Erinnerungen
Evakuierung und Flucht

Leningrader Blockade

Efrussi Wladimir

Geboren 1935 in Odessa. Entstammt der bekannten jüdischen Kaufmannsfamilie Efrussi, die über Generationen in Odessa lebte und vor der Oktoberrevolution Weizen exportierte. Von Beruf Ingenieur, arbeitete Wladimir Efrussi im Bereich Bildungspsychologie. Lebt seit 1994 in Rischon LeZion, hat eine Tochter und eine Enkeltochter.

WIR HÄTTEN DUTZENDE MALE UMS LEBEN KOMMEN UND SPURLOS VERSCHWINDEN KÖNNEN

Der Krieg kam nach Odessa und brachte Fliegeralarmsirenen, Bombenangriffe und den Sauerkrautgeruch eines feuchten Kellers mit sich. Dieser Geruch verfolgte mich noch lange. Bei Luftangriffen rannten wir zum Keller, um uns vor den Bomben zu verstecken. Man sagte allerdings, bei einem direkten Einschlag einer Bombe mit einer Tonne Sprengladung hätte uns der Keller nicht schützen können. Und obwohl die Straßen mit Sonne geflutet und weiterhin belebt waren, übertrug sich die Anspannung der Erwachsenen auf uns Kinder. Die Erwachsenen diskutierten unterdessen darüber, was jetzt zu tun war und tauschten die neuesten Gerüchte untereinander aus.

Während der ersten Kriegstage lebte ein seltsamer Mann vorübergehend bei uns zu Hause. Er sprach schlecht Russisch.

Seine Zähne waren ausgeschlagen. Man sagte, er sei in den Händen der Deutschen gewesen, es war ihm aber gelungen zu fliehen. Einige Tage wohnte er bei uns und ging dann fort. Über sein weiteres Leben ist mir nichts bekannt. Möglicherweise hat uns das Schicksal dieses Mannes in dem Willen, die Stadt zu verlassen, bestärkt. Meine Mutter begann, erste Vorbereitungen zu treffen.

Ich mit fünf Jahren.

Das Kreisexekutivkomitee für Wasserverkehr war vorübergehend zuständig für die Fragen der Evakuierung. Diese Behörde bescheinigte uns – mir, meiner Mutter und meiner Oma, dass wir mit einem nach Lenin benannten Dampfer „aus einem frontnahen Gebiet evakuiert werden“. Aus Gesprächen habe ich mitbekommen, dass die „Lenin“ als ein Flaggschiff der zivilen Schifffahrt galt.[1]

Die Bescheinigung über die Evakuierung aus einem frontnahen Gebiet, 1941.

Mit einem LKW wurden wir mit einigen anderen Familien samt unserem Gepäck zum Passagierkai gebracht. Wenig später ertönte ein Fliegeralarm. Panik brach aus. Aus einzelnen Wortfetzen entnahmen wir, dass sich der Einstieg wieder verzögerte. Es glich einer Gesetzmäßigkeit: kaum gingen die Passagiere an Bord, schon begann ein erneuter Luftangriff. Es schien, als würde jemand die Deutschen darüber in Kenntnis setzen.

Ich erinnere mich an die haushohe Schiffsseite der Lenin und an die schmale Einstiegsleiter, die von den Menschen gestürmt wurde. Einige Frauen bekamen einen Schreck, als sie feststellten, dass es für sie kaum möglich sein würde, über die steile Leiter das Schiff zu besteigen.

Und wieder einmal mussten wir zum Ufer zurückkehren. Diesmal wurden wir in ein Kellergebäude des Instituts für Nahrungsmittelkonservierung gebracht. Die Zeit verging, die trostlosen Berichte von der Front beunruhigten uns zunehmend und lösten Gerüchte aus, die sich rasch verbreiteten. Letzten Endes erlaubte man uns, auf ein kleines Schiff namens

„Beresina“ zu steigen. Das war entweder ein Frachtoder ein Kombischiff, ich erinnere mich nicht mehr genau. Das Schiff stach in See. Am darauffolgenden Tag wurde die Beresina aus der Luft angegriffen. Ich erinnere mich daran, dass oben auf dem Deck platzierte Flakmaschinengewehre den Beschuss erwiderten. Von dieser Geräuschkulisse begleitet, wurden alle Passagiere in irgendeinen Raum ohne Fenster, vermutlich in einen Laderaum, gebracht und dort eingesperrt. Unter den Passagieren waren ausschließlich Frauen und Kinder. Die Frauen hämmerten mit den Fäusten gegen die Tür und forderten die Besatzung auf, sie zu befreien. Panik brach aus und übertrug sich auf die Kinder. Ich erinnere mich daran, wie groß mir damals die Nietköpfe erschienen, mit denen die Wände in diesem Raum befestigt waren. Wie wir später herausfanden, passierten wir zu diesem Zeitpunkt die Straße von Kertsch und hielten Kurs auf Mariupol.

