Friedman (geb. Katz) Klara
Geboren 1934 in Schytomyr. Wurde während des Krieges nach Taschkent evakuiert. Wanderte im Jahr 1990 nach Israel aus. Lebt in Herzlia.
UNSERE ZWEIFACHE EVAKUIERUNG
Mein Opa Motl-Schames Katz war ein bedeutender Mann in Schytomyr. Er besaß ein großes Haus im Stadtzentrum, in der Samkowaja Straße. Auch seine Familie war groß: das Haus war bewohnt von ihm und Oma Brandl, ihren erwachsenen Söhnen Boris, Ljowa, Izik, Jascha, ihrem sechzehnjährigen Sohn Sascha und zwei verheirateten Töchtern Sonja und Basja.
Außer dem minderjährigen Sascha wurden alle Söhne meiner Großeltern schon wenige Tage nach Kriegsbeginn an die Front geschickt. Alle vier sind sie im Krieg gefallen. Darunter war auch mein Vater Izik, der direkt auf der Straße eingezogen wurde. Aus diesem Grund hatte meine Mutter keinerlei Papiere, die belegen konnten, dass mein Vater an der Front kämpfte. Aufgrund der fehlenden Bescheinigung erhielt unsere Familie während der schlimmsten und hungrigsten Kriegsjahre sowie nach dem Krieg keine finanziellen Zuwendungen, die normalerweise allen Soldatenfamilien zustanden.
So ist meine Mutter mit ihren drei Töchtern allein geblieben. Die eine war kleiner als die andere – die älteste Tochter Lisa ist 1932 geboren, ich bin Jahrgang 1934 und die jüngste Tochter Bronja ist erst 1941 zur Welt gekommen. Wir alle litten Hunger. „Ich will Brot! Gib mir Brot!“ – dieses verzweifelte Weinen hörte meine arme Mutter Tag und Nacht, über viele Jahre hinweg… Erst nach dem Krieg erhielt sie nach mehreren Anfragen eine Bescheinigung, aus der hervorging, dass ihr Ehemann, Gefreiter Isak-Awrum Mordkowitsch Katz, geboren 1906, im Jahr 1944 an der Front gefallen ist.
Nach dem Kriegsausbruch hat es keine organisierte Evakuierung aus Schytomyr gegeben. Russen und Ukrainer hatten es ohnehin nicht vor, die Stadt zu verlassen. Die Juden hingegen stürmten aus der Stadt – jeder, wie er konnte – nachdem die Gerüchte über die Gräueltaten der Deutschen durchgesickert waren. Opa setzte unsere Großmutter, Sascha, seine Töchter Sonja und Basja sowie die vier kleinen Enkeltöchter auf den Pferdewagen. Tante Sonja hatte eine Tochter, meine Mutter drei weitere, hinzu kam Welwl, der Ehemann von Tante Sonja. Das Pferd hatte große Mühe, unseren überladenen Wagen zu ziehen. Unsere Sachen haben wir von Anfang an zurückgelassen: man sagte uns, zwei Wochen später könnten wir wieder zurückkehren. Ich glaube, das war Anfang Juli 1941. Am 12. Juli nahmen die deutschen Einheiten Schytomyr ein.
Die Kinder fuhren auf dem Leiterwagen mit, die Erwachsenen marschierten nebenher. Während eines Luftangriffs wurde meine Mutter von einem großen Splitter am Bein getroffen. Daraufhin setzte man auch sie auf den Wagen. Das verletzte Bein bereitete ihr noch lange Qualen. Wenig später kamen wir in Belaja Zerkow an. Dort entschied sich die Familie von Tante Sonja, nach Schytomyr zurückzukehren – sie hatten dort die erblindeten Eltern ihres Ehemanns Welwl zurückgelassen, um welche sie sich große Sorgen machten. Wie es sich später herausstellte, bedeutete die Rückkehr nach Schytomyr den sicheren Tod.
