Erinnerungen
Evakuierung und Flucht

Leningrader Blockade

Lewina Musja

MINSK, REVOLUTIONSSTRASSE 3

Ich wurde im Schtetl Schazk, Oblast Minsk, geboren. Mein Vater arbeitete als Schmied, meine Mutter war Hausfrau, wie fast alle Frauen zur damaligen Zeit. Auf ihren Schultern lastete eine ganze Reihe von Verpflichtungen und Aufgaben, die im Haushalt zu erledigen waren, denn meine Eltern hatten acht Kinder. Ich war ihre jüngste Tochter.

Ich besuchte die Schule Nummer 7 – eine jüdische Vorzeigeschule in Minsk. Die Lehrer an unserer Schule waren exzellent qualifiziert, und die Schülerschaft setzte sich zusammen aus den besten Schülern der Stadt. Unsere Lehrer brachten uns einen freundschaftlichen und liebenswürdigen Umgang miteinander bei. Wenn wir uns viele Jahre später begegneten, standen wir uns immer noch sehr nah. In der Schule fand der gesamte Unterricht auf Jiddisch statt, wie an allen anderen jüdischen Bildungseinrichtungen. Hebräisch galt damals als eine bürgerliche und reaktionäre Sprache. Auch im Alltag redeten die Juden Jiddisch miteinander.

Weißrussisch und Russisch wurden in der Schule als Fremdsprachen unterrichtet, deshalb fiel mir das Lernen an der Berufsschule nach meinem Abschluss sehr schwer.

Besonders Naturwissenschaften und Mathematik machten mir zu schaffen. Die russischen Begrifflichkeiten waren kompliziert und ungewohnt für mich. Beispielsweise gibt es zwischen dem in der Geometrie häufig verwendeten Wort „Winkel“ (das auf Jiddisch fast genauso heißt) und dem russischen Wort „ugol“ keine Ähnlichkeit. Und solche Termini gab es in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern zur Genüge. Wenn der Lehrer eine Frage stellte oder ich einzelne Begriffe oder Wörter schreiben musste, blieb mir nichts anderes übrig, als alles schnell im Kopf zu übersetzen, um die Frage zu beantworten oder eine Aufgabe an der Tafel zu lösen. Dadurch habe ich einige schlechte Noten in Russisch, Mathematik und anderen Fächern bekommen. Ich musste ja in einer Sprache denken und in einer anderen antworten. Auweia, das ist mir wirklich schwer gefallen! Ich wollte die ganze Zeit meine Muttersprache sprechen, die Sprache, in der ich permanent gedacht habe. Zu Hause, in Schazk, habe ich stets Jiddisch gesprochen und in Minsk musste ich situativ entscheiden, mit wem ich mich auf Jiddisch unterhalten konnte und mit wem ich Russisch sprechen musste.

Während des Krieges kämpften alle meine Brüder an der Front. Einer von ihnen tat sich bereits am 8. August 1941 im Kampf hervor und wurde mit dem Rotbannerorden ausgezeichnet. Später erhielt er auch die Medaille „Für die Verteidigung Moskaus“. Ich habe bis heute das Foto aufbewahrt, auf dem mein Bruder ausgezeichnet wird – von Michail Kalinin, dem Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets, der im Volksmund als Allunions-Ältester bezeichnet wurde. Meine anderen drei Brüder wurden ebenfalls ausgezeichnet. Nur einer von ihnen überlebte den Krieg.

Nach einer siebenjährigen Schulausbildung ging ich im Jahr 1934 an eine Berufsschule für Telekommunikation. Nach dem Abschluss im Jahr 1938 wurde ich in den Fernen Osten, in die Oblast Amur, entsandt. Der Bedarf an Experten für Telekommunikation war damals groß. Bildungseinrichtungen für Telekommunikation aus allen Ecken der Sowjetunion beorderten ihre Absolventen nach Fernost: dort wurde eine Telefonund Fernschreiberleitung zwischen Chabarowsk und Moskau in Betrieb genommen. Nach dem ich dort ein Jahr lang gearbeitet hatte, kehrte ich nach Minsk zurück. Dort war ich bis zum Kriegsbeginn als Funktechnikerin beim Rundfunkkomitee der Weißrussischen Sowjetrepublik tätig.