Viele Jahre später begegnete mir „Beresina“ wieder, als ich den Schiffsnamen auf einer Marmortafel las. Das war im Maritimen Museum in Odessa, das sich in den Räumen des ehemaligen Englischen Klubs in der Puschkinstraße befand. Die Besatzungsmitglieder der Beresina sind für die heldenhafte Rettung der Verwundeten während der schweren Gefechte bei Sewastopol während des Zweiten Weltkriegs ausgezeichnet worden.

In Mariupol wurden wir direkt vom Hafen in eine leerstehende Schule gefahren. Die zahlreichen Flüchtlinge aus Odessa, denen wir dort begegneten, weinten verzweifelt. Sie hatten soeben vom Tod ihrer Angehörigen am Bord des Dampfers Lenin erfahren.

Rasch entstanden mehr oder weniger glaubwürdige Gerüchte über die Umstände der Katastrophe. Aus den Gesprächen der Erwachsenen ging hervor, dass mit diesem Schiff etwa dreitausend Menschen hatten evakuiert werden sollen. (Möglicherweise war diese Zahl sogar höher. Später konnte ich keine offiziellen Angaben zu den Todesopfern finden, ebenso wenig wie behördlich bestätigte Informationen über die Unglücksursache). Man sagte, dass unter den Passagieren zahlreiche Fachkräfte in leitenden Positionen gewesen waren, ebenso wie Vertreter der wissenschaftlichen und kulturellen Elite der Sowjetunion.

Im Sommer 2009 besuchte ich Odessa. Mein Klassenkamerad aus der Schule Nummer 47 erzählte mir, dass bei der letzten Fahrt der Lenin auch ein Verwandter von ihm ums Leben gekommen war. Er war einer der zweitausend Verwundeten aus Militärkrankenhäusern, die mit dem Dampfer aus der Stadt evakuiert werden sollten. Mein Klassenkamerad behauptete, das Schiff sei infolge eines Luftangriffs kurze Zeit nach dem Verlassen des Hafens untergegangen. Wie viele Flüchtlinge an Bord waren, ist weiterhin unklar und wird vermutlich für immer im Verborgenen bleiben. Heutzutage wird einem immer deutlicher, wie verlogen und zynisch die sowjetische Maxime „Niemand ist vergessen, nichts ist vergessen“ war, ebenso wie die Grundlagen dieses menschenverachtenden Regimes.

Es gibt auch andere Beispiele, welche diese Tatsache belegen. Akademiker Wassilij Dawydow, ein berühmter Wissenschaftler, erzählte mir während einer Allunionskonferenz für Psychologie die folgende Geschichte. Bereits nach dem Durchbruch der Leningrader Blockade wurde eine große Gruppe von Intellektuellen aus der Stadt evakuiert. Die Gruppe befand sich auf dem Weg in den Nordkaukasus, um dort die gesundheitlichen Folgeerscheinungen der Hungersnot behandeln zu lassen. Zu dieser Gruppe gehörte auch die erste Ehefrau eines Kollegen von Akademiker Dawydow mit ihren zwei Töchtern. Sie hieß Efrussi und war entweder meine Namensvetterin oder eine entfernte Verwandte von mir. Der Zug mit den Evakuierten gelangte plötzlich in ein Kampfgebiet und wurde während eines abermaligen Vorstoßes der Wehrmacht besetzt. Ein deutscher Offizier bat den Kommandanten des Zuges in höflicher Form, ihm die Namensliste der mitfahrenden Juden zur Verfügung zu stellen, angeblich, um sie vor den Angriffen jeglicher Kriegsparteien zu beschützen. Die Liste wurde dem Offizier übergeben, die Juden wurden von der Wehrmacht in Gewahrsam genommen. Kurze Zeit spä- ter wurden die Juden erschossen. Wer kennt heute schon diese Geschichte? Ist das so, dass nichts und niemand vergessen wurden?

