Ruch Reuwen
Geboren 1928 in Rokiškis, Litauen. Erlebte die Kriegszeit in der Oblast Gorki, heutige Oblast Nischni Nowgorod, Russland, und Usbekistan. Lebte nach dem Krieg in Riga, wanderte im Jahr 1977 nach Israel aus. Lebt seit 1984 in Australien.
DIE SOWJETREGIERUNG TRIEB DIE JUDEN IN DIE HÄNDE DER NAZIS
Nein, dieser Bericht ist keine Schilderung einer persönlichen Tragödie. Mein Schicksal und das Schicksal meiner Familie waren durchaus glücklich. Dies ist ein Bericht über das Schicksal vieler Tausender jüdischer Flüchtlinge aus Litauen und Lettland, die von den sowjetischen Machthabern in den ersten Kriegstagen weg von der Grenze in die Hände der Nazis, in den sicheren Tod getrieben wurden.
Am 22. Juni um vier Uhr morgens griff Hitler-Deutschland die Sowjetunion an. Um sieben Uhr, als wir noch schliefen, rannte unser Verwandter – er war Radiobastler – zu unserem Haus und erzählte vom deutschen Überfall auf die Sowjetunion. Am gleichen Tag um zehn Uhr verkündete der Rundfunk von Kaunas die Bildung einer Militärregierung. Diese gab sofort bekannt, die sowjetische Regierung sei gestürzt. Für jeden getöteten deutschen
Sederabend beim familiären Pessach-Fest, 1937.
Soldaten würden Hundert Juden erschossen werden.[1] Die Juden wurden für entrechtet erklärt: die neue Regierung war pro-nazistisch eingestellt und unterstützte voll und ganz die Politik des Deutschen Reiches gegenüber den Juden. Unser Verwandter, Rabbiner Selik Ruch, lebte in Polen und war Leiter einer Jeschiwa, bis dieser Teil des Landes von der Wehrmacht besetzt wurde. Von ihm erhielten wir recht umfangreiche Informationen über Nazi-Deutschland. Ein Wehrmachtsoffizier, der mit den Juden sympathisierte, hatte ihm erzählt, was die Juden erwarten würde, wenn sie unter der deutschen Besatzung blieben.
Von der Front gab es jedoch keine Nachrichten. Sowohl der deutsche Rundfunk als auch das sowjetische Radio schwiegen.
Mein Bruder Sascha, 1944.
Noch am Morgen des 22. Juni versammelten sich junge Leute, Komsomolzen und Kommunisten, beim Kreiskomitee der Partei. Die meisten waren Juden, denn die Litauer verweigerten die Zusammenarbeit mit den sowjetischen Behörden. Dort erhielten sie Waffen und wurden abgeordnet, in Rokiškis und den umliegenden Gebieten zu patrouillieren. Mein älterer Bruder Sascha Ruch ging gleich am 22. Juni in ein Geschäft und kaufte Rucksäcke, um vor der Wehrmacht fliehen zu können.
Am Abend des ersten Kriegstages kamen unsere Verwandten, die sechzehn Kilometer südlich von unserer Ortschaft in Kamajaj lebten, mit einem Pferdewagen bei uns an. Sie übernachteten in unserem Haus und machten sich am Montagmorgen in Richtung Lettland auf. Sie überquerten die Grenze und konnten überleben.
Am Montag, einen Tag nach Kriegsbeginn, befahl die neue profaschistische Regierung Litauens in Kaunas allen Juden, ihre Rundfunkgeräte abzugeben. Auch ich habe mein „Blaupunkt“-Radio bei der Miliz abgegeben und im Gegenzug eine Quittung erhalten. Dort hatte es eine Schlange gegeben: etwa fünfzehn Juden, die ich alle kannte. Rokiškis zählte 7.500 Einwohner, 4.000 davon waren Juden.
Am selben Tag fand nach dem Mittag in der Nähe von unserem Haus eine Versammlung statt. Einige Dutzend jüdische Männer debattierten darüber, was zu tun war und welche Entscheidungen man treffen sollte. Auch ich war dort anwesend, hatte aber kein Stimmrecht, denn ich war erst vierzehn Jahre alt. Die jüngeren Männer wollten fortgehen. Die Älteren trauten sich nicht. Einige konnten sich nicht dazu entschließen, ihr Hab und Gut zurückzulassen: sie hatten Angst vor dem Leben als Flüchtling. Viele Sowjetaktivisten hatten Waffen. Unser Verwandter Leyser Gefanowitsch sagte, er habe zwei kleine Kinder und würde nirgendwohin fortgehen. Ältere Leute behaupteten, die Deutschen hätten den Juden 1918 nichts Böses getan. Wir hätten deshalb nichts zu befürchten.
