Erinnerungen
Evakuierung und Flucht

Leningrader Blockade

Amlinskaja (geb. Pergamentschtschikova) Sarra

Geboren im Jahr 1931. Flüchtete mit ihrer Familie im August 1941 aus Dnipropetrowsk nach Andijon, Usbekistan. Arbeitete als Wirtschaftswissenschaftlerin. Wanderte 1991 aus Kiew nach Israel aus. Lebt in Aschkelon, hat zwei Kinder und zwei Enkelkinder.

MEINE MUTTER WARF SICH ÜBER MICH UND RETTETE MEIN LEBEN

Mein Vater Naum Aronowitsch Pergamenschtschikow ging gleich in den ersten Kriegstagen an die Front, ohne auf den Einberufungsbescheid zu warten. Vor dem Krieg arbeitete er in einem Eisenwerk, meine Mutter war in einer Nähfabrik tätig. Ich war damals zehn Jahre alt. In meiner Erinnerung wird mein Vater für immer der tapferste, klügste, liebste und schönste Mensch sein. Bevor er sich von uns verabschiedete, bat er uns, ständig Kontakt zu seinem Eisenwerk zu halten. Im schlimmsten Fall würde uns sein Arbeitgeber bei der Evakuierung unterstützen. Doch es kam alles anders. Wenige Tage nach dem Kriegsausbruch kamen unsere nächsten Verwandten aus Kiew bei uns an. Ihr Ziel war es, sich gemeinsam mit uns auf die Flucht zu begeben, denn die Nazis bombardierten Kiew seit dem ersten Kriegstag. Die anderen Verwandten von uns haben es nicht geschafft, Kiew zu verlassen und mussten in der Stadt bleiben. Jeder einzelne von ihnen, insgesamt elf Personen, wurde Ende September 1941 in Babi Jar ermordet. Doch von ihrem furchtbaren Schicksal erfuhren wir erst viel später.

Im Juli 1941 bombardierten deutsche Flugzeuge bereits Dnipropetrowsk, und zwar rund um die Uhr. Die Sirenen waren mehrmals am Tag zu hören, ebenso wie die Radioansage „Fliegeralarm!“, doch diese Meldungen wurden übertönt vom Lärm deutscher Flugzeuge und von Bombeneinschlägen. Wir rannten zum nächsten Bunker im Keller des Nachbarhauses, dort, wo sich auch eine alte, illegale Druckerei befand. Manchmal schafften wir es nicht, vor Beginn des Luftangriffs den Bunker zu erreichen, dann warfen wir uns einfach auf den Boden und erlebten, wie die Erde brannte…

Eines Nachts geschah eine Tragödie. Zum wiederholten Mal gab es einen Luftangriff, und wieder einmal hatten wir es nicht geschafft, zum Luftschutzbunker zu gelangen. Wir blieben im Keller unseres Hauses. Als der Angriff vorbei war, sahen wir frühmorgens ein grauenhaftes Bild. Eine Bombe hatte das Haus getroffen, in dessen Kellerräumen sich der Luftschutzbunker befand. Das Haus stürzte ein und begrub alle Menschen, die sich vor dem Angriff zu retten versuchten, unter sich. Das waren unsere Nachbarn, die bei uns auf dem Hof wohnten. Erst einen Tag zuvor hatten wir uns gesehen und uns darüber ausgetauscht, was wir als nächstes tun sollten. Niemand von ihnen überlebte, sie sind alle bei diesem Luftangriff umgekommen…

Als die Wehrmacht bereits im Anmarsch auf Dnipropetrowsk war, wurde uns endgültig klar, dass wir uns keine Hoffnungen zu machen brauchten und dass es höchste Zeit war zu fliehen. Meine Mutter und ich, die Schwester meiner Mutter, Esther, mit ihren zwei Kindern und unsere Kiewer Verwandten, die vor kurzem den Nazis hatten entkommen können, wir alle versuchten gemeinsam die Stadt zu verlassen. Das war ungefähr im August 1941. Eine ganze Nacht verbrachten wir in Bahnhofsnähe, in gespannter Erwartung eines Zuges. Endlich kam ein Militärzug. Beim Einstieg ging es dramatisch zu: die Menschen stürmten die Wagen, denn es war ihre letzte Hoffnung zu entkommen. Unterwegs wurde unser Zug bombardiert und völlig zerstört. Sehr viele Menschen sind bei diesem Angriff umgekommen. Auch meine Mutter wurde tödlich verwundet und starb. Sie wurde nur zweiunddreißig Jahre alt. Nur durch ein Wunder habe ich überlebt. Dieses Wunder habe ich meiner Mutter zu verdanken. Sie verdeckte mich mit ihrem Körper und rettete mich auf Kosten ihres eigenen Lebens vor dem sicheren Tod…

