara und Hana darunter. Klaras Sohn Borja ging bei dem Chaos während und nach dem Bombenangriff verloren. Alle unbegleiteten Kinder, deren Eltern umgekommen waren, wurden in Kinderheimen untergebracht.
Unser Zug war mehrere Wochen unterwegs. Die Menschen verwandelten sich in lebende Skelette. Es gab nichts zu essen. Das Schlimmste für mich waren aber die Gedanken an meinen Ehemann, meine beiden Jungs, an Klara und den kleinen Borja. Diese Gedanken verfolgten mich ständig.
Endlich kamen wir in Kasan an. Dort wurden wir vorübergehend in einem Schulgebäude untergebracht. Wenig später folgte die Übersiedlung nach Tschistopol, eine kleine Kreisstadt. Dort fand ich Arbeit in einer Nähfabrik, die Armeeuniformen her stellte. Mischa ging in den Kindergarten und Sofia in die Schule. Wegen des Hungers erkrankte sie an Tuberkulose der Atmungsorgane. Ihr wurde eine zusätzliche Lebensmittelration verordnet– ein Glas Milch und hundertfünfzig Gramm Brot pro Tag. Doch sie ließ keine Mittel unversucht, um diese Schätze an ihren kleinen Bruder weiterzugeben. Dabei wurde Mischa von allen geliebt und verwöhnt, so dass er nicht hungern musste. Als ich zufällig erfuhr, dass meine schwer kranke Tochter die Ration an ihren Bruder abgab, war ich außer mir vor Wut. Ihr Zustand wurde kritisch. Wir waren gezwungen, sie in ein Sanatorium zu schicken. Dort wurde ihr Leben gerettet.
Ich erinnere mich nicht gerne an diese Jahre, an das Elend und die Strapazen der Evakuierung. Doch das schlimmste ist unseren Verwandten passiert, die nicht geflohen waren. Meine Schwester Rewekka, ihre elf Kinder und ihr Ehemann wurden bei lebendigem Leib verbrannt, so wie alle anderen Juden…
Was unsere Familie angeht, wurde mein Ehemann Gawriil an der Front verwundet und verlor beide Augen. Als einem Schwerkriegsbeschädigten wurde ihm der höchste Behinderungsgrad zuerkannt. Mein ältester Sohn Iossif kämpfte von seinem sechzehnten Lebensjahr an im Krieg und wurde verwundet. Nach dem Krieg kehrte er zurück nach Sluzk, in der Hoffnung, uns zu finden. Als er an den Ruinen unseres Hauses stand, kam zufällig seine Tante Sonja vorbei. Sie erzählte ihm, dass wir in Baku lebten.
Mein jüngerer Sohn Ljowa wurde als Minderjähriger zunächst in einem Kinderheim untergebracht. Er machte eine Lehre an einer Handwerkerschule und arbeitete wie die meisten Kinder der Kriegszeit in einer Fabrik. Dann wurde er zur Armee eingezogen… Im Jahr 1947 versammelte sich unsere Familie in Baku, wo der ältere Bruder meines Mannes lebte. Wie durch ein Wunder hat unsere Familie diesen Krieg überlebt.
Die Erinnerungen schrieb die Schwiegertochter der Autorin, Irina Weiner, auf.
[1] Sluzk ist eine Stadt in der Oblast Minsk der Weißrussischen Sowjetrepublik, heutiges Weißrussland. Im Jahr 1939 lebten in Sluzk 7.392 Juden. Die Stadt wurde von der Wehrmacht am 26. Juni 1941 eingenommen. Die Zahl der Juden, die fliehen konnten, war gering. Vom 26. Juni 1941 bis zum 8.-9. Februar 1943 wurde die gesamte jüdische Bevölkerung Sluzks durch die Wehrmacht sowie litauische und lettische Kollaborateure ermordet (Anm. der Redaktion).