Am 22. Juni 1941 ging ich frühmorgens zur Arbeit. Unsere Radioübertragung begann um sechs Uhr. Ich lebte in der Ostrowskistraße, das war nicht weit von meinem Arbeitsplatz entfernt: ich musste nur zwei Durchgangshöfe passieren. Dann überquerte ich die Nemigastraße und ging die Komsomolzenstraße entlang, bis ich die Revolutionsstraße 3 erreichte, wo unser Rundfunkkomitee sein Büro hatte. Daneben befand sich die Zentrale der Luftverteidigungsstreitkräfte, wo sich an diesem Tag große Menschenmengen versammelt hatten…

Ich hatte täglich den gleichen Weg zur Arbeit, doch nie hatte ich so viele Leute dort gesehen. Darunter waren zahlreiche Offiziere, und obwohl die meisten in Zivil gekleidet waren, konnten sie ihre aufrechte, militärische Körperhaltung nicht verstecken. Fast alle zogen sie nervös an ihren Zigaretten und unterhielten sich erregt miteinander. Wenn einer der seltenen Passanten vorbeiging, unterbrachen sie ihre Gespräche. Diese Menschen hatten alle Informationen stets vertraulich zu behandeln, denn trotz der Ernsthaftigkeit der Lage mussten sie damals ständig um ihr Leben fürchten. Dadurch legten einige eine oft übermäßige Geheimhaltung an den Tag und warteten bis zum Schluss auf ein deutliches Signal von oben, um etwas preiszugeben.

Ich ging nun zur Arbeit, vorbei an diesen mürrisch und misstrauisch dreinschauenden Männern. Beim Rundfunkkomitee erhielt ich eine ungewöhnliche Anweisung: ich sollte das Tonstudio auf die Übertragung vorbereiten und warten. Man sagte zu mir: „Wir warten auf wichtige Nachrichten aus Moskau. Mit eigenem Programm gehen wir vorerst nicht auf Sendung.“

So begann für mich der Morgen des ersten Kriegstages. Meine Kollegen und ich waren am Arbeitsplatz, ohne zu wissen und zu verstehen, was gerade passierte und was diese ungewöhnliche Situation verursacht hatte. Wir, die Rundfunkmitarbeiter, erfuhren sonst immer als erste von allen Geschehnissen, aber diesmal wurden alle Informationen auch uns gegenüber geheim gehalten. Erst deutlich später, um zwölf Uhr mittags, wurde eine Sendung des Moskauer Radios übertragen.

Der Außenminister der Sowjetunion Wjatscheslaw Molotow trat auf. Aus dieser Rede erfuhren wir von der Hinterhältigkeit Nazi-Deutschlands, das feige, ohne den Krieg zu erklären, die Sowjetunion angegriffen hatte. Anschließend verlas der Moskauer Rundfunksprecher Juri Lewitan die verhängnisvolle Nachricht.

…so begann der Krieg. Die Front rückte immer näher an Minsk heran. Am zweiten Tag begannen Massenbombardements. Wir begaben uns in den Keller des Funkkomiteegebäudes. Dort befand sich Ersatztechnik, die für Übertragung im Notfall bestimmt war. Am Arbeitsplatz, im selben Keller, haben wir dann übernachtet; die ganze Nacht warteten wir auf Anweisungen und Sonderbefehle. Ohne Erlaubnis durften wir nicht auf Sendung gehen.

Ich nahm ein langes Telefonkabel aus unserem Tonstudio mit in den Keller, damit wir mit dem Vorsitzenden des Rundfunkkomitees und der Parteiführung in Kontakt bleiben konnten, aber Anweisungen gab es keine.

Meine Vorgesetzten, zuständig für die Kommunikation und die Übertragung des Signals aus dem Tonstudio auf die Sendegeräte, waren in Kolodischtschi, einer kleinen Ortschaft außerhalb von Minsk, stationiert. Dort befand sich eine leistungsstarke Funkzentrale – unsere Sendegeräte und Antennen, die dafür gesorgt hatten, dass das weißrussische Radio auf Sendung gehen konnte.