Für unsere Familie, wie auch für die Mehrheit anderer jüdischer Familien in Rokiškis, war die Frage danach, ob man gehen oder bleiben sollte, eine sehr schwierige und quälende. Die Eltern meiner Mutter, Mordechaj (Mendl) und Rachel Gurwitsch waren ältere Menschen mit Behinderungen. Sie waren nicht in der Lage, mit uns die Flucht anzutreten. Da wir weder ein Pferd noch einen Wagen hatten, konnten wir sie nicht mitnehmen. Mein älterer Bruder Sascha sagte, er würde alleine fortgehen, sollte sich unsere Familie dazu entschließen zu bleiben. Einige seiner Freunde – Ljowa Jakubowitsch, Awraam Resnikowitsch und Marik Etingof – waren bereits alleine, ohne ihre Familien, auf Fahrrädern aus der Stadt geflohen. (Den Ereignissen vorauseilend kann ich sagen, dass sie deshalb überleben konnten; ihre Familien, die in Rokiškis geblieben waren, wurden von den Nazis ermordet[2]). Am schlimmsten war es für meine Mutter Hanna Ruch (Gurwitsch): sie hatte eine Entscheidung zu treffen – entweder bei den Eltern bleiben und dabei Ehemann und Kinder gehen lassen oder akzeptieren, dass ihre Eltern alleine zurückbleiben.
Meine Großmutter Rachel Gurwitsch (Dubrowskaja) und mein Großvater Mordechaj Gurwitsch. Erschossen am 15. August 1941.
Während der nächsten zwei Tage machten immer wieder Flüchtlinge an unserem Haus halt. Sie flohen zu Fuß oder mit Pferdewagen in südöstliche Richtung zur lettischen Grenze, um dann nach Daugavpils zu gelangen.
Mittlerweile gab es Gerüchte, dass die Flüchtlinge an der russischen Grenze nicht durchgelassen werden, dennoch kamen bei uns in Rokiškis noch keine Rückkehrer an. Am Dienstagabend, den 24. Juni, verbreitete sich Panik in der Bevölkerung, nachdem Parteifunktionäre mit Lastwagen aus der Stadt evakuiert worden waren. Auch die Milizionäre waren geflüchtet. Von der russischen Grenze kehrten jüdische Flüchtlinge zurück und berichteten, dass sie von den Litauern beschossen worden waren, wobei einige Menschen umgekommen seien.
Als am 15. Mai 1940 die Rote Armee in Litauen einmarschiert und Litauen daraufhin am 21. Juli 1940 in die Sowjetunion aufgenommen worden war, hatten wir Juden gejubelt. Wir waren uns sicher, dass Stalin es schaffen würde, uns vor den Nazis zu beschützen. Deshalb unterstützten die Juden die neuen Machthaber. Die Litauer ließen sich hingegen mehrheitlich nicht auf eine Zusammenarbeit mit den sowjetischen Behörden ein. Als die sowjetische Regierung die zu „feindlichen Elementen“ erklärten litauischen und lettischen Bürger deportierte, waren jüdische Kommunisten an diesen Aktionen aktiv beteiligt. Dadurch zogen die Juden den Hass der litauischen und lettischen Bevölkerung auf sich. In der Nacht zum 14. Juni 1941, nur sieben Tage vor dem Überfall auf die Sowjetunion, fand eine Deportierung von über 15.000 litauischen Bürgern nach Sibirien statt (die Mehrheit waren ethnische Litauer, aber darunter waren auch etwa zehn Prozent Juden). Um das Eindringen der „feindlichen Elemente“ auf das Gebiet der Sowjetunion zu verhindern, wurden an der Grenze zu den baltischen Republiken Grenzschutztruppen aufgestellt. Nach dem Kriegsbeginn wurde diese Grenzsicherung aufgehoben.
Am frühen Mittwochmorgen, den 25. Juni, trafen unsere Verwandten bei uns ein und erzählten, dass auf der Straße zwischen Kaunas und Daugavpils eine Panzerkolonne der Wehrmacht in unsere Richtung fahre. Daraufhin kam meine Großmutter aus ihrem Zimmer und sagte, wir sollen sie und den Großvater zurücklassen und fliehen.
Erst jetzt sagte meine Mutter, dass sie mit uns fortgehen würde. Mein Vater hatte mit seinem guten litauischen Bekannten abgemacht, dass dieser sich um die Großeltern kümmern würde.
