Erinnerungen
Evakuierung und Flucht

Leningrader Blockade

Schlepakow Jewgenij

Geboren 1938 in Jenakiewo, Oblast Donezk. Arbeitete als Arzt in Moskau. Lebt nach seiner Auswanderung nach Israel im Jahr 1990 in Rischon LeZion. Hat vier Kinder und einen Enkelsohn.

DER NEUNMONATIGE ALBTRAUM

Vom Kriegsbeginn bis März 1942 blieb die Kartografische Einheit der Roten Armee, in der mein Vater Ruwim Markowitsch Schlepakow diente, in Rostow am Don. Laut meinem Vater war im Jahr 1939 innerhalb des Generalstabs der Roten Armee eine Kartografische Abteilung gegründet worden. Daraufhin wurde in allen Militärbezirken jeweils eine Kartografische Einheit gebildet. In den Jahren 1939 und 1940, also unmittelbar vor dem Krieg, stellte sich plötzlich heraus, dass die „große und mächtige“ Sowjetunion über kein qualitativ hochwertiges Kartenmaterial des eigenen Gebiets verfügte. Das galt insbesondere für Karten großen und mittleren Maßstabs. Anfang des 20. Jahrhunderts, insbesondere in den 1920er und 1930er Jahren, waren zahlreiche Industrieanlagen und Straßen neu errichtet worden. Auch die Staatsgrenzen hatten sich verändert. Dementsprechend waren die zur Verfügung stehenden Karten ungenau und veraltet. Selbst in den Stäben der Divisionen und Regimente gab es keine ausreichende Menge an topografischem Kartenmaterial, von Bataillonen und Kompanien ganz zu schweigen. Hinzu kam, dass die Offiziere unteren und mittleren Rangs zu Beginn des Kriegs nur eine vage Vorstellung von Kartografie und Topografie hatten. Mein Vater erzählte, dass diese Erkenntnisse mehrmals in Befehlen und anderen Unterlagen festgehalten wurden. Dies geht auch aus den Memoiren eines Kriegsveteranen hervor. Er schrieb, dass ein Bataillonsführer bei einem Rückzug im Jahr 1942 eine Karte aus dem Buch des sowjetischen Poeten Majakowski nutzte, bei dem es sich um die Schilderung seiner Reise durch den Kaukasus handelte. Eine andere Karte stand dem Kommandanten schlichtweg nicht zur Verfügung.

Mein Vater Ruwim Markowitsch Schlepakow. Moskau, 1932

Kartografische Einheiten, die in jedem Militärbezirk geschaffen wurden, verfügten über mehrere redaktionelle Abteilungen, welche für die Herausgabe von Karten zuständig waren. Darüber hinaus gab es eine Druckerei und eine Fachbibliothek mit Fachliteratur und Nachschlagewerken für Kartografie, Topografie, Geodäsie und Luftaufnahmen. Die Einheit in Rostow am Don bestand vor allem aus jungen Offizieren. Soldaten dienten dort nicht.

Als die Wahrscheinlichkeit immer größer wurde, dass die Deutschen die Stadt besetzen könnten, wurde der Befehl erteilt, die Einheit nach Pjatigorsk im Nordkaukasus zu evakuieren. Unter Bombenhagel verließ unser Zug Rostow.

Nach der Ankunft in Pjatigorsk wurden evakuierte Personen in Wohnungen bei einheimischen Familien untergebracht. Wir wohnten bei einer sehr anständigen Familie, den Gawrilows. Im Juni 1942 stand die Wehrmacht vor Pjatigorsk. Wieder sollten wir mit dem letzten Zug, zusammen mit den Offizieren aus der Einheit meines Vaters samt ihrer Familien sowie zwei Offiziersschulen, evakuiert werden. Im letzten Moment erfuhren wir, dass die Eisenbahnstrecke aus Pjatigorsk durch die Wehrmacht abgeriegelt worden war. Dem Befehl folgend wurden die Offiziere der kartografischen Einheit und die Schüler der Offiziersschulen zu Fuß aus der Stadt gebracht. Ihre Familien blieben am Bahnhof. Das Kartenmaterial wurde mit zwei LKW aus der Stadt transportiert.

Meine Mutter Klara Iossifowna Schlepakowa, geb. Dalid. Geboren am 25. August 1914 in der Siedlung NowoWitebsk, Bezirk Stalindorf, Oblast Dnipropetrowsk. Das Foto stammt aus dem Jahr 1937.