Nur Tante Esther und ihre beiden Kinder haben überlebt. Alle anderen Kiewer Verwandten von uns sind umgekommen… Das Bild war entsetzlich: die brennenden Wagen, die Schreie, das bittere Weinen der Überlebenden und das Stöhnen der Verwundeten. Überall gab es sehr viel Blut, überall sah man Sterbende und Tote. Es sind viele Jahre vergangen, doch es ist unmöglich, diesen Tag zu vergessen…

Meine Tante Esther erzählte mir, dass sie mich gefunden und aus dieser Masse sterbender Menschen herausgezerrt hatte. Mit meinen zehn Jahren wollte ich den Tod meiner Mutter nicht begreifen oder gar akzeptieren. Noch lange löcherte ich meine Tante mit Fragen.

Mit zehn Jahren war ich nun ein Waisenkind. Nach dem Luftangriff wurde ich zusammen mit Tante Esther und ihren Kindern sowie einigen anderen Überlebenden von den Bewohnern anliegender Dörfer aufgenommen. Wir wurden in einem Keller untergebracht, wo wir uns einige Tage lang versteckt hielten. Diese Menschen waren einfache Bauern. Sie nahmen uns liebevoll auf: sie wuschen uns den Dreck und das Blut vom Leib, gaben uns frische Kleidung und versorgten uns mit Essen, so gut wie sie nur konnten. Sie haben viel riskiert, denn in diesem Dorf gab es verschiedene Leute, auch Kollaborateure.

Diejenigen, welche die Juden beherbergten und dabei erwischt wurden, sind auf der Stelle erschossen worden. Als das Dorf endgültig von den Nazis eingenommen wurde, begannen regelmäßige Razzien und Hausdurchsuchungen. Tante Esther, ihre Kinder, ich und diejenigen, die es geschafft hatten, sich aus dem Kessel zu befreien, mussten mitten in der Nacht fliehen. Vor uns lag ein schwieriger Weg, der durch einen Wald führte. Wir waren hungrig und unsere Kleidung zerrissen. Am Ende hatten wir es geschafft, uns bis zu einer Station vorzukämpfen und dort in einen der letzten Züge zu steigen. Der war dermaßen mit Flüchtlingen überfüllt, dass es schien, als würde niemand mehr in den Wagen passen.

Dass wir mit diesem Zug fahren durften, haben wir dem Wagenmeister zu verdanken. Er befahl denjenigen, die sich im Zug befanden, ihr Gepäck aus dem Wagen zu werfen. Es war nur erlaubt, das allernötigste zu behalten – Brot und Wasser. Die Menschen warfen die Reste von dem, was sie noch an ihr altes Leben erinnerte, aus dem Wagen. Wir hatten zu diesem Zeitpunkt nichts mehr aufzugeben, denn wir besaßen nichts mehr. Das einzige, was wir hatten, war die Hoffnung, in diesen Zug einsteigen zu können. Schließlich fanden wir Platz in diesem Zug, der an einen Kuhstall erinnerte, denn ursprünglich war der Wagen für Viehtransporte bestimmt gewesen. Im Zug konnten wir nur stehen. Um sich hinzusetzen, musste man die Beine einziehen. Abwechselnd haben wir geschlafen. Es war sehr stickig. Von Zeit zu Zeit machte der Zugführer eine fünfbis zehnminütige Pause, in dieser Zeit konnte man frische Luft schnappen und wenigstens etwas Wasser auffüllen. Einige Menschen verspäteten sich und blieben zurück. Wer weiß schon, welches Schicksal ihnen widerfahren ist?