Während unserer Odyssee hätten wir dutzende Male ums Leben kommen können. Wir hätten spurlos von der Erdoberfläche verschwinden können und niemand hätte jemals etwas über unser Schicksal erfahren. Der Tod lauerte auf Schritt und Tritt, doch irgendwie hatten wir uns damals mit diesem Gedanken abgefunden…

Die Front kam immer näher. Wieder wurden wir evakuiert, diesmal mit beheizten Güterwagen. Wir fuhren in östliche Richtung. Natürlich gab es keinen Fahrplan. Heute stelle ich es mir entsetzlich vor, wie meine Mutter und meine Oma, ebenso wie andere Frauen mit kleinen Kindern, ohne jegliche Hilfe auf den hohen Eisenbahnwagen klettern mussten. Der Wagen hatte keine Fußrasten oder Stufen und dort, wo der Zug hielt, existierten keine Bahnsteige. Es war bemerkenswert, wie sie es bei jedem Halt schafften, zur Station zu rennen, heißes Wasser zu besorgen und rechtzeitig zurückzukehren. Man kann es sich kaum vorstellen, wie sie es immer wieder schafften, Essen für uns zu besorgen, uns vor nächtlicher Kälte zu schützen und Hygienefragen zu lösen.

Ich erinnere mich daran, wie verzweifelt meine Oma versuchte, aus letzter Kraft auf den anfahrenden Zug aufzuspringen. Der Wagen ging ihr bis zur Brust. Wir waren nicht in der Lage, ihr zu helfen. Die Vorstellung, alleine in diesem Chaos in Frontnähe zurückzubleiben, ohne zu wissen, welche Richtung der Zug ansteuert, war für sie herzzerreißend. Dann geschah ein Wunder: der Zug bremste und jemand half Oma, auf den Wagen zu klettern. Man muss sagen, dass wir während unserer gesamten Odyssee fast immer auf Menschen trafen, die uns in schwierigen Momenten zu Hilfe kamen und uns in gefährlichen Situationen retteten. Das waren Menschen, deren Namen ich nicht erinnere und die möglicherweise kurze Zeit später ihr Leben verloren. Ich möchte mich vor ihnen verneigen, denn ohne sie hätten wir diesen mehrmonatigen Albtraum und die nachfolgenden Jahre nicht überlebt. Möge die Erinnerung an sie gesegnet sein!

Wir hielten in der Kosakensiedlung Krasnaja Jeja im Kuban-Gebiet. Man empfing uns mit einem ironischen Lächeln, vermutlich wegen unseres zerlumpten Aussehens. Nichtsdestotrotz waren die Menschen freundlich zu uns. Das war der letzte Ort, an dem wir ein paar Tage verbrachten, ohne zu hungern. Danach haben wir jahrelang gehungert. Dort hingegen gab es Brot, einmal haben wir sogar Huhn gegessen! Doch wieder wurde die Front durchbrochen und wir flüchteten abermals in Richtung Osten.

Oma Katja, ich und meine Mutter. Odessa, 1948.

Der Zug, mit dem wir unterwegs waren, transportierte Technik, die ins Hinterland evakuiert werden sollte. Einige Wagen waren überdacht, um die Geräte vor Witterung zu schützen. Die für die Evakuierung der Technik zuständigen Personen erlaubten es uns, auf den offenen Flachwagen mitzufahren. Sie waren nicht dazu verpflichtet, uns mitzunehmen, dennoch erlaubten sie es. Es war ein großes Glück, denn von weitem hörten wir bereits das Dröhnen schwerer Artilleriegeschütze. Ich erinnere mich, wie über unseren Köpfen ein deutscher Bomber patrouillierte und meine Mutter mich mit ihrem eigenen Körper beschützte. Glücklicherweise wurde unser Zug nicht bombardiert – wieder sind wir glimpflich davongekommen.

Wenig später fing es an, stark zu regnen. Wir nutzten eine vorsorglich von zu Hause mitgenommene Tischdecke aus Wachstuch als Regenschutz. Es stellte sich heraus, dass der Güterzug mit Technik Kurs auf Sibirien nahm. Gutherzige Menschen sahen, dass wir keine warme Kleidung besaßen und rieten uns dazu, in einen Zug in südliche Richtung umzusteigen. Um der Kälte zu entkommen, gab es nur eine Destination: Zentralasien.