Wie bereits erwähnt, wurde Minsk am zweiten Kriegstag heftig bombardiert. Ich hatte es geschafft, telefonisch den Schichtleiter und die Techniker der Funkzentrale zu erreichen. Ich fragte sie: „Was sollen wir tun?“ Der Schichtleiter sagte zu mir: „Musja, du musst dringend Minsk verlassen. Unsere Armee ist auf dem Rückzug und möglicherweise werden die Deutschen sehr bald in die Stadt einmarschieren.“

Diesem Mann, an dessen Namen ich mich nicht erinnere, habe ich mein Leben, die Rettung meiner Schwester und meiner kleinen Nichten zu verdanken. Wer konnte damals schon wissen, wie lange sich unsere Armee vor dem rasanten Vormarsch der Wehrmachtseinheiten zurückziehen würde? Konnten wir überhaupt ahnen, dass wir Minsk für lange Jahre des Exils verlassen und dabei unsere Verwandten für immer verlieren würden? Wir wurden alle verraten, denn es war ein Verbrechen seitens der Behörden, uns die reale, tödliche Gefahr zu verheimlichen und uns so dem Feind zum Fraß vorzuwerfen. Sie waren als erste geflohen, sie haben uns im Stich gelassen.

Niemand gab uns Anweisungen, was mit dem nationalen Rundfunk geschehen sollte. Wir waren gezwungen, alles zurückzulassen – den Regieraum, das Tonstudio und die ganze Technik. Ohne Befehl hätte das alles nicht gesprengt werden dürfen. Zudem war niemand mehr da, der die Sprengung hätte organisieren können. Nachdem Minsk eingenommen worden war,[1] ging unser weißrussisches Radio sofort wieder auf Sendung, nur sendete es von nun an auf Deutsch. Aus unserem Rundfunkstudio in der Revolutionsstraße 3 sendeten die Deutschen, zusammen mit „unseren“ Einheimischen, den Kollaborateuren.

Ich sprach mit meinen Kollegen und dem Sprecher Wladimir Jurewitsch, der immer noch darauf wartete, auf Sendung zu gehen, über mein Gespräch mit der Funkstation in Kolodischtschi, über die aktuelle Lage und darüber, dass wir keine Vorgesetzten mehr hatten. Ich erzählte ihm davon, welchen Rat mir der Kollege aus Kolodischtschi gegeben hatte. Wladimir Jurewitsch hatte mich sofort verstanden und rannte nach Hause, um seine Sachen zu packen. Ich ging zu meiner Schwester Riwa und überzeugte sie, mit mir zusammen die Stadt zu verlassen. Sie war schwanger und hatte eine drei Jahre alte Tochter, Shanna. Der Ehemann meiner Schwester schloss sich uns an. Lange Zeit marschierten wir ostwärts, über die Ortschaften Smilowitschi und Tscherwen in Richtung Mogiljow. Über uns sahen wir tief fliegende deutsche Kampfflugzeuge. Sie beschossen und bombardierten die Flüchtlinge. Was sie anrichteten, war schrecklich. Überall, wohin man nur schaute, sah man Tote, Verwundete, menschliches Leid und ein Meer von Tränen. Das war ein reiner Albtraum.

Beschämenderweise floh die weißrussische Parteiführung unter der Leitung von Pantelejmon Ponomarenko[2], ohne die Evakuierung der Bevölkerung zu organisieren. Auch für personellen Nachschub für die Streitkräfte, deren Verluste bei den ersten Kampfhandlungen niederschmetternd waren, wurde nicht gesorgt.

Die Informationen über das rasante Vordringen der deut schen Einheiten wurden unter dem Vorwand eines möglichen Panikausbruchs für streng geheim erklärt. Die Einwohner der Großstädte schafften es nicht, sich zu organisieren und in die ländlichen Gebiete, wo die Chancen zu überleben höher waren, zu fliehen. Viele Flüchtlinge marschierten auf gut Glück los, ohne eine sichere Route zu kennen.

Die Menschen waren berauscht von der Propaganda, die vor dem Krieg hartnäckig behauptet hatte, es würde keinen Krieg geben, und wenn es einen geben sollte, dann einen siegreichen Krieg auf fremdem Gebiet. Deshalb glaubten viele bis zuletzt naiv daran, dass die Kampfhandlungen nach ein oder zwei Tagen ein siegreiches Ende finden würden. Nur wenige Flüchtlinge zogen deshalb zu ihren Verwandten aufs Land.