Es wurde angekündigt, dass unser Zug Kurs auf Zentralasien halte. Voraussichtlich werde unsere Reise einige Tage dauern, wenn nichts Schlimmes passierte. Insgesamt waren wir neun oder zehn Tage unterwegs. Die Menschen wurden fast wahnsinnig vor Durst, Hunger und Krankheiten. Unterwegs wurden die Leute in unserem Wagen zu einer richtigen Familie und nahmen Rücksicht aufeinander. Alle teilten ihr Trockenbrot, die letzten Essensreste und Wasser miteinander, jeder half sich gegenseitig, wie er nur konnte. Sogar ein liebes Wort, ein Zuspruch der Hoffnung, bedeutete in einer solchen Situation viel. Unterwegs starben drei ältere Menschen, denn die Bedingungen waren unerträglich. Der Zug wurde angehalten, um den Toten die letzte Ehre zu erweisen. Zwei Tage später wurde in unserem Wagen ein kleiner Junge geboren. Die Frauen halfen der Mutter mit so viel Liebe und waren dermaßen aufopferungsvoll, als wäre es ihr eigener Sohn oder Enkel. Die Menschen im Wagen rückten zusammen und räumten für die junge Mutter eine Ecke frei, damit sie ihr Baby stillen konnte.

Endlich kamen wir im geheimnisvollen Zentralasien an. Wir waren nun in Andijon, in der Usbekischen Republik. Das war ein kleines, verwahrlostes Provinzstädtchen, dort lebten überwiegend Usbeken sowie einige wenige russische Familien, die vor vielen Jahren hierher zwangsumgesiedelt worden waren. Nach unserer Ankunft lebten wir zunächst eine ganze Woche lang unter freiem Himmel. Niemand wartete hier auf uns, es gab keinen Wohnraum. Die Usbeken gaben uns alte Strohmatten und Decken, damit wir uns nachts damit zudecken konnten. Auch brachten sie uns Wasser und Fladen.

Man muss diesen Menschen Respekt zollen. Damals waren das faktisch ungebildete, verarmte Leute, sie lebten in einer sehr einfachen Behausung mit sechs bis acht Kindern auf engstem Raum. Nichtsdestotrotz waren sie sehr bemüht, uns zu helfen.

Etwa eine Woche später kam ich zusammen mit anderen verwaisten Flüchtlingskindern in ein Kinderheim. Es befand sich in einem alten, halbverfallenen Stall, wo früher Vieh gehalten worden war. Die Einheimischen versuchten zusammen mit den Flüchtlingen, den Stall so gut wie möglich für uns einzurichten. Aus Lehm und trockenem Gras errichtete man für uns eine Art Hütte, die uns gar nicht so dürftig vorkam: wenigstens hatten wir ein Dach über dem Kopf.

Tante Esther lebte mit ihren Kindern bei einer usbekischen Familie in einem alten Schuppen. Der Raum war so klein, dass dort nichts anderes als eine aus alten Brettern zusammengenagelte Liege hineinpasste. Dort schlief also eine dreiköpfige Familie. Ansonsten spielte sich das Leben meiner Tante und ihrer Kinder draußen auf dem Hof ab.

Der Herbst 1941 brach an. Es fiel Schnee, der allerdings sofort taute und zu Matsch wurde. Wie die Einheimischen sagten, hatte es zum ersten Mal seit zwanzig Jahren geschneit. Es wurde nasskalt im Heim. Das Dach war undicht und es regnete durch. Die Lebensmittel waren knapp. Wir aßen entweder Brei aus dunklem Getreide oder Trester aus Obstoder Gemüseresten. Das Brot war wässrig und streng rationiert: man erhielt nur dreihundert Gramm. Die Usbeken tranken Wasser aus dem gleichen Graben, in dem sie auch ihre Füße wuschen. Auch für uns war das die einzige Trinkwasserquelle. Der Hunger, die Enge, der Schmutz und die Läuse – all das waren unsere düsteren Begleiter während der Kriegszeit. Das alles führte zu einer Fleckfieberepidemie, die bald ausbrach. Auch in unserem Kinderheim gab es erste Krankheitsfälle. Medikamente gab es nicht, denn alle Arzneimittel waren in erster Linie für die Front und die Lazarette bestimmt. Es wurden Baracken gebaut, in denen infizierte Kinder und Erwachsene untergebracht wurden. In diesen Baracken lebten jeweils fünfzehn Personen. Menschen starben zu Hunderten… Ich hielt bis zuletzt durch, doch der tragische Tod meiner Mutter, die Ungewissheit über das Schicksal meines an der Front kämpfenden Vaters und all die erlebten Entbehrungen hinterließen ihre Spuren. Ende Dezember erkrankte auch ich an Fleckfieber. Die Krankheit verlief schwer: ich hatte vierzig bis einundvierzig Grad Fieber, mein ganzer Körper war mit rotem Ausschlag bedeckt, woraus sich bald Geschwüre bildeten. Als Tante Esther kam, sagte der Arzt zu ihr, dass sich bei mir Blutvergiftung ansetze und alle Versuche, mein Leben zu retten, hoffnungslos seien.