Was unsere Familie angeht, verliefen wir uns auf der weiteren Flucht und marschierten beinahe in die Arme der Deutschen. Auf unserem Irrweg wurden wir von den Rotarmisten aufgehalten. Der Kommandant brüllte uns an: „Ihr Juden seid allesamt Verräter, nicht umsonst geht ihr zu den Deutschen rüber!“ Das Pferd haben sie uns weggenommen. Wir wurden gezwungen, uns in den Schützengräben zu verstecken. Glücklicherweise teilten die Soldaten ihre Verpflegungspakete mit uns. Später brachten die Rotarmisten uns zu einer Bahnstation. Von dort aus konnten wir unsere Flucht mit der Eisenbahn fortsetzen.
Die nächsten Tage verbrachten wir in Güterzügen, bis wir schließlich im Nordkaukasus ankamen. Wir kamen im Dorf Pokojnoje (Gebiet Ordschonikidse) nahe Wladikawkas unter. Dort blieben wir für etwa fünf bis sechs Monate. Wir richteten uns in einer Scheune ein. Darin hatten die früheren Bewohner eine Handvoll Weizen zurückgelassen. Opa mahlte die Körner auf einem Stein und bereitete Brei für uns zu. Diese Mahlzeit war lecker und nahrhaft. Während dieser Zeit wurde der jüngere Sohn meiner Großeltern, der sechzehnjährige Sascha Katz, an die Front eingezogen. Er kämpfte sich mit seiner Einheit bis nach Deutschland vor und kehrte 1947 zu seiner Mutter nach Taschkent zurück. Seine Uniform war mit Orden und Medaillen besät. Aufgrund einer Beinverletzung ist er jedoch mit einer Gehbehinderung von der Front zurückgekehrt. Er war der einzige Sohn meiner Großeltern, der den Krieg überlebt hat…
Da die Deutschen immer schneller in Richtung Nordkaukasus vordrangen, verließen wir Pokojnoje. Ich erinnere mich daran, dass wir mit einem großen Pferdewagen unterwegs waren. Vor unserer Abreise wurde mein Opa darum gebeten, das Vieh nach Machatschkala zu überführen. Noch heute erinnere ich mich gut daran, wie er die Pferde mit dem Ruf „Zob-zobe!“ anfeuerte. Nachdem Opa das Vieh in Machatschkala an die zuständigen Personen übergeben hatte, stellte sich für uns die Frage, wo wir als nächstes Unterschlupf finden sollten. Wir trafen die Entscheidung, uns entlang der kaspischen Küste nach Baku zu begeben. Wie und mit welchen Verkehrsmitteln wir dorthin kamen, erinnere ich leider nicht.
Nach unserer Ankunft in Baku hatten wir weder einen Dach über dem Kopf noch etwas zu essen. Nicht einmal Trinkwasser war ausreichend vorhanden: wir erhielten täglich hundert Milliliter Wasser pro Person. Der Strand wurde unser Zuhause. Wir schliefen direkt im Sand. Im Hafen von Baku versammelten sich unterdessen so viele Menschen, dass es keinen einzigen Fleck Erde gab, der frei von Menschen oder Gepäck war. Alle Flüchtlinge waren schmutzig und nissig. Meine Mutter schor uns deshalb nicht nur die Köpfe kahl, sondern rasierte auch unsere Wimpern und Augenbrauen ab, denn auch sie waren voller Läuse.
Nachts legten Schiffe mit Rekruten aus Zentralasien im Hafen an. Auf dem Rückweg brachten dieselben Schiffe Flüchtlinge nach Krasnowodsk. Es gab ein unbeschreibliches Gedränge. Die Menschen sprangen ins Wasser, um zum Schiff zu schwimmen und über das Fallreep an Bord zu gelangen. Wenn sich die Menschen im Gedränge verletzten, wurden sie einfach über Bord geworfen. Wie durch ein Wunder schafften es meine Mutter mit drei Kindern und meine Großeltern, sich einen Platz auf dem Schiff zu ergattern. Wenig später legten wir ab…
Ich erinnere mich noch gut an die dumpfen Geräusche der ins Wasser fallenden Gegenstände. Doch es handelte sich nicht um Gegenstände: es waren menschliche Körper derjenigen, die unterwegs verhungert oder verdurstet waren. Wir verließen Baku mit einem überfüllten Schiff. Als das Schiff in Krasnowodsk vor Anker ging, war es halbleer.