In Pjatigorsk herrschte Chaos. Im Grunde genommen wurde die Stadt nicht mehr regiert. Vom Bahnhof begaben sich Frauen und Kinder der Offiziere auf das Gelände der kartografischen Einheit. Im letzten Moment befahl der Kommandeur der Einheit, zwei Güterwagen mit Druckmaschinen für das Kartenmaterial sowie einen Teil fertiggestellter Karten zu vernichten. Wie mein Vater später erzählte, meldeten sich zwei Offiziere freiwillig, um diesen Befehl auszuführen. Sie erhielten drei Benzinkanister und die Marschroute für den Rückzug aus der Stadt.

Welches Schicksal den einen Offizier erwartete, ist mir nicht bekannt. Der zweite betrat noch am Abend des gleichen Tages das Gelände der kartografischen Einheit. Er trug ein Armband mit der Aufschrift „Hilfspolizei“ und verkündete den Familien der Offiziere – Frauen und Kindern – dass er sich entschieden habe, zu bleiben und mit den neuen Machthabern zu kooperieren. Der Krieg sei bald vorbei und man brauche sich keine Sorgen zu machen. Die Frauen waren sprachlos. Der frischgebackene Hilfspolizist und ehemalige Sowjetoffizier fuhr fort:

„Klara Schlepakowa und Nina Koschelewa sollen sich gemeinsam mit ihren Kindern zu der Stadtverwaltung begeben.“ Er hatte uns nicht erläutert, was der Grund für die Vorladung war. Eine Erklärung wäre auch überflüssig gewesen, denn der Hintergrund war allen klar. Nina Koschelewa war ebenfalls Jüdin, ihr Mann war Ukrainer. Sie hatten eine Tochter namens Lida, die drei Jahre älter war als ich.

Meine Mutter und ich. Rostow am Don, 1941.

Nach dieser kurzen Ansage verließen die Offiziersfamilien nach und nach das Gelände. Meine Mutter und Tante Nina gingen zu der Wohnung, in der wir einquartiert waren. Meine Mutter berichtete darüber, was soeben passiert war. Die Hausherren sagten, wir sollten vorübergehend bei ihnen wohnen bleiben und uns nicht auf der Straße blicken lassen. In der Zwischenzeit würden sie über das weitere Vorgehen nachdenken.

Einen Tag später wurden alle Juden dazu aufgerufen, sich an einem bestimmten Tag an einem bestimmten Ort zu versammeln.[1] Am Tag darauf traute sich meine Mutter doch in die Stadt, wo sie eine Bekannte traf. Sie sagte zu meiner Mutter: „Versteckt euch! Der Hilfspolizist, dieser Verräter, ist schon auf der Suche nach euch.“ Er hatte schon gesagt, er müsse „diese kleinen Judenweiber finden“.

Meine Mutter berichtete Tante Nina von dieser Begegnung. Daraufhin sagte Tante Nina, es gebe keine andere Möglichkeit, als zu gehorchen. Viele Jahre später, als mein Vater nach Taschkent versetzt wurde, brachte das Schicksal uns erneut mit Tante Nina zusammen, denn ihr Mann wurde ebenfalls dorthin versetzt. Und dann erfuhr ich zum ersten Mal von Tante Nina, was danach geschehen war. Sie erzählte Folgendes: „Ich sagte zu deiner Mutter, dass wir uns unterordnen sollten. Dann fragte mich Klara, wo denn mein Ausweis sei. Ich holte ihn aus der Tasche und wunderte mich, wozu sie ihn brauchte. Ohne etwas zu sagen und auch nur eine Sekunde zu zögern, zerriss sie meinen und ihren eigenen Ausweis in kleinste Stücke. Sie sagte zu mir, wenn wir nach unseren Ausweisen gefragt werden, sollen wir antworten, dass wir sie dem Zugkommandanten gegeben haben, den wir später im Getümmel am Bahnhof nicht mehr gefunden haben.“

Ich verneige mich vor der Tapferkeit, dem Einfallsreichtum und der Klugheit meiner lieben Mutter, die damals erst achtundzwanzig Jahre alt war. Im Laufe meines ganzen Lebens habe ich sie für diese Eigenschaften oft bewundert.

Die Hausherrin hatte meiner Mutter einmal gesagt, dass sie eine Schwester habe, die in Gorjatschewodski, einem neun Kilometer von Pjatigorsk entfernten Ort, wohnte. Seitdem ihr einziger Sohn in die Rote Armee eingezogen worden war, lebte sie alleine. Die Hausherrin sagte zu meiner Mutter, es wäre sicherer, wenn wir zu ihrer Schwester fahren würden.

