Scharnopolskij Awrum
Geboren 1931 im Schtetl Iljinzy, Oblast Winniza, heutige Ukraine. Auswanderung nach Israel im Jahr 1995. Direktor des Hauses der Technologien (Jerusalem), stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Organisation „Für eine würdige Zukunft“.
DAS WIRD FÜR IMMER IN MEINER ERINNERUNG BLEIBEN
(AUSZUG AUS DEN MEMOIREN)
…noch am gleichen Abend begannen wir mit den Abreisevorbereitungen. Mein Vater holte aus der Abstellkammer Koffer, mit denen wir sonst immer nach Kiew reisten. Meine Mutter setzte sich an die Nähmaschine und fertigte bis zum Abend mehrere große Tragetaschen aus festem Stoff an. Den gesamten nächsten Tag verbrachten die Eltern damit, Koffer und Taschen zu packen. Wir Kinder versuchten insgeheim, unser Spielzeug und unsere Bücher in den Taschen unterzubringen, weshalb uns strengstens verboten wurde, uns in der Nähe unseres Gepäcks aufzuhalten. Die Eltern stritten ohnehin die ganze Zeit darüber, was wir mit- nehmen sollten und was nicht. Mein Vater warf wütend die über- flüssigen Sachen wieder aus den Koffern heraus und wiederholte aufgebracht, der Krieg wäre ohnehin in zwei oder drei Wochen, maximal aber in einem Monat, vorbei und wir könnten in unser Haus zurückkehren.
Am nächsten Tag kam gegen Mittag unser Bekannter Meyr, ein immer fröhlicher Zeitgenosse und Witzbold, mit seinem Pferde- wagen bei uns an. Spielerisch leicht verstaute und sicherte er unser Gepäck auf dem Wagen und half in gekonnter Manier meiner Mutter dabei, sich auf der Rückbank neben meinen Geschwistern zu platzieren. Mein Vater schloss sich uns an, nachdem er zum letzten Mal einen Rundgang durch das Haus gemacht und sich vergewissert hatte, dass alle Fensterläden und Türen verschlossen waren. Wir fuhren damals aus Iljinzy[1] los, ohne zu wissen, dass wir den Ort für immer verließen. Wir konnten nicht ahnen, dass unser Haus, so wie viele andere Häuser auch, noch vor dem Einmarsch der Wehrmacht durch die Einheimischen geplündert und dann durch einen direkten Einschlag einer Bombe komplett zerstört werden würde. Mein Vater erfuhr das alles erst 1945, bereits nach seiner Entlassung aus der Roten Armee…
Am Bahnhof war es stickig und verdreckt, obwohl es menschenleer war. Meine Mutter hatte vorgeschlagen, erst einmal in einem kleinen Park in Bahnhofsnähe auf den Bänken Platz zu nehmen. Mein Vater, der sich auf die Suche nach dem Stationsvorsteher gemacht hatte, kehrte erst einige Zeit später zurück und meinte, wir müssten noch lange warten. Unser Zug würde erst am späten Abend erwartet, aber es wäre großes Glück, wenn er überhaupt kommen würde. „Und selbst in diesem Fall würde er nur dann anhalten, wenn Wasserreserven für die Lok aufgefüllt werden müssen“, fügte mein Vater hinzu. Der Stationsvorsteher habe versprochen, uns in den Zug zu setzen, man müsse dann aber sehen, ob im Wagen noch Platz sei.
„Hörst du, Iosi“, sagte meine Mutter besorgt zu meinem Vater,
„wir sollten uns zum Bahnhofsgebäude begeben, bevor der Regen uns hier überrascht.“
„Welcher Regen?“, erwiderte mein Vater. „Was erzählst du da? Schau in den Himmel, da ist keine einzige Wolke zu sehen.“
„Stimmt“, sagte meine Mutter nach oben schauend, „aber was war das denn für ein Krach?“
Mein Vater antwortete nicht, sondern lauschte nur den Geräu- schen des nächtlichen Himmels. Und wieder donnerte es, diesmal lauter und wesentlich näher. Fast zeitgleich hörten wir ein immer lauter werdendes Motorenbrummen.
„Oh mein Gott“, schrie meine Mutter auf. „Das sind Flugzeuge!“
Wie zur Bestätigung ihrer Worte wurde die Stille vom anschwellenden Krach einer fallenden Bombe durchdrungen.