In Krasnowodsk angekommen, setzten wir unsere Reise mit Güterzügen fort. Schließlich kamen wir in Taschkent an. Auch dort waren vor dem Bahnhofsgebäude riesige Menschenmassen versammelt… In Taschkent lebten wir ein Jahr lang buchstäblich auf der Straße. Danach wurden auf Anweisung von oben die Räume der Klubhäuser und Kinos den Flüchtlingen zur Verfügung gestellt. Man erlaubte es uns, in einem Klubhaus zu schlafen. Dort lag auf dem Boden etwas Stroh, ansonsten gab es keine Annehmlichkeiten, es standen uns weder Wasser noch Toiletten zur Verfügung. Wir holten Wasser aus einem Bewässerungskanal und nutzten es sowohl zum Trinken als auch, um uns zu waschen.
Schon bald wurde es kälter. Meine Mutter musste ihre drei Kinder mit warmer Kleidung versorgen, damit wir nicht erfroren. Ihr blieb nichts anderes übrig, als Wischlappen zu stehlen, um damit unsere Füße einzuwickeln. Wenig später begann meine Mutter, bei der Ersten Schuhfabrik als Putzfrau zu arbeiten. Der Fabrikdirektor hieß Prochorow, er war ein Mann mit einem großen Herzen, der unserer Familie wahnsinnig viel Gutes getan hat, sowohl während als auch nach dem Krieg. Die Fabrik stellte Stiefel und Schuhe aus Kirsa, einem Kunstleder, für die Front her. Die Verpflegung in der Fabrik war gut: die Arbeiter wurden zur Genüge mit Suppe versorgt. Außerdem erlaubte Prochorow meiner Mutter, die Essensreste von den Tischen der Fabrikkantine für uns mitzunehmen. Nach der Schicht goss sie die Suppenreste in einen Topf und brachte sie mit nach Hause. Außerdem ließen uns die Wachen der Fabrik an der Pförtnerei durch. Wir Hungerleider marschierten direkt in die Kantine und leckten die Teller und Essensreste vom Tisch ab.
Trotzdem waren wir die ganze Zeit hungrig. Meine Mutter arbeitete zwölf Stunden am Tag. Ich erinnere mich daran, dass sie immer sehr spät nach Hause kam. Wir waren noch wach und fielen weinend über sie her: „Mama, gib uns Brot!“
Im Jahr 1944 wurde unsere Familie in eine Baracke umgesiedelt. In der Baracke waren acht Familien untergebracht. Zwar mussten wir weiterhin auf dem Boden schlafen, jedoch fassten wir diese Veränderung als großes Glück auf. Ich wurde eingeschult und musste meine Hausaufgaben im Liegen auf dem Boden erledigen. Nach der Schule ging ich von zwei bis fünf Uhr nachmittags zum Markt, um Almosen zu sammeln. Meine ältere Schwester weigerte sich kategorisch, eine Bettlerin zu sein, sie war zu stolz. Ich aber wollte meiner Mutter helfen und meine bereits auf dem Weg nach Taschkent an Polio erkrankte kleine Schwester unterstützen. Mal gaben uns die Leute auf dem Markt eine Kartoffel, mal ein kleines Stück Brot. Jedes Mal fühlten sich diese Gaben für uns wie ein Geschenk Gottes an.
Während wir die Baracke bewohnten, waren unsere Großeltern an einem anderen Ort untergebracht. Doch im Jahr 1945 begann sich mein Opa auf die Heimkehr nach Schytomyr vorzubereiten. Ständig wiederholte er beharrlich: „Ich will nicht in der Fremde sterben!“ Meine Mutter wollte nicht fahren, sie spürte, dass dort nichts Gutes auf uns wartete. Sie versuchte, Opa zu überzeugen, doch seinem Willen konnte sie sich nicht widersetzen, insbesondere nachdem er angedroht hatte, uns Kinder mitzunehmen („Sie tragen meinen Familiennamen, Katz!“, argumentierte er). Und schon waren wir wieder mit Güterwagen unterwegs, diesmal allerdings in westliche Richtung.