In der Nähe des Hauses, in dem wir wohnten, befanden sich Lagerhallen. Tagsüber brachten die Deutschen mit LKW Ware in die Lager, abends verließen die Wagen das Gelände. Die Mutter hatte mit einem älteren LKW-Fahrer abgesprochen, dass er uns auf seiner Rückfahrt nach Gorjatschewodsk bringen würde. Nina samt Tochter, meine Mutter und ich machten uns nun auf den Weg. Mit einem Brief unserer Vermieterin an ihre Schwester im Gepäck verließen wir Pjatigorsk. Die Schwester stellte sich als eine gutherzige Frau heraus und ließ uns mehrere Tage bei sich wohnen. Man muss sagen, dass weder meine Mutter noch Tante Nina, die etwas älter war als meine Mutter, wie Jüdinnen aussahen. In dieser Zeit war das von einer enormen Bedeutung und besonders in unserer schwierigen Lage hat sich diese Tatsache schlichtweg als Rettung für uns herausgestellt.

In der Nähe von Pjatigorsk zu bleiben erschien uns zu gefährlich. Meine Mutter entschied, dass wir uns an einen noch weiter von der Front entfernten Ort begeben sollten. Warum sie und Tante Nina sich schlussendlich für die Kosakensiedlung Krylowskaja in der Region Krasnodar entschieden, weiß ich nicht genau.

Die Siedlung war groß, es gab reiche Anwesen und geräumige Häuser. Viele Einheimische waren bereit, Flüchtlinge aufzunehmen. Wenn das Haus voll war und insbesondere, wenn es dort viele Kinder gab, kamen die Deutschen seltener vorbei, denn sie übernachteten lieber dort, wo sie mehr Platz zur Verfügung hatten. Ausgehend davon entschieden wir uns, bei einer armenischen Frau unterzukommen. Sie hatte fünf kleine Kinder und im Haus hat es wegen der ständig vollen Nachttöpfe permanent gestunken. Ihr Mann war bei der Armee und den großen Garten musste sie allein bewirtschaften. Deshalb freute sie sich sogar darüber, dass zwei junge Frauen mit insgesamt nur zwei Kindern bei ihr einzogen. Die Unterstützung von meiner Mutter und Tante Nina konnte sie gut gebrauchen. Die Armenierin und ihre schwarzhaarigen Kinder brachten meine Mutter auf eine gute Idee. Später fragten die Deutschen meine Mutter zweimal danach, warum ich ihr nicht ähnlich sehe und so schwarzhaarig sei, denn mein Aussehen war definitiv nicht russisch. Meine Mutter hatte nun eine passende Antwort parat: ihr Mann sei Armenier und mit der Hausbesitzerin verwandt. Unserer Gastgeberin musste meine Mutter hingegen die Wahrheit erzählen und ging damit ein großes Risiko ein.

Die Kosakensiedlung befand sich auf der Strecke zwischen Krasnodar und Rostow auf der einen, und dem Nordkaukasus auf der anderen Seite. Es gab ständige Truppenbewegungen und fast jeden Tag übernachteten Deutsche in den umliegenden Häusern. Unser Haus mieden die Deutschen jedoch immer, denn irgendjemand von den Kindern saß zu jeder Tagesund Nachtzeit auf dem Topf und die Deutschen ekelten sich vor dem Gestank. Sehr häufig, insbesondere im Winter, machten sie die Tür unseres Hauses auf, vernahmen den Gestank, sagten: „Russische Schweine!“ und zogen weiter, auf der Suche nach einer weniger geruchsintensiven Bleibe. Später erinnerte sich meine Mutter deshalb lachend und voller Dankbarkeit an unsere Hausherrin und ihre Kinder.

Aus dieser Zeit sind mir zwei Episoden in Erinnerung geblieben, die ich inklusive einiger Details, die mir meine Mutter später erzählte, wiedergeben kann.

Die erste Geschichte ereignete sich eines späten Abends, ent weder im Dezember oder im Januar. Draußen schneite es und der Wind sauste in den Gassen. Ich hatte Fieber und Schnupfen, so wie die anderen Kinder auch. Plötzlich klopfte es an der Tür. Mehrere Deutsche stürmten ins Haus und brachten eine halbe Kuh mit. Sie baten die Frauen darum, das Fleisch zuzubereiten. Die Frauen widersprachen nicht, warnten die Deutschen aber, dass die Kinder krank waren und Ausschlag hatten, was auf eine Infektionskrankheit hindeuten könnte. Plötzlich sagte einer der Deutschen, er sei Arzt, könne Kinder untersuchen und ihnen Medikamente verabreichen. Aus irgendeinem Grund wandte er sich sofort an meine Mutter und fragte sie:
„Wo ist dein Kind? Zieh es aus.“ Später erzählte meine Mutter, dass er ihr sofort sympathisch gewesen war und sie sogar etwas an einen jüdischen Arzt erinnert hatte. Der Arzt untersuchte zuerst mich, dann die anderen Kinder sehr aufmerksam, wobei er uns vollständig auszog und gründlich nach Ausschlag suchte. Schweigend beobachteten Mütter und Soldaten die Untersuchung. Anschließend gab der Arzt allen Kindern Tabletten, möglicherweise gegen Fieber, und jedem eine kleine Tafel Schokolade. Er sagte, es sei eine Kinderkrankheit. Für Erwachsene bestünde keine Ansteckungsgefahr und sie könnten hier in aller Ruhe übernachten. Nach dieser gründlichen Untersuchung war meine Mutter sehr froh darüber, dass sie bei mir nach der Geburt keine Beschneidung hatte durchführen lassen.