Jeden Tag wurden aus unserer Baracke tote Menschen hinausgetragen. Sie wurden am Stadtrand beerdigt. Dieser Ort war von kleinen, mit Kalk beschütteten Hügeln überzogen. Auf den Gräbern lagen kleine Bretter mit den Namen der Toten – das waren alles Flüchtlinge, die mit uns zusammen hierhergekommen waren – Frauen, Kinder, Alte… Auch mein Zustand wurde immer hoffnungsloser – ich verlor ständig das Bewusstsein und war nicht ansprechbar.

Wie meine Tante mir erzählte, hat sie mich aus dieser Todesbaracke herausgeholt. Sie brachte mich zu dem Hof, auf dem sie wohnte. Sie fand einen älteren Usbeken, der im Ort als Naturheiler bekannt war. Er bereitete ein Hausmittel aus vielen Zutaten für mich zu. Meine Tante hat sich nur gemerkt, dass zu den Inhaltstoffen Wurzeln von verschiedenen Heilpflanzen und geriebene Zwiebeln gehörten. Offensichtlich trug das regelmäßige Trinken von diesen Aufgüssen dazu bei, dass die Blutvergiftung langsam zurückging. So bin ich zum zweiten Mal dem Tod entkommen. Mit großer Liebe und tiefer Dankbarkeit erinnere ich mich an meine liebe Tante Esther. Einen ganzen Monat lang pflegte sie mich gesund und kümmerte sich um die Geschwüre, mit denen mein Körper überdeckt war.

Nach meiner Heilung kam ich zurück ins Kinderheim. Ich ging in die vierte Klasse. Lehrbücher hatten wir keine und die Hef ter nähten wir aus alten Plakaten zusammen. Unsere Hausaufgaben machten wir beim Licht einer Petroleumlampe, wobei es ständig einen Kerosinmangel gab. Permanent hatte ich Hunger.

Das Hungergefühl ließ mich sogar nachts nicht los. Ich träumte davon, dass der Morgen schnell einkehrte und ich endlich wieder meine Ration Brot essen konnte. Bis heute ist das Brot für mich heilig. Trotz der katastrophalen Lebensbedingungen war ich immer wissbegierig, hatte gute Noten und konnte mich für die Schule begeistern. Während der vier Kriegsjahre erhielt ich vier Urkunden für exzellente Schulleistungen.

Der Krieg ging weiter. Die wichtigsten Durchhalteparolen in dieser schwierigen Zeit waren „Alles für die Front, alles für den Sieg“ sowie „Der Erfolg im Hinterland bedeutet den Sieg an der Front“. Für uns Kinder der Kriegszeit waren das keine leeren Worte. Diese Sätze bedeuteten für uns Hoffnung, dass der Krieg irgendwann zu Ende sein würde. Und wir wollten unseren bescheidenen Beitrag dazu leisten, wir wollten mit unserem Schweiß und Blut den Sieg wenigstens etwas beschleunigen und bemühten uns, den Erwachsenen in nichts nachzustehen. Von acht Uhr morgens bis mittags waren wir in der Schule, nachmittags wurden wir mit Ochsenwagen zur Baumwollernte gefahren. Es waren fünfzig Grad in der Sonne und es gab kein Wasser. Die Baumwolle war zwei Köpfe größer als wir. Wir mussten sie vorsichtig neigen, um die Pflanzen nicht zu brechen und die Früchte zu ernten. Sobald die Säcke voll waren, mussten sie durch das ganze Feld getragen werden. Ich war erst elf Jahre alt, meine Freunde waren zwölf oder dreizehn. Doch wir wussten ganz genau, warum wir dieser Arbeit nachgingen. Denn das war das „weiße Gold“, das so wichtig für unser Land war.

Nach fünf Stunden Feldarbeit erhielten wir einen verbrannten Fladen und einen Becher Wasser und kehrten zurück ins Heim. Wir waren müde und entkräftet, doch nach der Arbeit mussten wir noch unsere Hausaufgaben machen. Es war mir schwer ums Herz, denn es gab immer noch keine Nachrichten von meinem Vater. Er konnte nicht wissen, wo wir waren. Ich hatte schon Gedanken daran, dass ich ihn nie wieder sehen würde. Nur in den Tiefen meiner Seele schimmerte noch Hoffnung.