In Schytomyr angekommen, sahen wir nur einen Bombentrichter an der Stelle, wo früher das Haus unserer Großeltern gestanden hatte. Das war ein enormer Schicksalsschlag für uns. „Wo sollen wir bloß unterkommen?“, fragten wir uns. Wir gingen in die Schtschorsstraße, dorthin, wo Tante Sonja vor dem Krieg ihre Wohnung gehabt hatte. Schytomyr lag in Ruinen, doch ihr Haus war unversehrt geblieben. Wir klopften an der Tür und gingen hinein. Wir sahen, dass in der Wohnung immer noch dieselben Möbel standen – mein Opa hatte sie einige Jahre zuvor mit seinen eigenen Händen gebaut. Alles lag auf seinem Platz – unser Geschirr, unsere Teppiche… „Das ist die Wohnung meiner Tochter“, sagte mein Großvater. Doch die Ukrainer, die sich die Wohnung bereits 1941 angeeignet hatten, jagten uns weg. Dabei drohten sie, uns, die noch nicht getöteten Juden, zu erledigen. Sie riefen meinem Großvater hinterher: „Wenn du von hier nicht verschwindest, findest du dich dort wieder, wo deine Tochter gerade ist! Wir töten dich! Willst du nach Bogunien?“ So hatten sie den Wald von Bogun genannt – das Babyn Jar von Schytomyr, wo während des Krieges Juden erschossen wurden.[1] Es ist überliefert, dass die Deutschen vor dem Rückzug aus Schytomyr die Leichen in einem Massengrab verbrannten, um die Spuren der Verbrechen zu vertuschen. Erst vor zehn Jahren errichtete man dort ein Denkmal für die ermordeten Juden – finanziert von Menschen, die guten Willens sind…
Schon damals, im Jahr 1944, fragten uns die Ukrainer mehrdeutig: „Warum bist du denn noch gar nicht in Bogunien?“ Das sagten sie sogar zu mir, einem kleinen Mädchen, das auf dem Markt bettelte. Viele von ihnen waren während des Krieges bei der Hilfspolizei gewesen. Niemand von ihnen wurde nach dem Krieg dafür bestraft. Wir hatten einen direkten Vergleich: die Ukrainer behandelten uns, jüdische Flüchtlinge, viel schlechter als es die Usbeken in Taschkent getan hatten.
Die Wohnungsfrage blieb offen. Unsere Familie bestand aus sechs Personen – den Großeltern und der Mutter mit drei Kindern. Zuerst ließ uns eine nette Familie bei sich wohnen. Doch sie hatte eine Zweizimmerwohnung und selbst viele Kinder. Des- halb zogen wir in die Wladimirskaja Straße in ein Holzhaus, das sich neben einer katholischen Kirche befand. Dort richteten wir uns unter einer Treppe ein. Wir hungerten weiterhin und hatten aufgeblähte Bäuche. Aus Verzweiflung fasste meine Mutter den Entschluss, uns ins Kinderheim zu schicken. Was hätte sie auch tun sollen? Doch dazu sollte es nicht kommen: man weigerte sich, meine an Polio leidende kleine Schwester Bronja im Heim aufzunehmen und wir kehrten zurück in unsere winzige Ecke unter der Treppe. Meine Schwester Lisa und ich nahmen unsere Schulausbildung wieder auf und besuchten die Schule Nummer 7 in der Wilskaja-Straße. Damals hatten wir weder Lehrbücher noch Hefte. Nach der Schule ging ich zum Sennoj Markt, um dort zu betteln.
Am 30. März 1947 starb mein Opa infolge eines heftigen Asth- maanfalls. Nach seinem Tod hatten wir weder einen Sarg für ihn noch Geld für eine Beerdigung. Mit einem Leiterwagen brachten wir ihn zum Friedhof. Opa war einundsiebzig Jahre alt. Vor sei- nem Tod machte er sich Vorwürfe, uns zu einer Rückkehr aus Taschkent bewegt zu haben.