Mittwoch, 25. Juni 1941. Vierter Tag nach Beginn des Krieges
Um vierzehn Uhr verließen wir – mein Vater, meine Mutter, Sascha und ich – unser Haus in Rokiškis. Michail Kur, Mitarbeiter unseres Fotoateliers, und seine Frau Hinda waren mit uns mitgekommen. Insgesamt waren wir sechs Personen und hatten zwei Fahrräder (das von mir und das von Sascha), vier Rucksäcke, zwei Koffer, einen Ranzen mit Lebensmitteln und eine Blechkanne mit Wasser (für die ich ab sofort permanent zuständig war) dabei. Wir machten uns zu Fuß auf den Weg nach Daugavpils. Weil die deutsche Armee es während des Ersten Weltkrieges nicht geschafft hatte, den Fluss Düna zu passieren, waren wir uns sicher, dass wir in Daugavpils den Krieg würden aussitzen können.
Wir sind also aufgebrochen. Auf dem Marktplatz herrschte wie im gesamten Ort Stille. Es war menschenleer. Das Morden begann in Rokiškis, zwei Tage nachdem wir die Stadt verlassen hatten. Als Herr Jakobson von der Republikstraße am Freitag, den 27. Juni, sein Fenster öffnete und hinaus schaute, sah er eine Panzerkolonne der Wehrmacht. Einen Augenblick später war er tot – jemand hatte geschossen. Am gleichen Tag fand seine Beerdigung statt, und während er zu Grabe getragen wurde, ermordeten die Litauer noch zwei Juden. In unserer kleinen Stadt wurden durch Nazis und ihre litauischen Handlanger etwa 3.700 Juden getötet. Insgesamt lebten dort vor dem Krieg etwa 4.000 Juden.
Wir marschierten die Allee entlang bis zum Grafengut und bogen dann links ab. Unser Ziel war die Eisenbahnstation Obeljaj, sechs Kilometer östlich von Rokiškis. Der Bahnhof war nicht mehr in Betrieb: alle Angestellten waren davongelaufen, die Züge hielten nicht an und fuhren durch.
Nach einigen Hundert Metern wurden wir von einem Pferdewagen eingeholt, der in unsere Richtung fuhr. Wir einigten uns auf einen Preis und luden unsere Sachen auf den Wagen. Ohne Gepäck auf dem Rücken konnten wir alle nun schneller gehen. Sascha und ich setzten uns auf die Fahrräder und fuhren erst einmal vor. Nach etwa zwei Kilometern hielten wir an und warteten auf die anderen. Wir setzten uns in einen Graben und schauten uns um. Es war ein märchenhafter Abend. Die Sonne ging unter, hinzu kamen die Düfte der Felder und Waldblumen… Das fühlte sich unwirklich an, bei der Realität, die uns umgab: unweit von uns gab es Krieg, Menschen starben… Fliehen? Wohin, wozu? Es ist doch wunderschön hier! Am nächsten Tag sind an diesem Ort aus Rokiškis fliehende Juden ermordet worden.
Unsere Eltern und wir entschieden uns, dem Pferdewagen mit unseren Sachen entgegenzukommen. Zusammen mit dem Wagen erreichten wir gegen fünf Uhr die Station Obeljaj. Und welch Freude – am Gleis stand ein Zug mit Flüchtlingen aus Panevėžys und Kukiškis! Mein Vater ging los und unterhielt sich mit jemandem. Am Bahnsteig standen kaum Menschen, fast alle waren schon in den Zug gestiegen. Wir luden schnell unser Gepäck und die Fahrräder in einen offenen Güterwagen (solche wurden meist zum Transport von Kohle und Holz eingesetzt) und stiegen ein. Zwanzig Minuten später waren wir bereits unterwegs, nach Osten, in Richtung Daugavpils.
Später habe ich begriffen, wie viel Glück wir hatten. Hätten wir uns auch nur um zwanzig Minuten verspätet, hätte uns das Schicksal der anderen Flüchtlinge erwartet, die nach Rokiškis zurückkehren mussten. Sie wurden alle ermordet. Unser Zug war der letzte, der in östliche Richtung gefahren ist.
Der Zug fuhr ab. Meine Mutter hatte uns etwas zu essen gegeben. Plötzlich warf sich mein Vater auf mich und drückte mich zu Boden. Ich hatte nicht verstanden, was passiert war, und versuchte meinen Kopf hochzuheben. Dann sah ich Holzspäne von der Wand abprallen. Nun wurde mir klar, dass auf uns geschossen wurde: wir überquerten die litauisch-lettische Grenze. Am anderen Ende unseres Wagens wurde eine Frau verletzt, allerdings nicht schwer.