Einige Bewohner Minsks, die ursprünglich aus meinem Geburtsort Schazk kamen, kehrten nach Hause zurück. Sie dachten, sie wären dort sicher: in Schazk gab es weder Kasernen noch industrielle oder strategisch wichtige Anlagen, nur einen Betrieb mit der einen oder anderen Werkstatt – das war eben ein ganz normales Schtetl… Im Gegensatz zu Minsk gab es in Schazk kein Ghetto. Die Juden wurden unter dem Vorwand eines Arbeitseinsatzes versammelt. Alle wurden so aus ihren Häusern gelockt und anschließend erschossen. So wurde mein Vater ermordet, so starben zwei Schwestern von mir, eine von ihnen war verheiratet und hatte drei Kinder. Sie alle sind umgekommen…

Wir flohen nach Mogiljow über Smilowitschi und Tscherwen, dazu hatten uns Leute aus der Funkzentrale geraten. Viele wussten nicht einmal, in welche Richtung sie aus der brennenden Stadt fliehen sollten. Wertvolle Zeit ging verloren. Tausende spontan fliehender Menschen wurden unterwegs von Bomben und Kugeln getötet. Unzählige Tote und Verwundete lagen am Straßenrand oder in den Wäldern.

Wir gingen der ersten Flüchtlingswelle hinterher. So schafften wir es, der deutschen Armee erst einmal zu entkommen. Kurz nachdem wir die Straße in Richtung Osten passiert hatten, wurde sie von den deutschen Fallschirmjägern abgeschnitten und die Flüchtlinge mussten unter Androhung von Erschießung in die niederbrennende und bereits von den Deutschen besetzte Stadt Minsk zurückkehren.

Doch vorher stürmte die Zivilbevölkerung verzweifelt die letzten, verspäteten Züge, die vollkommen überfüllt waren und aus zusammengewürfelten Waggons bestanden. Nur die wenigen, die es geschafft hatten, auf diese Züge aufzuspringen, hatten den Hauch einer Chance sich zu retten und zu überleben. Dennoch ging das Sterben weiter, auch als die Züge schon unterwegs waren: Menschen starben durch fortdauernde Beschüsse und Bombenangriffe.

Ausgehungert marschierten wir eine Landstraße entlang, als wir an einem Dorf vorbei kamen. Wir baten eine Frau, uns etwas Kartoffeln zu kochen. Sie fragte uns: „Was zahlt ihr?“

Wir sagten ihr, dass wir überhaupt nichts hatten. Was hätten wir tun sollen? Wir hatten buchstäblich nicht mehr als ein Hemd, das wir auf dem Leib trugen. Überhaupt nichts. Die Hausherrin winkte verärgert ab, kochte dann aber doch Kartoffeln für uns. Kaum griffen wir zum Kochtopf, um nach den heißen Kartoffeln zu greifen, begann erneut ein Bombenangriff… Wir vergaßen alles in der Welt und rannten wie verrückt los.

Ich, meine Schwester, ihr Mann und ihre dreijährige Tochter Shanna schafften es mit knapper Not nach Mogiljow. Der Mann meiner Schwester ging zum Wehrersatzamt und wurde sofort eingezogen. Wir schafften es nach mehreren erfolglosen Versuchen, uns in einen vollkommen überfüllten Zugwagen zu quetschen. Kreischend setzte sich der Zug in Bewegung und fuhr los, hin und wieder beunruhigende Pfiffe und Hupsignale von sich gebend. Der Zug kam nur einmal in der Nähe von Tambow kurz ins Stocken, beschleunigte dann aber wieder und fuhr weiter in östliche Richtung.

Einige Zeit später setzten bei meiner Schwester Wehen ein, und das in einem überfüllten Zug. Das waren die unpassendste Zeit und der unpassendste Ort dafür. Der Zug war dermaßen voll mit Menschen, dass es keine Gelegenheit gab, während eines Halts zur Tür zu gelangen. Die Menschen ließen einander nicht durch aus Angst, auf dem Bahnsteig zu landen und ihren Platz im Zug zu verlieren. Unsere Schreie und Überredenskünste nützten nichts. Die Lage war aussichtslos, aber zu unserem Glück fand sich im Wagen ein entschlossener, wenn auch labiler Offizier. Er war aufgrund einer schweren Verwundung, die er bei einem der ersten Kämpfe in Grenznähe erlitten hatte, ins Hinterland geschickt worden. Er war im Kampf erblindet. Sein Gesicht war durch eine Explosion entstellt worden, aber ohne etwas um ihn herum zu sehen, konnte er alles hören und sich in unsere schwere Lage hineinversetzen. Er zog seine Dienstwaffe und fing an, schreiend in die Wagendecke zu schießen. Völlige Stille kehrte ein. Dann sagte er bestimmt, dass er jeden erschießen würde, der mich und meine Schwester daran hinderte auszusteigen. Unwillig und fluchend machten die Menschen den Weg frei und gaben uns die Möglichkeit, den Zug zu verlassen. Der Zug fuhr weiter und wir machten uns auf die Suche nach dem nächsten Krankenhaus, wo meine Schwester entbinden könnte.