Was anschließend passierte, ist schwer nachzuvollziehen. Plötzlich stand eine Militärpatrouille vor uns, die unseren Aufenthalt an diesem Ort für illegal erklärte. Aus irgendeinem Grund wurden wir gezwungen, in einen Zug in die umgekehrte Richtung einzusteigen. Wir fuhren nun wieder zurück, in Richtung der Frontlinie. An der nächsten Station wandte sich meine Mutter an einen der dort stationierten, zahlreichen Militärs. Zivilbevölkerung gab es dort bereits kaum. Die Militärs halfen uns dabei, in einen Zug in östliche Richtung zu steigen. Alles passierte sehr schnell. Viel später begriff ich, was geschehen war. Das Gebiet befand sich in den Händen eines Militärkommandanten, dessen Macht praktisch uneingeschränkt war. Möglicherweise hatten wir eine der willkürlich aufgestellten Regeln verletzt. Doch am Ende halfen uns dieselben Militärs. Sie retteten uns damit praktisch das Leben.

Unsere nächste Station hieß Machatschkala. Im riesigen Hafen angekommen, trafen wir dort erschreckend große Flüchtlingsmassen an. Hier passierte ein weiteres Wunder: wir trafen Opa. Er war der zweite Ehemann meiner Oma, dementsprechend nicht mein leiblicher Großvater. Das hatte allerdings keine Auswirkungen auf unser herzliches Verhältnis. Er hatte mit uns im Haus am Gretscheskaja Platz gelebt, wollte allerdings die Stadt nach dem Kriegsausbruch nicht verlassen. Doch wenige Tage nach unserer Abreise schlug in unserem Haus eine Bombe ein. Die Bombe durchbrach einen geschlossenen Fensterladen und ein Fenster mit Doppelverglasung und schlug direkt neben der Couch ein, auf der er lag. Nach diesem Erlebnis entschied er sich, das Schicksal nicht mehr herauszufordern und schloss sich der Familie seiner Tochter an. So trafen wir uns im Hafen von Machatschkala durch einen glücklichen Zufall, an jenem Ort, an dem man auf der Suche nach Verwandten in einem vieltausendköpfigen Menschenstrom aus Hoffnungslosigkeit schnell den Mut verlieren konnte.

Als nächstes mussten wir das Kaspische Meer passieren, um in die nach Fisch miefende Stadt Krasnowodsk zu gelangen. Von dort aus fuhren wir mit einem von einer Diesellok angetriebenen Personenzug mehrere Tage bis zum Hafen von Türkmenabat am Amudarja-Fluss, dessen Wasser schokoladenbraun war. Danach folgte eine lange Reise mit einer Frachtfähre, die von einem Schleppboot bugsiert wurde, zu einem Ort, dessen Name mir entfallen ist.

Es lohnt sich, einige Worte darüber zu verlieren, wie wir mit dem Schiff auf dem Amudarja unterwegs waren. Es handelte sich um eine reine Frachtfähre, die weder über einen Deckaufbau noch über Absperrungen verfügte. Flüchtlinge wurden in zwei Laderäumen untergebracht. Solange es hell war, wurde die Fähre bugsiert. Nachts legte man am Ufer an. Die Konstruktion der Fähre war nicht für den Personentransport bestimmt, deshalb hatte man kurzerhand ein Plumpsklo für eine Person gebaut. Vor dieser improvisierten Toilette bildete sich vom frühen Morgen an eine nicht enden wollende Schlange, in der man nur sehr langsam vorankam. Alle Menschen drängten ihre Vorderleute. Personen mit Magenproblemen stellten sich gleich wieder hinten an.

Im Laderaum nebenan sah ich zwei regungslose ältere Menschen. Sie flüsterten sich zu, dass sie bald sterben würden. Wenig später sprang der alte Mann ins Wasser. Ich wurde darauf aufmerksam, weil eine Frau anfing, verzweifelt zu schreien. Offensichtlich war es seine Tochter. Man schaffte es, den alten Mann lebendig aus dem Wasser zu holen. Man muss dazu sagen, dass es keine Ärzte oder Sanitäter an Bord gab. Trotzdem beschwerte sich niemand, jedem war bewusst, dass alle Ressourcen für die Front und für den Sieg mobilisiert werden mussten.

Wladimir Efrussi als Student am Technologischen Institut von Odessa. Wladimirs Familie: Seine Großmutter Katja, seine Mutter und sein Stiefvater Yefim Shusterman, 1958.