Im Laufe des Jahres 1942 entstand in der Stadt das erste Militärkrankenhaus, wo verwundete Soldaten eingeliefert wurden. Am 2 Mai gingen wir mit der gesamten Klasse und unserer Lehrerin dorthin, um Soldaten zu besuchen und ihnen zum Tag der Arbeit zu gratulieren. Das, was wir sahen, war quälend. Sehr junge, neunzehnoder zwanzigjährige Männer mit amputierten Armen und Beinen oder einer Kriegsneurose. Von Rollstühlen konnte keine Rede sein. Diejenigen, die sich bewegen konnten, waren auf Krücken. Doch die meisten konnten nur liegen oder sitzen, andere waren im Krieg erblindet. Es war hart, all das mitzuerleben. Wir wollten den Soldaten mit unseren kleinen Auftritten, die wir für sie geprobt hatten, eine Freude bereiten. Für die schwer verwundeten und traumatisierten Soldaten war der Anblick von Kindern wie ein Hauch frischer Luft.

Unser kleines Konzert war ein Erfolg. Wir sangen verschiedene Lieder – russische, ukrainische und jüdische (auf Jiddisch) – sagten Gedichte auf und erzählten Kurzgeschichten. Wir schenkten jedem Soldaten selbstgestrickte Wollsocken, kleine Tabaksäckchen und Bücher. Diejenigen, die in der Lage waren uns zu applaudieren, klatschten und bedankten sich bei uns. Am Ende belohnte man uns für unseren Einsatz: jeder von uns erhielt drei Stück von einem schwarzen Kuchen mit Marmelade aus Trockenaprikosen und zwei Fladen. Für uns war das ein wahrlich fürstliches Geschenk.

Als wir schon gehen wollten, bemerkten meine Freundin und ich, dass am Ende des Krankensaals ein schwerverletzter Soldat lag, der nicht aufstehen konnte und den wir zuvor nicht bemerkt hatten. Vor ihm stand eine Krankenschwester. Ich kam näher und sah einen Menschen mit einem vollständig verbundenen Kopf. Durch den dichten Verband konnte man nur die Schlitze seiner Augen sehen. Seine Augen waren traurig und sein Blick abwesend. Der schwer verwundete Soldat tat mir leid und ich verspürte das Bedürfnis, ihm etwas Nettes und Herzerwärmendes zu sagen. Mit meiner kindlichen Naivität sagte ich zu ihm:

„Lieber Onkel, werden Sie schnell wieder gesund, wir möchten, dass wenn wir das nächste Mal kommen, Sie schon auf dem Bett sitzen können.“ Im nächsten Moment sah ich, wie der Soldat die Augen weit öffnete. Der Verband wurde tränenfeucht und ich begriff plötzlich, dass das mein Vater war. Er lebt, er ist nicht gefallen!

Ich schrie und heulte vor Freude, so laut, dass die Menschen aus dem gesamten Krankenhaus in den Raum strömten, weil sie dachten, es wäre etwas passiert. Wahrlich erhielt ich ein Geschenk Gottes, und was für ein großzügiges… Es sind achtundsechzig Jahre vergangen und ich erinnere mich immer noch an dieses einmalige, einzigartige Glücksgefühl. Mein Vater lebt!

Die Nachricht über den tragischen Tod meiner Mutter traf meinen Vater schwer. Einen Monat später wurde er aus dem Krankenhaus entlassen und ging wieder an die Front. Kleine dreieckige Briefe, die er uns schrieb, erhielten wir sehr selten. Bald bekamen wir keine Briefe mehr…

Man schrieb das Jahr 1944 und alle hofften auf einen baldigen Sieg über die Nazis, denn unsere Truppen waren erfolgreich auf dem Vormarsch. Leider Gottes erlebte mein Vater den glücklichen und freudvollen Tag des Sieges nicht. Im Mai 1944 erhielten wir die bittere Todesbenachrichtigung: „…im Kampf für das sozialistische Vaterland und dem Soldateneid treu, Heldentum und Tapferkeit zeigend, fiel Ihr Soldat Naum Aronowitsch Pergamenschtschikow an der Front im Januar 1944.“ Mein Vater war erst neununddreißig Jahre alt. Etwa zeitgleich fielen sein Bruder Awram und sein Cousin Sjoma im Krieg.