Wie sollte es für uns weitergehen? Meine Mutter traf die Ent- scheidung, Schytomyr wieder zu verlassen. Über mehrere Monate hatte sie bereits Briefverkehr mit Prochorow, dem Direktor der Taschkenter Schuhfabrik, wo sie während des Krieges als Putz- frau gearbeitet hatte. Er schickte uns sogar Geld für Lebensmit- tel. Prochorow schrieb meiner Mutter, dass sie im Falle einer Rückkehr ihren alten Job zurückbekommen würde. Und wieder setzten wir uns in einen Güterzug, wieder fuhren wir in östliche Richtung, wie bereits 1941. Sehr bald mussten wir unsere Fahrt unterbrechen und in der Oblast Saratow aussteigen. Meine kleine Schwester war völlig abgemagert und ein Schatten ihrer selbst. In Rtischtschewo kam sie ins Krankenhaus. Wir übernachteten am Bahnhof und ernährten uns von dem, was wir im Abfall fin- den konnten. Meine Mutter wickelte ein Stückchen Brot in ein Stofftuch und Bronja nuckelte den ganzen Tag daran. Sie weinte verzweifelt und flehte meine Mutter an: „Brot, gib mir Brot…“ Zwei Wochen später konnten wir unsere Fahrt in östliche Rich- tung wiederaufnehmen. Insgesamt dauerte unsere Reise nach Taschkent etwa zwei Monate.
Aber auch nach unserer Rückkehr nach Taschkent hatten wir es schwer. Es war weiterhin ein Leben voller Entbehrungen. Man kann sagen, dass wir eine zweite Flucht, eine zweite Evakuierung durchlebt haben. Meine Mutter arbeitete wieder bei Prochorow in der Fabrik. Das Geld reichte kaum für Lebensmittel aus. Wieder stellte sich für uns die Frage nach der Unterkunft. Die Klubhäu- ser hatten nach dem Krieg ihren Betrieb wiederaufgenommen, dort konnten wir nicht mehr übernachten. Endlich fand sich ein Mensch mit einem guten Herzen, der uns aufnahm. Das war Tante Bajka, unsere entfernte Verwandte, die ebenfalls aus Schytomyr kam. Sie wohnte mit ihrem Sohn in einer Baracke, die dem Wasserversorgungsbetrieb gehörte. Ihr Zimmer hatte sechs Quadratmeter, dort standen zwei Betten. Erst gingen Tante Bajka und ihr Sohn zu Bett, danach betraten wir das Zimmer, breiteten unsere Lumpen auf dem Lehmboden aus und legten uns schlafen. Glücklicherweise wurde meine Oma sehr bald von Tante Manja, der Cousine meines Vaters, aufgenommen und wir blieben zu viert bei Tante Bajka wohnen.
Meine Schwester Lisa und ich gingen wieder in die Schule. Bei mir in der Klasse gab es ein Mädchen namens Nelja, ich half ihr mit den Hausaufgaben. Aleksandr Fjodorowitsch Litwinenko, der Vater von Nelja, war der Direktor des Wasserversorgungs- betriebs. Er hatte versprochen, uns ein Zimmer in einer Bara- cke zu besorgen. Als ein kleines Zimmer frei wurde, durften wir dort einziehen. Es war winzig – vier oder fünf Quadratmeter… Doch auch hier half uns unsere liebe Tante Bajka – sie zog mit ihrem Sohn in das kleine Zimmer und wir durften weiterhin in ihrer alten Bleibe wohnen. In diesem Sechsquadratmeterzim- mer wuchsen wir auf, beendeten die Schule und lernten alle drei unsere späteren Ehemänner kennen. Doch all das ist erst viel spä- ter passiert…
Ich hatte einen weiten Schulweg und nahm immer die Straßen- bahnlinie 2. Gerade im Winter war es bitterlich kalt. Auch diesmal hatte ich keine warmen Kleider an, nicht einmal Strümpfe. Dann passierte ein Wunder. Eine Schaffnerin kam auf mich zu und sah, dass meine nackten Beine vor Kälte schwarz waren. Dann hob sie meinen Mantel hoch und stellte fest, dass ich nicht einmal einen Schlüpfer anhatte… Seit diesem Tag ließ mich die Schaffnerin Tante Nina nicht los. Sie nahm mich mit zu sich nach Hause. Sie wusch mich und zog mir eine Strumpfhose an. Sie gab mir etwas zu essen. Nachdem sie erfahren hatte, dass ich zwei Schwestern