Wir waren schon in Russland – in der kleinen Stadt Rtischtschew. Das Krankenhaus mussten wir nicht lange suchen, es war in Bahnhofsnähe. Dort kam unsere kleine Bella zur Welt. Hätte es diesen Offizier nicht gegeben, hätte ich womöglich sie und meine Schwester verloren. Die Geburt verlief gut und bald hielten wir ein winziges, eingewickeltes Baby in den Händen.

In der nächsten größeren Stadt, in Pensa, lebte ich mit meiner Schwester und ihren zwei Kindern praktisch während des gesamten Krieges, bis zur Befreiung meines heimatlichen Minsk. Mein Beruf war gefragt und so wurde ich beim örtlichen Funkkomitee eingestellt. Es herrschten ungezwungene Arbeitsverhältnisse und ich konnte als Rundfunkexpertin schalten und walten wie ich wollte. Wir wurden geschätzt und unsere Meinung wurde stets berücksichtigt: man wusste, dass wir Profis waren, die überall gebraucht wurden. Natürlich gab es im Regieraum weniger Technik als in Minsk und sie war qualitativ schlechter. Der Raum war eng und die Fenster gingen zu einem kleinen Hinterhof raus. Die Technik basierte auf Rundfunkröhren, die sich im Betrieb stark erhitzten, wobei nicht einmal die permanent eingeschalteten Ventilatoren eine Rettung mit sich brachten. Es war immer heiß in diesem kleinen Raum, so dass sogar im Winter die Fenster immer offen standen.

Wir übertrugen Radiosendungen in russischer Sprache, wobei wir oft nicht wussten, aus welcher Stadt gesendet wurde – aus Moskau, Kuibyschew oder von einer anderen Funkstation. Anders als in Minsk musste ich selbst die Inhalte der gesendeten Berichte kontrollieren. Wir hatten keine Redakteure, eigene Sendungen oder permanente Informationsquellen. Für uns war eine bestimmte Zeit auf Sendung vorgesehen, wobei es streng festgelegt war, bis wann wir senden, wann eine Pause einlegen und wann wieder auf Sendung gehen sollten.

Einmal lauschte ich während einer Sendepause heimlich anderen Radiostationen. Zufällig hörte ich die Stimme von Wolodja Jurewitsch, dem Sprecher unseres weißrussischen Rundfunks. Ich hatte vor dem Krieg mehrere Jahre mit ihm zusammengearbeitet, deshalb hatte ich seine Stimme gut in Erinnerung und erkannte sie sofort. Wie ich mich in diesem Moment gefreut habe! Er arbeitete in Moskau bei der Radiostation „Sowjetisches Weißrussland“, die für die besetzten Gebiete sendete. Irgendwo dort, zu Hause, in meinem geliebten Weißrussland saßen Untergrundkämpfer und Partisanen, die ihm zuhörten. Wir schrieben Ende 1943.

Minsk wurde am 3. Juli 1944 befreit. Was war das für eine Riesenfreude für alle von uns! Man kann sich das heute gar nicht ausmalen, wie sehr ich, meine Schwester und ihre Kinder uns danach gesehnt haben, wieder nach Minsk zurückzukehren. Ich habe ständig nachts davon geträumt.