Unser Zug hatte etwa zwanzig Wagen: vier Personenwagen und davor fünfzehn oder sechzehn offene Güterwagen. In jedem Güterwagen fuhren etwa achtzig Personen mit, mehrheitlich jüdische Flüchtlinge. Wir konnten entweder in der Hocke oder auf unserem Gepäck sitzen. Es gab keinen Platz, um sich hinzulegen oder die Beine auszustrecken. Die Mehrheit der Leute waren ältere Menschen und Kinder.
Der Zug fuhr weiter, langsam wurde es dunkel. Um halb zwölf hielt der Zug am Bahnhof Dwinsk/Daugavpils an. Völlige Dunkelheit. Nur die Scheinwerfer tasteten den nächtlichen Himmel ab. Unser Zug wurde auf ein anderes Gleis gestellt. Um ein Uhr nachts des 26. Juni fuhren wir wieder los gen Osten, in Richtung der sowjetischen Grenze. Hurra! Wir sind gerettet!
Viele Jahre später, als ich die Lageberichte der Wehrmacht studierte, fand ich eine Meldung des Wehrmachtsgenerals von Manstein, gerichtet an das Führerhauptquartier. Dort berichtete der General, das IV. Panzerkorps habe am 26.06.1941 um acht Uhr morgens die Brücken über die Düna eingenommen und um zwölf Uhr Dwinsk erobert.
Und wieder hatten wir Glück. Wir sind dem deutschen Einmarsch um sieben Stunden entkommen. Hinzu kam, dass die Brücken, die wir passierten, von der Wehrmacht nicht bombardiert wurden: die Deutschen wollten sie für sich haben.
Donnerstag, 26. Juni, 6:00 Uhr.
Fünfter Tag nach Beginn des Krieges
Unser Zug fuhr am Bahnhof Bigosowo in Weißrussland ein, acht Kilometer von der Grenze. Ein Gefühl der Freude durchdrang uns. Wie ist das passiert? So einfach war das, schon sind wir in Russland! Was für ein Glück!
Dann aber wurde der Zug von Grenzbeamten und Soldaten eingekreist. Aus den hinteren Wagen stiegen Gruppen von Menschen mit Kindern aus, die Koffer dabei hatten. Meist waren es Frauen. Das waren Ehefrauen der Kommandanten, Parteifunktionäre sowie NKWD-Mitarbeiter. Sie durften die Grenze passieren.
Und uns, jüdischen Flüchtlingen aus den sechzehn offenen Güterwagen, über tausend Personen, blieb nichts anderes übrig, als diesen Strom von glücklichen, freien Menschen zu beobachten. Anfangs dachten wir, dass auch wir den Zug bald verlassen dürfen. Aber vor jedem Wagen stand ein Wachmann mit einem Gewehr. Man durfte nicht einmal aus dem Wagen, um seine Notdurft zu verrichten. Ich versuchte, zur Bahnhofstoilette durchzukommen. Doch ein Soldat sagte: „Es ist nicht gestattet!“ Schon hörte ich, wie jemand rief: „Halt! Zurück!“ Wenig später hatte man uns einen Eimer Wasser gebracht. Irgendwann wurde der Zug auf ein anderes Gleis gestellt, zwei oder drei weitere Wagen mit Flüchtlingen wurden angehängt und wir fuhren wieder los. Aber der Zug war nun in die umgekehrte Richtung unterwegs – in den Westen, dorthin, wo die Wehrmacht auf dem Vormarsch war.
Schon waren wir auf dem Weg zurück, nach Lettland. Wir waren müde, ausgehungert, im Halbschlaf und voller Sorge. Was wird aus uns? Wo fahren wir hin? Warum kehren wir zurück? Darauf gibt es keine Antwort. (Ich habe keine Belege, aber ich bin der Meinung, dass wir als Zivilisten in die offenen Güterwagen gesetzt wurden, damit die Wehrmacht diesen letzten Zug in östliche Richtung, der auch Familien der Parteifunktionäre und Militärs in den Personenwagen transportierte, nicht bombardiert. In den allerersten Kriegstagen griffen die Kampfflugzeuge der Wehrmacht die Züge mit Zivilisten an Bord noch nicht an. Kurz darauf wurden wir aber zurückgeschickt, weil der Beschluss vom 14. Juni, welcher die Durchfahrt der Flüchtlinge aus Litauen und Lettland nach Weißrussland verweigerte, noch nicht außer Kraft gesetzt worden war).