„Auf den Boden!“, schrie mein Vater, warf sich auf unser Gepäck und schützte dabei meinen Bruder und mich mit seinem Körper. Eine ohrenbetäubende Explosion hallte durch die Luft. Es fühlte sich an, als täte sich unter mir die Erde auf. Ich hatte das Gefühl, ich würde in einen Abgrund fallen, zusammen mit meinem Vater, meinem Bruder und all unserem Gepäck. Dieses Gefühl eines freien Falls hielt noch einige Zeit an. Meine Ohren waren taub. Der erste Schreck war vorbei, als es aufgehört hatte und als ich mich und meinen Bruder sah. Wir lagen immer noch auf unseren Taschen. Dann sah ich meinen Vater, der meine Schwester und meine weinende Mutter umarmte. Ich sah das alles wie in einem Stummfilm, ohne dass ich die Geräusche um mich herum hörte. Ich spürte ein Klingeln in den Ohren und einen bitteren Geschmack im Mund, und nachdem ich geschluckt hatte, hörte ich das Weinen einer Frau und das Donnern sich entfernender Flugzeuge. Offensichtlich war die Bombe außerhalb des in der Dunkelheit versunkenen Bahnhofsgeländes gefallen, ohne der Station einen Schaden zuzufügen. Nirgendwo brannte etwas, nur die Luft hatte den Geschmack des absinkenden Staubs. Zu unse- rem Glück begnügten sich die Deutschen mit einer Bombe und sparten ihre Munition für ein lohnenswerteres Ziel auf.
In der Morgendämmerung kam unser Zug. Ich weiß nicht mehr genau, wer uns beim Einsteigen und Tragen unserer Sachen geholfen hat. In Erinnerung geblieben sind ein unheimlich wirkendes Halbdunkel des Güterwagens, der Geruch des frisch geschlitzten Fußbodens und das wackelige Licht der Lampe, die wie eine Fledermaus von der Decke hing. Mein Vater warf Bettdecken auf den Boden und wir legten uns angezogen schlafen. Der Boden war sehr hart, aber die Müdigkeit siegte.
Lange schlafen konnten wir allerdings nicht. Ein erneuter Bombenangriff zwang den Lokführer zum Manövrieren – mal bremste er abrupt, mal beschleunigte er unerwartet, um einen direkten Einschlag einer Bombe zu vermeiden. Explosionen hörte man von allen Seiten. Grelle Blitze und Windstöße fanden ihren Weg in den Wagen durch Fenster und kleine Löcher. Im Wagen schlief natürlich niemand. Alle flüsterten, so als könnte lautes Reden unseren Standort verraten. Es gab keine Panik, nur wenn die Bomben unseren Wagen knapp verfehlten, hörte man leise, dumpfe Frauenschreie. Jemand versuchte, die Wagentür zu öffnen, um sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen, aber lautes Zischen hielt ihn davon ab.
Es fühlte sich an, als sei eine ganze Ewigkeit vergangen, bis der Zug wieder gleichmäßig Fahrt aufnahm. Nun beschleunigte er, als wolle er schnellstmöglich den Ort verlassen, wo noch wenige Minuten zuvor die Erde durch Explosionen gepflügt worden und Steine und Erdschollen auf Wände und das Dach des Wagens auf- geschlagen waren. Für eine Weile war es still und alle schwiegen. Dann wurde es hell, jemand machte die Tür auf. Der Türrahmen leuchtete auf wie ein greller Bildschirm mit einem unwirklich anmutenden blauen Himmel und Feldern, die bis zum Horizont reichten. Morgenfrische drang in den Wagen ein.
Plötzlich kam der Zug am Rand eines unendlichen Kornfeldes zum Stehen. Mein Vater sprang aus dem Wagen, auch andere Menschen verließen den Zug und gingen in Richtung Lok. Einige Zeit später kam mein Vater zurück und teilte uns mit, dass die Gleise von einer Bombe zerstört worden waren. Eine Reparaturbrigade arbeite bereits am Wiederaufbau der Gleisanlage, brauche aber mindestens eine Stunde dafür. Nachdem die Reparaturarbeiten abgeschlossen waren und der Zug langsam den wieder aufgebauten Gleisabschnitt hatte passieren können, nahmen wir wieder Fahrt auf. Und wieder rauschten Bäume und Pfeiler an uns vorbei. Die Menschen im Wagen hatten sich hingesetzt oder hingelegt. Mein Vater und ich blieben an der Wagentür. Der Rauch der Dampf- lok wurde dichter und ich spürte, wie kleine Partikel unverbrannter Kohle mich ins Gesicht stachen. Wir standen auf und gingen ins Wageninnere. Kaum war eine halbe Stunde vergangen, schon deuteten das Kreischen der Bremsen, Klappern der Dämpfer und erschrockene Schreie auf einen erneuten außerplanmäßigen Halt hin. Wir hörten das Brummen näherkommender Flugzeuge und kurze, ruckartige Pfiffe der Lokomotive.
„Alle aus dem Wagen, raus aufs Feld!“, befahl jemand.
Alle rannten zur Tür, Panik brach aus, man konnte Schreie und Weinen der Kinder hören. Männer, die als erste aus den Wagen auf den Bahndamm gesprungen waren, fingen aus dem Zug fal- lende Frauen und Kinder auf und schickten sie ins hohe, dicht bewachsene Weizenfeld.