Nun die zweite Episode, die mir in Erinnerung geblieben ist. Eines Tages hörten wir stumpfes, noch weit entfernt erscheinendes Geschützfeuer. Die Deutschen waren auf dem Rückzug. Immer wieder kamen Soldaten in unser Haus, um sich aufzuwärmen und zu erholen, bevor sie weiter zogen. So ging das über mehrere Tage. In der letzten Nacht klopfte es spät abends an der Tür und eine Gruppe in Wehrmachtsuniformen gekleideter, jedoch Russisch sprechender (genauer gesagt, fluchender) Soldaten platzte ins Haus. Sie waren verbittert, hungrig, müde und natürlich betrunken. Sie zogen sich aus, setzten sich an den Tisch und baten darum, ihnen etwas zu essen zuzubereiten.

Plötzlich stand einer der Soldaten auf und ging zum Haus gegenüber. Das war ein großes, schönes und geräumiges Haus. Auch dort saßen gerade Soldaten und Offiziere. Sie betranken sich. Glücklicherweise war der Hausherr ein aufrichtiger Mann. Meine Mutter sagte, er habe angeblich Kontakte zu den Partisanen gepflegt. Der Soldat, der vorher bei uns im Haus gewesen war, sagte zu den Offizieren im Haus gegenüber: „Dort ist ein ganzes Haus voller Judenschweine. Warum die Deutschen sie am Leben gelassen haben, ist mir ein Rätsel. Wir müssen diesen Fehler beheben.“ Einer der Offiziere sagte: „Lass’ mal, wir müssen zusehen, dass wir hier selbst heil wegkommen.“ Der Hausherr mischte sich ein und sagte: „Sie sind keine Juden, sie sind Armenier.“ Doch der Mistkerl bestand weiterhin darauf, dass wenn nicht alle, dann zumindest Klawa und ihr Kind Juden seien (als meine Mutter sich eine Bescheinigung anstatt ihres Ausweises hatte ausstellen lassen, gab sie ihren Vornamen als Klawa an, denn dieser klang russischer als Klara). Er sagte, er kenne sich aus und man könne ihn nicht um den Finger wickeln.

Am Ende konnte man diesen „Experten“ beruhigen, er setzte sich wieder an den Tisch, aß und trank Selbstgebrannten. In der Zwischenzeit rannte der Nachbar zu meiner Mutter und berichtete von diesem Gespräch. Er holte zwei weitere Flaschen Selbstgebrannten für die Soldaten und warf ihr seine Pelzjacke hin. Er befahl förmlich meiner Mutter und Nina, sich anzuziehen und in einem kleinen Wald am Dorfrand zu verstecken. Er fügte hinzu, dass die sowjetischen Einheiten bereits ganz in der Nähe seien und morgen oder übermorgen den Ort befreien würden. Den Rest der Nacht verbrachten wir anschließend im Wald. Obwohl in Decken eingewickelt, waren wir völlig durchgefroren. Meine Mutter überlegte die ganze Zeit, wie man überprüfen könnte, ob die Soldaten schon weg waren und ob nach ihnen noch weitere Einheiten folgten, die möglicherweise noch gefährlicher waren. Als es hell wurde, intensivierte sich das Geschützfeuer, dann wurde es still und am Horizont erschienen erste sowjetische Panzer mit einem roten Stern auf der Panzerkuppel. Und erst als einer von ihnen am Waldstück vorbeigefahren war, wussten wir, dass wir beruhigt zurückkehren konnten. Das war Ende März 1943. Der neunmonatige Albtraum nahm endlich sein Ende.

 


[1]Pjatigorsk ist eine Stadt in der nordkaukasischen Region der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (heutiges Russland). Im Jahr 1939 lebten in der Stadt 1.139 Juden. Vor der Besetzung der Stadt durch die Wehrmacht wurden mehrere Hundert Juden nach Pjatigorsk evakuiert, hauptsächlich aus Leningrad. Am 9. September 1942 wurde die gesamte jüdische Bevölkerung Pjatigorsks ermordet, teils durch Erschießungen, teils in Gaswagen (Anm. der Redaktion).