Am Ende unserer Odyssee fuhren wir zwei Tage lang mit einem Ochsenkarren mit ungewöhnlich großen Rädern durch eine Wüste. Der Ochsenspann wurde von einem Turkmenen gelenkt. Dieser trug seine riesige Schafspelzmütze so tief, dass man seine Augen nicht sehen konnte. Meine Mutter hatte Angst, dass er uns erstechen würde. Nach unserer Ankunft schenkte sie ihm aus Dankbarkeit mehrere Packungen grünen Tee, den sie für solche Fälle besorgt hatte. Der Mann lächelte und sie sah an seinem Blick, dass er ein herzensguter Mensch war.

Der Ochsenkarren brachte uns in eine kleine Kreisstadt in der Oblast Daschogus im Nordosten Turkmenistans. Meine Mutter blieb in der Stadt, wo sie in einem Kindergarten arbeitete. Meine Großeltern und ich begaben uns aufs Land. Dort lebten wir in einer Kolchose, die „Zweiter Fünfjahresplan“ hieß. Die Flüchtlinge hungerten, aber auch die Einheimischen hatten es nicht leicht. Als es völlig unerträglich wurde, gingen Opa und ich um die Häuser und fragten nach Essen. Mitunter gaben uns Einheimische einige Maisfladen. Sie waren sehr zäh und vermutlich war es nicht allen älteren Menschen möglich, sie zu essen. Weichere Fladen, die man in einem Spezialofen backte, waren Mangelware. Die Preise für alle Lebensmittel waren sehr hoch. In den vier Jahren in Turkmenistan wurde ich nur zweimal zum Plowessen eingeladen. Dieses Gericht wurde nur an wichtigen Feiertagen zubereitet.

Mein Opa hat es nicht mehr miterlebt. Er starb in einem kleinen Bezirkskrankenhaus im Alter von sechzig Jahren. Meine Mutter musste sich einer schweren Operation unterziehen. Höchstwahrscheinlich wurde die OP ohne Narkose durchgeführt, denn ich konnte sie vor Schmerzen schreien hören. Meine Großmutter meinte, sie habe bereits mit einem Fuß im Grab gestanden. Oma war diejenige, die meine Mutter gesundpflegte. Sie litt sehr darunter, dass sie für die Rettung meiner Mutter gezwungen war, mir einen Teil meiner Ration wegzunehmen.

Auch ich blieb von Krankheiten nicht verschont. Ich erkrankte an Dysenterie und konnte nichts essen. Man erzählte mir, dass ich den ganzen Tag nur gelegen habe, still und völlig abgemagert gewesen sei. Gerettet hat mich unsere turkmenische Nachbarin.

Sie brachte mir Heilkräuter und kochte mir Gerichte, die ich herunterbekam. Sie hat mir mein Leben gerettet, und ich weiß nicht einmal ihren Namen…

Heftig waren die Malariaanfälle, ebenso wie irgendeine saisonale Augenkrankheit, bei der die Augenlider verklebten. Es war beinahe unmöglich, morgens nach dem Schlafen die Augen zu öffnen. Doch am schlimmsten war der Hunger, der permanente Hunger, der einen Tag und Nacht verfolgte. Zum Glück erhielten wir in der Schule während der großen Pause ein Stück Schwarzbrot mit kleinen Strohspuren, etwa hundert Gramm. Dieses kleine Stück verdrückte ich blitzschnell. Doch danach wurde der Hunger noch größer. Darüber hinaus bereitete Oma eine Art Brei zu, doch dieser war kaum genießbar und es gab nie genug davon. Ich glaube, der Hunger hat die tiefsten Spuren hinterlassen und war für mich das größte Kriegstrauma. Noch bis 1948 fand man bei mir immer wieder ganze Stücke Trockenbrot, die ich unter dem Kissen versteckte. Zu groß war meine Angst, nochmals Hunger zu erleben.

Nach der Evakuierung und auch in den ersten Nachkriegsjahren gab es ein System von Lebensmittelmarken. Für eine Marke bekam man grobes Schwarzbrot. Zu jeder Ration erhielt man in der Regel eine kleine Zuwaage von ein bis zwei Stückchen. Vor dem Laden bettelten meist ältere Menschen und fragten nach Brot. Für gewöhnlich habe ich das Extrastück sofort an Ort und Stelle gegessen. Einmal erhielt ich zwei extra Stücke Brot. Ich hatte es noch nicht geschafft, sie zu essen, schon streckte mir eine der älteren Frauen ihre Hand entgegen. Es ist bedrückend zu sehen, wie alte Menschen betteln, zudem habe ich einen nachgiebigen Charakter. Ich hatte keine Kraft, „Nein“ zu sagen und gab ihr eines der Stücke. Das bekamen andere ältere Menschen mit, und schon sah ich mehrere Hände vor mir. Ich war gezwungen, auch das zweite Extrastück wegzugeben. Ich kehrte mit einem Kanten von etwa zweibis dreihundert Gramm nach Hause zurück.