hatte, packte die liebe Frau auch für die beiden etwas zu essen ein. Aus dieser Begegnung wurde ein regelmäßiger Kontakt. Von nun an war ich für Nina Mamedowa wie eine Tochter. Viele Monate lang stand ich nach der Schule am vereinbarten Ort an der Haltestelle „Tabakfa- brik“ und wartete auf die Straßenbahn. Als die Tram kam, erhielt ich von Tante Nina ein kleines Paket. Darin befand sich stets eine große Stulle. Ich biss kein Stück davon ab, sondern brachte sie nach Hause. Das Brot wurde unter den Schwestern geteilt. Früher war Tante Nina, die Russin war, mit einem Usbeken verheiratet gewe- sen. Sie hatten keine Kinder und obwohl ihr Ehemann sie geliebt hatte, verließ er sie für eine usbekische Frau, mit der er später Kin- der bekam. Tante Nina blieb allein. Als ich später auf eigenen Füßen stand, zahlte ich es Tante Nina für ihre Herzenswärme zurück. Sie hatte mir geholfen, einem kleinen Mädchen mit Knien, die schwarz vor Kälte waren. Und so versuchte ich, sie zu pflegen und mich um sie zu kümmern, als sie krank wurde. Damals sind uns viele solch herzensgute Menschen begegnet…
Im März 1948 wurde in der Sowjetunion das System der Lebens- mittelmarken abgeschafft. Von nun an durfte man Brot frei erwerben. In der Folgezeit weichten wir oft einen ganzen Laib Brot in Wasser ein und saugten die Flüssigkeit aus, anstatt es zu essen. Dadurch entstand ein Völlegefühl im Magen, doch das Hungergefühl verschwand nicht. Auch erinnere ich mich daran, wie wir genüsslich an der Spezialität namens „Makucha“ lutsch- ten, aber ich weiß nicht mehr, aus welchen Zutaten diese Deli- katesse bestand.[2] Doch die köstlichste aller Delikatessen war Schildkrötenfleisch. Einige Jungs, die wir kannten, jagten Schild- kröten in den Bergen von Chimgon. Sie brachten die Schildkröten nach Taschkent und kochten sie in großen Kesseln. Sie gaben uns etwas Brühe und Fleischstückchen. Das war köstlicher als Hühn- chen! Ab und zu erlaubten uns die Usbeken, vom Baum gefallene und auf der Erde liegende Maulbeeren bei ihnen im Garten zu sammeln. Sobald die Beeren reif waren, bedeckten sie ganze Gär- ten und Höfe. Wir freuten uns über die Beeren und die Usbeken hatten auch etwas davon, denn die Höfe waren hinterher sauber.
Ständig streunten wir durch die Gegend auf der Suche nach Essen. Außerdem durchwühlten wir den riesigen Müllberg hinter dem Zaun der Schuhfabrik. Auf dem Abfall landeten alle möglichen Reste der Schuhproduktion, aber auch Fehlproduktion, beispiels- weise brauchbare Stiefel oder Schuhe aus Kunstleder. Auf dem Müllberg suchten wir mit einem Magneten nach kleinen Nägeln, die wir später an die Schuhmacher verkauften. Ich beschaffte bis zu hundert Gramm Nägel am Tag! Meine Mutter fand auf dem Müllberg Kunstlederstiefel für uns. Sie waren riesig und meine Mutter stopfte sie mit Waschlappen aus, damit sie passten. Ich weinte und weigerte mich, sie zu tragen.
Als ich vierzehn Jahre alt wurde, gab mir Aleksandr Fjodo- rowitsch Litwinenko eine Arbeit beim Wasserversorgungs- betrieb. Alle dreißig Minuten musste ich Wasserproben entnehmen. Ich arbeitete nachts und es war gruselig, denn ich war ganz allein. Andererseits konnte ich etwas Geld verdienen und meine Mutter wenigstens etwas unterstützen. Meine Mut- ter überlegte, uns jeweils ein Kleid zu kaufen, denn wir drei hatten nur ein Kleid aus Viskose, das wir abwechselnd trugen! Zu diesem Zeitpunkt besuchte ich bereits die Industriefach- schule. Ab und an setzte ich mich während des Unterrichts in die hinterste Reihe und holte den Schlaf nach. Man war gnädig zu mir und weckte mich nicht auf: alle wussten, dass ich nachts arbeiten ging.