Als ich dann nach Hause kam, sah ich, dass die Stadt vollkommen zerstört war. Kurz vor der Befreiung war Minsk erneut bombardiert worden – entweder von der deutschen Luftwaffe oder von der sowjetischen. Die Züge nach Minsk konnten nicht bis zum Bahnhof durchfahren: sie hielten in einem Vorort und ich musste zu Fuß in die Innenstadt laufen. Anstelle von Häusern lagen Ruinen, und so wusste ich oft nicht einmal, in welchem Teil der Stadt ich mich befand. Es waren nicht einmal Häuser, sondern kistenförmige Überreste von Gebäuden. An den Wänden standen Namen:

„Wanja… Tanja…“ und viele, viele andere Vorund Nachnamen von Menschen, die früher in diesen Häusern gelebt hatten. „Meine Mutter ist tot…“, „Er liegt verwundet im Krankenhaus…“ Anhand dieser briefartigen Schriftzüge konnte man die Schicksale derer nachvollziehen, welche die Belagerung überlebt hatten, und nun versuchten, ihre zurückkehrenden Verwandten zu finden. Der Anblick von zerstörten Gebäuden und diesen Schriftzügen an den Hauswänden war unerträglich. Ich konnte mir nun ausmalen, welche Szenen sich hier erst kürzlich abgespielt haben mussten.

ber die Möglichkeit, nach Minsk zurückzukehren, hatte ich von einer Bekannten von mir erfahren. Ihr Ehemann, der Buchto mit Nachnamen hieß, hatte vor dem Krieg beim Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Weißrusslands gearbeitet. Er schickte ein Telegramm – und schon hatte man für sie einen ganzen Eisenbahnwagen zur Verfügung gestellt, damit sie mit ihren zwei Kindern nach Minsk zurückkehren konnte. Ich durfte mitfahren, zusammen mit mehreren anderen Familien und einem Arzt. Das war ein Riesenprivileg. So groß waren eben die Möglichkeiten der Machthabenden, selbst in der Zeit der schrecklichen Zerstörung und des fortdauernden Krieges…

Dank dieses Telegramms konnte unser Wagen an alle möglichen in westliche Richtung fahrenden Züge angekuppelt werden. Die Frau des Parteifunktionärs hatte einiges an Sachen und auch viele Lebensmittel dabei, denn in Pensa arbeitete sie in einer Kantine, wo sie stets legal oder illegal an Proviant kam. Außer Lebensmitteln hatte sie auch Kisten dabei. Auch andere, die in unserem Wagen mitfuhren, hatten Gepäck mit, nur ich hatte nichts dabei. Aus meinem Kissenbezug schüttelte ich Heu, mit dem er gefüllt war, aus und stopfte dort mein Hab und Gut hinein, etwas Kleidung und Unterwäsche. Alle stiegen in den Wagen ein und begannen sich dort einzurichten. Nur ich stand da und wartete.

„Was ist mit dir, warum steigst du nicht ein?“, fragte mich meine Bekannte. „Ich werde schon einsteigen, ich lasse erst die anderen Platz nehmen, sie haben doch alle Kinder.“

Eine von den Frauen, die früher eingestiegen war, fragte meine Bekannte, ob sie auf einer ihrer Kisten schlafen dürfe. Die Frau des Parteifunktionärs antwortete zornig und bestimmt: „Nein! Auf der Kiste wird diese junge Frau schlafen!“ Ihr mit einem großen Ring geschmückter Finger zeigte auf mich.

Unser Zug fuhr nur langsam und hielt oft an. Der organisierte Personenverkehr war noch nicht wieder aufgenommen worden, es waren nur Militärtransporte unterwegs. Bei längeren Aufenthalten machten meine Mitfahrer Lagerfeuer, um sich aufzuwärmen oder Essen zuzubereiten. Da ich nichts zu essen dabei hatte, ging ich in solchen Momenten woanders hin. Aber meine Bekannte bat mich zu Tisch und gab mir etwas zu essen. Die Tatsache, dass sie mir ihre Kiste zum Schlafen zur Verfügung stellte, hatte uns näher gebracht.

Wir waren seit mehreren Tage unterwegs und näherten uns Minsk. Plötzlich sagte meine Bekannte zu mir, ich solle mit einem Militärtransport nach Minsk vorfahren. Ich sollte beim Zentralkomitee Bescheid geben, dass sie schon in der Nähe von Minsk war, damit ihre Ankunft beschleunigt werden konnte. Was hatte ich schon zu verlieren? Ich fuhr nach Minsk vor.

Dort angekommen, wollte ich erst einmal den Buchto suchen, aber er war nicht da; man hatte ihn auf eine Dienstreise geschickt. Mir wurde mitgeteilt, er habe vor der Dienstreise den Wohnungsschlüssel für seine Frau hinterlassen. Ich könne den Schlüssel nehmen und einige Zeit bei ihnen wohnen bleiben.