Wir fuhren mit zeitweisen Unterbrechungen die ganze Nacht durch, bis der Zug um fünf Uhr morgens mitten auf der Strecke Krāslava – Daugavpils zum Stehen kam. Nachdem wir insgesamt fünfzig Kilometer in östliche Richtung zurückgelegt hatten, waren wir nun unterwegs in die umgekehrte Richtung, den Deutschen entgegen.
Freitag, 27. Juni, 5:00 Uhr.
Sechster Tag nach Beginn des Krieges
Der Lokführer war geflohen oder erschossen worden. Es gab ein Gerücht, der Zug würde nicht weiterfahren. Fast hatten wir das von der Wehrmacht bereits besetzte Daugavpils erreicht. Wir fuhren im drittletzten Wagen. Als der Zug anhielt, sahen wir eine Motorradkolonne der deutschen Armee. Vermutlich war es ein Vorauskommando der Wehrmacht.
Im Zug brach Panik aus. Alle fingen an, aus dem Zug zu springen und das Gepäck und die Fahrräder herauszuwerfen. Frauen konnten geradeso aus den Wagen klettern: der Bahndamm war sehr hoch. Was sollen wir jetzt tun? Ein Mann, angeblich von der NKWD, sagte im Befehlston, er brauche ein Fahrrad, um zur Station zu fahren und Hilfe zu holen. Er nahm mein Fahrrad und fuhr davon. Was nun? Wir legten unser Gepäck auf das Fahrrad von Sascha, nahmen unsere Rucksäcke und brachen auf. Wir marschierten los, auf den Schwellen in Richtung Osten.
Wir waren nun unterwegs auf der Eisenbahnstrecke Krāslava – Daugavpils. Es bildete sich eine kilometerlange Menschenkolonne, bestehend aus Alten, Frauen mit Kinderwagen, Koffern und Gepäck. Alle dachten, sie würden mit dem Zug unterwegs sein, deshalb waren sowohl junge als auch alte Menschen mit dabei. Unsere Familie war in der Hinsicht mobiler: ich war mit vierzehn der Jüngste und meine dreiundvierzigjährige Mutter die Älteste. Und alle marschierten wir auf Gleisen.
Einige Zeit später kamen zwei Kampfflugzeuge aus östlicher Richtung auf uns zu. Es waren Flieger mit Kreuzen an den Seiten, solche hatte ich zuvor noch nie gesehen. Die gesamte Menschenmenge stürzte sich in die Straßengräben. Nur einen Augenblick später waren die Flugzeuge weg. Sie haben nicht geschossen. Wir richteten uns auf und marschierten weiter. Koffer und Gepäck, aber auch Hunderte von Menschen, blieben auf den Gleisen. Wir überholten zahlreiche Menschen, und es war schmerzhaft zu sehen, wie ältere Flüchtlinge teilnahmslos auf den Schienen saßen, kraftlos und nicht in der Lage, ihren Marsch fortzusetzen. Viele verließen die Eisenbahnstrecke und marschierten nach Süden, in Richtung von Krāslava. Dieser Ort wurde von den Deutschen am 27. Juni eingenommen.
All diejenigen, die nicht mit uns mitgegangen und in Krāslava geblieben sind, wurden erschossen. Wurden sie von den Letten erschossen? Oder von den Nazis?
Wir setzten unseren Marsch fort. Sascha hielt das Fahrrad am Lenker, mein Vater schob ihn von hinten an. Ich war der Wasserträger, ich trug unsere Kanne mit Wasser. Damals habe ich gelernt, wie man auf Schwellen läuft – immer eine Schwelle auslassend. Bei Anbruch der Dunkelheit kamen wir am Haltepunkt Skaista an. Für ein paar Stunden legten wir uns am Bahnübergang in einen Heuhaufen zum Schlafen und machten uns im Morgengrauen wieder auf den Weg in Richtung Osten.
Sonnabend, 28. Juni. Siebter Tag nach Beginn des Krieges
Der Himmel war bedeckt, es fing an zu nieseln. An diesem Tag hat die Wehrmacht Minsk erobert, eine Stadt, die hundertfünfzig Kilometer südöstlich von uns entfernt war. Wir marschierten in östliche Richtung. Gegen zehn Uhr morgens kamen wir in Indra, Lettland, an. Bis zur sowjetischen Grenze waren es sieben Kilometer. Zahlreiche Flüchtlinge hatten sich mittlerweile unserer Gruppe angeschlossen. Wir machten uns auf den Weg zur Synagoge, um dort zu übernachten. Obwohl sie bereits überfüllt war, fanden wir dort einen Schlafplatz.