In diesem Durcheinander verlor ich meine Familie aus den Augen und zögerte. An der Wagentür angekommen, blieb ich stehen. Ich war ergriffen von dem Bild, das sich mir bot: Männer, Frauen und Kinder rannten aus aller Kraft, stolpernd und fallend zum rettenden Feld. Einige von ihnen verdeckten den Kopf mit ihren Armen, als würde sie das vor tieffliegenden Flugzeugen mit schwarzen Kreuzen auf den Tragflächen und dem Rumpf beschützen. Bei der Geräuschkulisse, welche die Flugzeugmotoren erzeugten, hörte man das Klappern der Maschinengewehre nicht. Doch man sah, wie die Erde durch die Kugeln springbrunnenartig nach oben schoss. Ich war erstaunt, wie präzise die Kugeln exakt entlang des Bahndamms einschlugen. Die Flugzeuge entfernten sich, kamen aber bald zurück und beschossen den Zug erneut aus dem Tiefflug. Wie in Hypnose versetzt beobachtete ich ihren Flug. Angst verspürte ich nicht, ich war nur neugierig. Die Geschehnisse um mich herum erschienen mir surreal, so, als würde ich sie auf einer Leinwand im Kino erleben. Die Piloten, die man im Detail erkennen konnte, erschienen mir nicht wie Monster, wie sie später oft beschrieben wurden. Sie waren normale Menschen, so wie wir, und trugen die gleichen Helme wie unsere Soldaten. Diese Erkenntnis verblüffte mich damals.
Immer und immer wieder schaute ich mir die Flugzeuge an und wunderte mich, dass sie nicht gegen den Boden prallten – ihr Rädergestell berührte beinahe das verkümmerte Gebüsch am Straßenrand. Immer wenn ein Zusammenstoß unabwend- bar schien, stiegen die Flieger auf und nahmen das angespannte Brummen ihrer Motoren mit in die Höhe. Komischerweise bombardierten sie uns nicht, sondern beschossen immer wieder den Zug, als wollten sie ihn dem Erdboden gleichmachen. Es bereitete ihnen sichtbar Freude, ihre Stärke und uneingeschränkte Macht zu demonstrieren. Als die Flugzeuge zum wiederholten Mal weggeflogen waren, um bald zurückzukehren, sah ich meinen Vater, der auf den Wagen zulief. Als er mich in der Wagentür stehen sah, rief er zu mir: „Spring schnell, hab‘ keine Angst!“
Doch ich hatte Angst, aus einer solchen Höhe aus dem Wagen zu springen. Ich wartete, bis mein Vater näher kam, sprang in seine Arme und wir rannten zusammen zum Feld.
Die Flugzeuge verschwanden genauso schnell wie sie am Horizont erschienen waren. Die Menschen kehrten nicht ohne Angst zum Gleisbett zurück. Alle aus unserem Wagen waren wieder da. Einige waren schmutzig, hatten Schürfwunden am Körper, andere waren geknickt und verängstigt, aber alle waren heil und unverletzt. Später erfuhren wir, dass einige Menschen aus anderen Wagen leicht verletzt worden waren. Sie wurden angemessen versorgt. Wir fuhren wieder los, doch der Bombenangriff wurde noch lange in unserem Wagen diskutiert.
Das Schicksal meinte es gut mit uns: weder an diesem Tag noch in den nächsten Tagen wurden wir beschossen oder bombardiert. Ohne weitere Probleme passierten wir den Dnjepr. An einer Station konnten wir Lebensmittel kaufen und uns an einem Hydranten waschen, während die Lok ausgetauscht wurde. Hin und wieder musste unser Zug längere Pausen einlegen, um Militär- oder Lazarettzüge durchfahren zu lassen, was die Erwachsenen enorm beunruhigte, denn sie befürchteten erneute Luftangriffe. Und obwohl die deutschen Flugzeuge nicht mehr in unser Leben traten, machte sich der Krieg ständig bemerkbar, ob durch Zerstörungen und Brände, die uns unterwegs begegneten, durch Bahnsteige, auf denen Flüchtlinge auf dem Gepäck sitzend auf ihre Züge warteten, oder durch Nachrichtenmeldungen, die aus riesigen, auf Bahnhofsdächern installierten Lautsprechern ertönten.
[1] Iljinzy ist eine Kreisstadt in der Oblast Winniza, Ukrainische Sowjetrepublik, heu- tige Ukraine. Im Jahr 1939 lebten in Winniza 2.217 Juden (63,6% der Bevölkerung). Iljinzy wurde am 23. Juli 1941 von der Wehrmacht eingenommen. Nur ein kleiner Teil der jüdischen Bevölkerung schaffte es, aus der Stadt zu fliehen. Alle anderen wurden im Zuge mehrerer koordinierter Aktionen zwischen dem 5. November 1941 und dem 15. Dezember 1942 ermordet (Anm. der Redaktion).