Das Haus befand sich in der Karl-Marx-Straße. Zwei Tage später kam meine Bekannte an, ich wohnte also nur kurz alleine. Sie fand eine Arbeit in der Kantine des Zentralkomitees. Dort gab es Sonderlebensmittelmarken für Mitarbeiter. Dadurch hatte sie so viele Lebensmittel, dass sogar genügend für mich und die Nachbarn übrig blieb. Klawdia Iwanowna war herzlich zu mir. Hinzu kam, dass es in der Stadt nach Ende der Kampfhandlungen einen großen Wohnungsmangel gab. Aber bald hatte ich begriffen, dass ich dort nie wegkommen würde, wenn sich nicht etwas änderte.

Zunächst ging ich zum Rundfunkkomitee, um mir meine alte Arbeitsstelle zurückzuholen. Dabei half mir Herr Pigulewskij, der vor dem Krieg in der Musikredaktion gearbeitet hatte. Er nahm meine Papiere und ging damit selbst zu den Vorgesetzten. So wurde ich eingestellt. Tagsüber arbeitete ich, abends blieb ich an meinem Arbeitsplatz und schlief auf meinem Schreibtisch. Ich bin nicht großgewachsen, irgendwie funktionierte es also. Wenig später wurde ich in einem Wohnheim untergebracht, später zog ich in eine Wohnung in der Znjanskaja-Straße , wo ich in einer kleinen Küche übernachtete.

Bald hatte ich mich dazu entschlossen, meine Schwester mit ihren Kindern aus Pensa zurückzuholen und ihr die Stelle beim Institut für Mikrobiologie wiederzubeschaffen. Dort war Professor Rubinsteyn tätig, der meine Schwester gut kannte. Ich sagte ihm, dass meine Schwester gerne zurückkehren wollte. Daraufhin gab er mir eine schriftliche Zusage, dass sie ihre Arbeit wieder bekommen würde.

Ich fuhr nach Pensa, um meine Schwester nach Hause zurückzuholen. Dort erwartete mich die freudige Nachricht, dass der Krieg vorbei war…

 


[1]Minsk war die Hauptstadt der Weißrussischen Sowjetrepublik und ist die heutige Hauptstadt Weißrusslands. Bis zum 22. Juni 1941 wuchs die jüdische Bevölkerung Minsks durch den Flüchtlingsstrom aus Polen auf 85.000 Menschen an. Unmittelbar nach Beginn des Krieges kamen Flüchtlinge aus Westweißrussland und der Oblast Minsk hinzu. Die Massenflucht aus Minsk begann am 25. Juni 1941, als die Bevölkerung erfuhr, dass die Stadtführung und die Vertreter der staatlichen Behörden die Stadt verlassen hatten. Darunter war auch der Erste Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Weißrusslands Ponomarenko. Am 27. Juni wurde Minsk von den Einheiten der Wehrmacht eingekesselt; die Flucht aus der Stadt war unmöglich geworden. Am 28. Juni wurde Minsk eingenommen. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich etwa 55.000 Juden in der Stadt (Anm. der Redaktion).

[2]Pantelejmon Ponomarenko (1902-1984) war ein sowjetischer Parteiund Staatsfunktionär. Ab 1938 war er Erster Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Weißrusslands. Ponomarenko verließ Minsk in der Nacht vom 24. auf den 25. Juni, dennoch beschuldigte er in einem Brief an Stalin die jüdische Bevölkerung: „…sie wurden von einer animalischen Furcht vor Hitler ergriffen. Anstatt Krieg zu führen [entschieden sie sich für] eine panische Flucht“. Zwischen 1942 und 1944 war er Leiter des Zentralstabs der Partisanenbewegung. Der Zentralstab erließ keine Befehle, um der jüdischen Bevölkerung, die zunehmend vernichtet wurde, zu helfen. Im Sommer 1942 erließ er eine Direktive, laut der man Personengruppen aus Minsk nur mit äußerster Vorsicht in die Reihen der Partisaneneinheiten aufnehmen sollte, denn auf diese Weise würden die Deutschen ihre Agenten in die Partisanenbewegung einschleusen. Auf Grundlage dieser Direktive verwehrten die Kommandanten den aus dem Minsker Ghetto fliehenden Juden den Beitritt zu Partisaneneinheiten (Anm. der Redaktion).