Eine Stunde später, gegen Mittag, kam eine Durchsage: alle Flüchtlinge sollen zur Bahnstation kommen. Wieder kam Hoffnung auf: vielleicht fahren wir ja in östliche Richtung. Weitere Menschen schlossen sich uns an, mittlerweile waren es nicht Hunderte, sondern Tausende. Gemeinsam rannten wir los zum Bahnhof.
Dort angekommen, sahen wir riesige Menschenmassen. Wir wurden hinter einen Zaun gebracht, überall waren bewaffnete Soldaten aufgestellt. Und wieder wurden wir festgehalten. Auf einer Erhöhung stand ein Offizier und hielt eine Rede: „Keine Panik! Unsere heldenhaften Truppen haben die Deutschen am Fluss Düna, bei Daugavpils, aufgehalten. Sie wehren die feindlichen Angriffe ab, greifen selbst an und treiben die Deutschen zurück. Deshalb können alle Flüchtlinge aus Lettland beruhigt nach Hause zurückkehren und die lettischen Flüchtlinge werden wir vorübergehend in umliegenden Dörfern unterbringen, wo sie einige Tage in aller Ruhe abwarten können, bis ihre Heimatorte von den deutschen Okkupanten befreit werden. Zweifelt nicht daran! Unser großer Führer Josef Stalin hat uns versichert: „Der Sieg wird unser sein!“
Wir wurden aufgeteilt. Die lettischen Juden in eine Gruppe, die litauischen in die andere. Wenig später wurde ein Zug bereitgestellt, allerdings diesmal ein Personenzug, und wir, die Flüchtlinge aus Lettland, durften einsteigen. Bald setzte sich der Zug in Bewegung. Und wieder fuhr er in die westliche Richtung, auf der gleichen Strecke, die wir nachts zu Fuß ostwärts zurückgelegt hatten. Das war so bitter! Was haben wir getan? Womit haben wir das verdient? Warum werden wir gewaltsam zurückgetrieben?
Wir waren nicht lange unterwegs, dann gab es einen Halt für zwei bis drei Minuten. Einige Menschen verließen unseren Zug und begaben sich zu den umliegenden Bauernhöfen. Auch wir hatten das vor, wir wollten schnellstmöglich aussteigen, so nah an der russischen Grenze dran wie nur möglich. Wir gingen etwas vor zur Tür, wobei dort ein Soldat postiert war. Beim nächsten Halt stiegen wir aus und gingen mit unserem übrig gebliebenen Fahrrad zu einem Hof, etwa zwei Kilometer von der Eisenbahnstrecke entfernt. Dort angekommen, stellten wir fest, dass die Hausherren über die ungebetenen Gäste so gar nicht erfreut waren. Man stellte uns ein leeres Zimmer zur Verfügung, wo wir sofort einschliefen.
Sonntag, 29. Juni. Achter Tag nach Beginn des Krieges
Es war irgendeine kleine Farm, zwanzig Kilometer westlich von der sowjetischen Grenze. Wir waren früh wach, kauften bei unseren Gastgebern Kartoffeln, kochten sie. Es gab Milch, es gab Brot – was haben wir geschmaust! Es gab kein Radio und keine Zeitungen. Wo ist die Front, wo sind die Deutschen gerade? Wir waren völlig ahnungslos und diese Ungewissheit erschöpfte uns. Wir überredeten unsere Gastgeber, die Banja anzuheizen. So konnten wir uns waschen. Ein kurzes Durchschnaufen in einer angespannten, ungewissen Lage. Dann schliefen wir ein. Nachts hatten unsere Gastgeber Besuch von irgendwelchen Leuten, das beunruhigte uns.
Montag, 30. Juni. Neunter Tag nach Beginn des Krieges
Wir waren früh auf, um vier Uhr. Wir beschlossen, dass mein Vater und Sascha sich auf den Weg zum nächsten Dorf begeben sollten, um zu erfahren, wie die Situation an der Front gerade war. Sie gingen los, kamen aber nur eine halbe Stunde später rennend zurück. Aus dem Gebüsch hatten Letten auf sie geschossen. Man kann nur von Glück sprechen, dass sie nicht verletzt wurden. (Meinem früheren Lehrer Jakow Harit ist es anders ergangen. Er floh am 23. Juni aus Kaunas. Beim Überqueren einer Brücke wurden Flüchtlinge von Litauern beschossen. Er wurde am Schulterblatt verletzt und hat eine Behinderung davongetragen).