Nach der Fachschule absolvierte ich ein Studium am Institut für Volkswirtschaft in Taschkent. Im Jahr 1957 lernte ich meinen zukünftigen Ehemann Wladimir Iosifowitsch Friedman kennen. Wir sind bis heute zusammen und haben zwei Söhne und fünf Enkelkinder. Die Familie meines Mannes war ebenfalls im Zuge der Evakuierung nach Taschkent gekommen und hat viel Leid erfahren. Seine Mutter Gitja arbeitete in einer Fallschirmfabrik und hatte große Mühe, ihre drei Söhne zu ernähren. Während des Krie- ges erhielt sie eine Todesbenachrichtigung über ihren Ehemann… Eines Tages im Winter 1944 ging sie zum Fluss Kaschgarka, um Wäsche zu waschen, das Eis brach und sie ist ertrunken… Wie die drei Söhne ohne sie überlebt haben, ist eine andere Geschichte. Mischa, der jüngste von ihnen, lag drei Jahre lang mit einem vor Hunger aufgeblähten Bauch im Krankenhaus…
Meine ältere Schwester Lisa gewann mehrere Schulolympiaden, schloss ihre Schulausbildung mit Auszeichnung ab und nahm ein Studium am Institut für Pädagogik auf. Sie heiratete einen Mann aus unserer Baracke. Roman Borisowitsch Sapozhnikow war habilitierter Geophysiker und auf seismische Tomographie spezialisiert. Auch meine jüngere Schwester Bronja beendete die Schule und heiratete einen lieben Mann namens Mischa. Ihr Leben lang litt sie unter den Folgen ihrer Polioerkrankung, eines ihrer Beine war kürzer als das andere.
Viele Jahre später, als ich bereits erfahrene Fachkraft und Gewerkschaftsleiterin einer Strickwarenfabrik war, arbeitete ich im zweiten Stock des Gebäudes, das früher als Klubhaus der Fabrik gedient hatte und wo während des Krieges Flüchtlinge untergebracht worden waren, unter anderem meine Schwes- tern, meine Mutter und ich. Als wir uns eines Tages über die Kriegszeit unterhielten, erzählte ich meiner Kollegin Faina, die als Chef-Buchhalterin des Gebietsexekutivkomitees der Gewerk- schaft tätig war, dass ich damals im Erdgeschoss jenes Gebäudes untergebracht gewesen war und zusammen mit anderen Flücht- lingen auf dem Boden geschlafen hatte. „Bist du damals in die Schule gegangen?“, fragte Faina Sagidulowna. „Ja, ich habe die Schule Nr. 73 besucht“, antwortete ich. „Ich auch“, sagte Faina, – „Wie hieß deine Klassenlehrerin?“ – „Sie hieß Anna Iwanowna.“ – „Meine auch!“ – „Waren wir also in einer Klasse?“, fragte Faina und fuhr fort: „Erinnerst du dich an das eine Mädchen, ich weiß nicht mehr, wie sie hieß, sie war immer hungrig, ein Strich in der Landschaft, wahrscheinlich hat sie den Krieg nicht überlebt…“ Ich habe für einen Moment geschwiegen. Dann sagte ich: „Weißt du, liebe Faina, sie ist am Leben! Ich bin dieses Mädchen, ich bin es, Klara Katz.“ Als Faina begriff, dass ich dieses Mädchen war, verlor sie die Fassung. Sie weinte vor Glück, als sie erfuhr, dass ich die Kriegszeit überlebt habe.
[1]Trotz eines schnellen Vormarschs der Wehrmacht schaffte es die Mehrheit der jü- dischen Bevölkerung Schytomyrs, die Stadt zu verlassen. Zwischen Juli und Okto- ber 1941 wurden die Juden aus Schytomyr und dem dazugehörigen Bezirk durch ein SS-Sonderkommando und Einheiten der ukrainischen Hilfspolizei erschossen. Die Erschießungen fanden hauptsächlich im Waldort Bogun statt. In Schytomyr und im Bezirk Schytomyr wurden während der Besatzung insgesamt zwischen 7.000 und 9.500 Juden ermordet (Anm. der Redaktion).
[2]Vermutlich handelt es sich um eine Art Presskuchen, hergestellt aus Sonnenblu- menkernen (Anm. des Übersetzers).