In dieser Gegend lungerten zahlreiche Jugendliche herum. Höchstwahrscheinlich waren es ehemalige Sprösslinge der Erziehungskolonien für Minderjährige oder Heimkinder, von denen wohl einige aus den Erziehungsanstalten ausgebrochen und in die warmen Regionen geflüchtet waren. Andere wiederum waren vermutlich unfreiwillig auf der Straße gelandet. Erstaunlich war, wie stark bei ihnen der Antisemitismus ausgeprägt war. Mich und gleichaltrige Flüchtlingskinder, die auch zumeist Juden waren, bezeichneten sie abfällig als

„kleine Judenkinder“. Ich erinnere mich, dass sie bemerkenswerterweise das Wort „Jude“ auch als Verb benutzten, etwa als Synonym für „geizen“ oder „knausern“. Einen bleibenden Eindruck hat bei mir ein Lied hinterlassen, das von einem Gefängniswärter handelt, der sich mit einem jungen Insassen unterhält: „Hey, Junge, wie viele Seelen hast du denn hingerichtet?“ – „Achtzehn Orthodoxe“, sagt ein ehrlicher Junge mit gutem Gedächtnis, „und dreihundertfünfundzwanzig Judenschweine!“ – „Die Juden kann ich dir verzeihen“, antwortet der Gefängniswärter, „doch die Russen – keinesfalls!“ Er sei ein Patriot. In dem Lied verspricht der Gefängniswärter, den jungen Mann am nächsten Tag hinzurichten, durch Selbstjustiz und ohne Gerichtsurteil.

Verprügelt hat man uns nicht oft, und wenn wir uns nicht wehrten, dann blieben die Prügelattacken ohne besondere Wut. Essen und Kleidung haben sie uns trotzdem ständig weggenommen. Sie rissen uns das Essen aus den Händen und verdrückten es auf der Stelle.

Am 10. April 1944 wurde Odessa befreit. Ende 1945 begann für uns die mehrmonatige und steinige Heimkehr. Wir pilgerten von Ort zu Ort und übernachteten in Kellern und anderen zum Wohnen ungeeigneten Räumlichkeiten. Uns stand ein zweijähriger Kampf um unsere Wohnung bevor, die während der deutschen Besatzung durch eine gewisse Familie Fomin eingenommen worden war. Sie waren kategorisch dagegen, mit uns auch nur darüber zu reden und waren bereit, ihre Entschlossenheit mit einer Axt, die sie uns an der Eingangstür demonstrierten, zu bekräftigen.

Wie dem auch sei, uns blieb nichts anderes übrig, als auch nach dem Kriegsende mit allen Mitteln den Kampf ums Überleben zu führen. Das taten wir auch weiterhin. Doch das ist eine andere Geschichte, wie man es so schön sagt.

 


[1]Das Dampfschiff „Lenin“ (ursprünglich „Simbirsk“) wurde im Jahr 1909 in der Danziger Schiffswerft erbaut. Das Schiff war für 472 Passagiere und 400 Tonnen Fracht ausgelegt. Am 24. Juli 1941 verließ die Lenin mit über 3.000 Passagieren (die genaue Zahl war sogar Schiffskapitän Borissenko unbekannt) und viel Fracht an Bord den Hafen von Odessa. Nach dem Verlassen des Hafens musste die Lenin die Fähre „Woroschilow“, die einen Schaden erlitten hatte, nach Sewastopol bugsieren. Anschließend verließ die Lenin am 27. Juli den Hafen von Sewastopol. Am gleichen Abend kam es an Bord zu einer Explosion. Bis heute konnte die Ursache für die Explosion nicht endgültig geklärt werden. Eine der Theorien lautet, das Schiff sei von einem deutschen oder einem rumänischen U-Boot attackiert worden. Eine andere Hypothese besagt, die Lenin sei auf eine Mine gelaufen. Nur 500 Menschen konnten gerettet werden, alle anderen Passagiere und Besatzungsmitglieder sind ums Leben gekommen (Anm. der Redaktion).