Wir legten rasch unser Gepäck auf das Fahrrad, wobei wir feststellten, dass einer unserer Säcke nicht mehr aufzufinden war. Wir nahmen unser Gepäck und marschierten auf den gleichen Schwellen wie vor zwei Tagen wieder in Richtung Osten – hin zur Freiheit, zur russischen Grenze! Um ein Uhr mittags kamen wir wieder in Indra an. Dieses Mal gingen wir nicht zur Bahnstation, sondern nahmen eine Nebenstraße. Auf den Straßen wurde geplündert. Keine Anzeichen von Staatsgewalt. Keine Soldaten, keine NKWD. Auch von den Flüchtlingen war niemand zu sehen. Nur wir und die Plünderer. Kein sonderlich angenehmes Gefühl. Die sieben Kilometer bis zur Grenze legten wir zu Fuß zurück, aber den Grenzposten mieden wir. Die Straße endete in einer Sackgasse, weiter sahen wir nur die Schilder: „Halt! Hier Grenze“ und „Minen! Verminte Zone!“ Was sollen wir tun? Es war deprimierend… Wir legten uns am Straßenrand hin, ohne die Rucksäcke abzunehmen. Wir legten unsere Füße hoch – sie hatten Erholung am nötigsten. An diesem Tag hatten sie fünfundzwanzig Kilometer zurückgelegt. Wir lagen noch im Halbschlaf. Plötzlich hörten wir Getrampel, Lärm, Schreie – die Geräusche einer großen Menschenmenge. Der erste Gedanke war: Die Deutschen sind da! Wir rannten ins Gebüsch, weg von der Straße, versteckten uns und warteten angespannt. Soll das wirklich unser Ende sein? Ist es uns schließlich doch nicht gelungen, zu entkommen?
Das Herz zerfloss vor Selbstmitleid. Meine Mutter geriet in Panik. Alle anderen auch, nur zeigten sie es nicht. Plötzlich fiel uns ein Stein vom Herzen. Es stellte sich heraus, dass es eine sowjetische Einheit war, die sich auf dem Rückzug befand. Es waren völlig erschöpfte, hungrige, abgerissene Soldaten, die kurz zuvor aus einem Kessel ausgebrochen waren. Wir suchten den Kontakt zu ihnen: „Können wir uns euch anschließen?“ – „Kommt mit“, lautete die karge Antwort. Die Soldaten passierten die Grenze – es war ein kleiner, unscheinbarer, von niemandem bewachter Waldweg. Und wir gingen hinterher. Gott sei Dank! Eine solche Freude hatte ich lange nicht verspürt. Endlich, nach all den Strapazen, hatten wir beim dritten Versuch unser Ziel erreicht. Ungefähr das gleiche Gefühl müssen Bergsteiger verspüren, wenn sie den Gipfel des Mount Everest erklimmen oder Forscher, die den Südpol erreichen. Es fühlte sich an wie ein Triumph.
Hinter der Grenze, auf der sowjetischen Seite, gingen wir und die Soldaten getrennte Wege. Wir gaben ihnen alle unsere Zigaretten und zwei Füllhalter, die wir dabei hatten. Ich werde diesen Soldaten für immer dankbar sein. Diesen unbekannten russischen Männern, die so jung, so verstört und traumatisiert waren. Diesen Männern, die das Leben ins Inferno des Krieges geschickt hatte. Diesen Männern, die selbstlos unsere Leben retteten.
Man hätte versuchen können, all das, was mit uns geschehen war, zu verstehen oder zu verarbeiten, aber wir mussten weiter marschieren. Wir legten weitere acht Kilometer zurück und kamen in Bogosowo an, dort, wo wir bereits am 26. Juni gewesen waren. Gegen zehn Uhr abends kamen wir an einer Schule oder einem Vereinsheim an und legten uns erschöpft schlafen. Ich frage mich, wie meine Mutter diese Tage überstanden hat. Sie war schwächlich und korpulent und kannte solche Strapazen nicht. Aber sie war eben eine echte „yiddishe momme“. Das alles hat sie durchgestanden, und zwar nicht um selbst am Leben zu bleiben, sondern einzig und allein wegen ihrer Kinder und ihres Ehemanns. Ich habe sie immer für ihre Willensstärke bewundert.