Das war ein herber Rückschlag für meine Kindheitsträume und Hoffnungen. Lange konnte ich nicht glauben, dass diese Tragödie wirklich geschah. Selbst als der Krieg zu Ende war, rannte ich mit meinen damals vierzehn Jahren noch zum Bahnhof, um die Kriegsrückkehrer zu empfangen. Die überlebenden Soldaten kehrten zurück, sie waren verwundet, behindert und entstellt, doch sie waren am Leben. Ich ging immer wieder zum Bahnhof in der Hoffnung, mein Vater würde doch zurückkommen. Doch leider geschah kein Wunder… So wird er für immer in meinem Herzen und in meiner Erinnerung bleiben – als junger, tapferer und schöner Mensch. Kein Verlust ist für mich schlimmer als der unersetzbare Verlust meiner Eltern.

Meine Eltern haben keine Gräber. Sie verbrannten im Feuer der Katastrophe. Der Gedanke, dass ich meinen Eltern nie eine Ehre an ihrem Grab erweisen konnte, ist für mich ein Leben lang kaum zu ertragen. Nach dem Krieg lebten wir in Kiew. Wenn wir zum Grabmal des unbekannten Soldaten gingen, dann wussten meine Zwillingskinder, dass wir ihrer Großeltern Naum und Ida gedachten, welche in diesem Krieg gefallen sind.

Ich bin den Mitarbeitern der Yad-Vashem-Gedenkstätte zutiefst dankbar, dass sie mir im Jahr 1999 nach meinem Ersuchen die Urkunden zuschickten und es mir damit ermöglichten, die Erinnerung an meine Eltern in der Halle der Erinnerung im Yad Vashem zu verewigen.

Im August 1945 holte mich Tante Esther aus dem Kinderheim und wir kehrten zusammen mit ihren Kindern zurück nach Dnipropetrowsk. Das war ein zugleich glückliches und trauriges Wiedersehen. Die gesamte Stadt lag in Trümmern. Unser Haus war vollständig zerstört, dementsprechend wussten wir nicht, wo wir wohnen sollten.

Wir waren gezwungen, bei null anzufangen, ohne Dach über dem Kopf, ohne jegliche finanzielle oder moralische Unterstützung. Und wieder begann der Kampf ums Überleben, der Kampf um einen würdigen Platz auf dieser Welt.

Sarra mit siebzehn, 1948

Aus unserer großen Familie waren vierzehn Männer an der Front. Zurückgekommen sind nur drei: Michail Liss, ein Militärarzt, der als Chirurg ein evakuiertes Militärkrankenhaus leitete und später Professor wurde; Israil Liss, der zwischen 1939 und 1945 in zwei Kriegen kämpfte und mit einer Behinderung von der Front zurückkehrte; sowie Jakow Lomasow, der Sohn von Tante Esther, ein Oberleutnant, der von 1941 bis 1945 an der Front war, das Kriegsende in Berlin erlebte, vierundzwanzigjährig mit einer Behinderung zurückkam und nach dem Krieg als Arzt arbeitete.

Es sind nur wenige Verwandte von mir am Leben geblieben. Viele starben nach der Evakuierung im Hinterland an Kälte und Hunger in der Stadt Kurgan im Ural, zahlreiche Angehörige wurden in Babi Jar ermordet, einige im ukrainischen Uman und wiederum andere in den Zügen auf der Flucht – die Deutschen haben die Eisenbahnstrecken ohne Erbarmen beschossen und bombardiert. Ein solches Schicksal traf nicht nur unsere Familie. Es starben Millionen. Deshalb sollte man die Menschen, die den Krieg erlebten, Verstorbene und Überlebende, nicht in Kategorien einteilen. Man sollte verstehen, dass jeder in diesem schrecklichen Kampf gegen den deutschen Faschismus während der unruhigen Kriegsjahre eine große Menge Entbehrungen, Tragödien, Schicksalsschläge und Verluste erlitten hat. Man hat seine wichtigsten, engsten und liebsten Menschen für immer verloren.

Meine Erzählung beinhaltet nur einen Bruchteil von dem, was ich als Kind erlebt habe. Diese Erinnerungen sind sehr schmerzhaft und lasten schwer auf dem Herzen. Denn nichts und niemand kann mir das Verlorene zurückgeben – die gestohlene Kindheit, die durch den Krieg angeschlagene Gesundheit und das Wichtigste: meine Eltern und weitere wichtige Menschen in meinem Leben.

Möge die Erinnerung an sie gesegnet sein…