Montag, 30. Juni. Neunter Tag nach Beginn des Krieges
Wir hatten etwas gegessen und wollten weiter fort, nur wohin? Die Panzerdivisionen der Heeresgruppe Mitte rückten immer näher an Smolensk heran. Am gleichen Tag eroberte die Wehrmacht Riga. Die Flüchtlinge versammelten sich in Gruppen. Die einen rieten uns, nach Polozk zu gehen, die anderen in die nördliche Richtung, nach Sebesch. Doch wie von Geisterhand gesteuert trafen wir die einzig richtige Entscheidung und machten uns auf den Weg nach Welikije Luki, in die nordöstliche Richtung.
Die Familie Ruch, 1937. Der erste von links ist mein Bruder Sascha. In der vorderen Reihe sind meine Mutter Hannah, ich und mein Vater Rahmiel.
Man muss betonen, dass wir erst in Weißrussland wieder als vollwertige Menschen angesehen wurden, hier konnte uns niemand mehr töten, nur weil wir Juden waren. Hier waren wir Flüchtlinge, wie alle anderen auch.
Als nächstes stand uns ein zweiwöchiger Fußmarsch bevor, zweihundertfünfzig Kilometer bis zur Station Pustoschi, die auf der Eisenbahnstrecke Riga – Moskau liegt. Meine Erinnerungen an diesen Zeitabschnitt sind bruchstückhaft. Nur einzelne Episoden sind mir in Erinnerung geblieben. Das war ein anstrengender Fußmarsch durch das weißrussische Gebiet und die Oblast Kalinin. Er barg jedoch keine tödliche Gefahr, denn hier gab es keine permanente Bedrohung, die von unerwartet schießenden Letten oder Litauern ausging.
Mein Vater folgte die ganze Zeit Feldwegen und Dorfstraßen, denn sie waren sicherer. Als wir die Kleinstadt Lisna passierten, gerieten wir in eine Kontrolle. Die NKWD verhaftete alle und überprüfte Papiere, weil sich auf diesem Gebiet viele Deutsche in geheimer Mission aufhielten. Auf dieser Waldfläche waren einige Flüchtlinge versammelt. Wie es der Zufall wollte, erkannten mein Vater und Sascha unseren entfernten Verwandten, Jakow Harit, einen Lehrer aus Kamajaj. Er hatte keine Papiere dabei und war zudem auf der Flucht aus Kaunas durch einen Schuss eines litauischen Partisanen am Schulterblatt verletzt worden. Wir nahmen ihn in unsere Gruppe auf. Es gelang uns, ihn durch die Kontrolle zu schleusen, denn Juden wurden nicht sehr intensiv überprüft.
Die lettischen und litauischen Komsomolzen, die ohne Papiere erwischt worden waren, wurden hinter dem Hügel an Ort und Stelle erschossen. Es war eben Kriegszeit.
Jakow hat uns nicht mehr verlassen. Er lebte mit uns nach unserer ersten Evakuierung in der Oblast Gorki und folgte uns später nach Usbekistan. Weil er eine Behinderung hatte, wurde er vom Kriegsdienst befreit. In der Kolchose arbeitete er als Schullehrer. Nach dem Kriegsende gingen wir nach Riga und er zog nach Vilnius.
Viele Jahre sind nach diesen tragischen Ereignissen vergangen. Vor dem Krieg hatten wir Juden fünfhundert Jahre lang mit Litauern in dieser kleinen Stadt in Ruhe und Frieden gelebt, in guten nachbarschaftlichen Verhältnissen. Und eines Tages beteiligten sich ebendiese Nachbarn am Massenmord an Juden, sie besetzten ihre Häuser und nahmen sich ihr Eigentum. Heute, siebzig Jahre später, quält mich nach wie vor diese eine Frage: Wie konnte das passieren?
[1]Der Autor irrt sich. Nach dem Rückzug der sowjetischen Streitkräfte am Abend des 23. Juni 1941 wurde die Kontrolle über die Stadt in der Tat von den bewaffne- ten Einheiten litauischer Nationalisten unter der Führung der aus dem Untergrund zurückgekehrten Litauischen Aktivistenfront übernommen. Zugleich wurde die Übergangsregierung Litauens gebildet. Am Abend des gleichen Tages wurde Kaunas von den Wehrmachtseinheiten eingenommen (Anm. der Redaktion).
[2]Zwischen dem 27. Juni und dem 16. August 1941 wurden in Rokiškis etwa 3.700 Juden ermordet. Darunter waren auch die Bewohner umliegender Ortschaften, wie die Juden aus dem Ghetto in Kamajaj (Anm. der Redaktion).