Lewikowa Irina
Geboren 1935 in Witebsk. Arbeitete dort bis zu ihrer Auswanderung nach Israel im Jahr 1991 als Kinderärztin. Lebt in Haifa, hat zwei Kinder und zwei Enkelkinder.
ES SCHIEN, ALS WÜRDE DIESER ALBTRAUM NIEMALS ENDEN
Anfang Juli 1941 ging meine Mutter zum örtlichen Wehrersatzamt. Ein Offizier mit zwei Balken auf seinen Schulterklappen[1] sagte zu ihr: „Die Lage an der Front hat sich gebessert, es gibt keinen Grund, die Stadt zu verlassen.“ Mit dieser Argumentation erhielten wir keine Ausreisegenehmigung.
Mein Vater wurde mit seinen siebenundvierzig Jahren zur Armee eingezogen. Meine Mutter war Hausfrau und hatte nicht gearbeitet. Organisierte Evakuierung war nur für diejenigen vorgesehen, die in Fabriken und Betrieben tätig waren. So saßen wir nun in Witebsk fest und verstanden nicht so recht, was wir tun sollten.
Die Wehrmacht marschierte am 9. Juli in Witebsk ein.[2] Wir versteckten uns in den Kellerräumen einer Kirche, die gegenüber von unserem Haus stand. Alle Kinder waren sich sicher, man würde uns hier niemals finden.
Gleichzeitig fingen einige Männer bereits am selben Morgen an, mit Äxten Lebensmittelgeschäfte zu plündern. Niemand ging mehr zur Arbeit. Wir sahen Milizionäre, die entlang der Stadtmauern in Richtung der Smolensker Landstraße flohen. Meine Schwester war Komsomolzin, sie sagte zu meiner Mutter: „Mach was du willst, aber ich nehme die Kinder mit und wir verschwinden, die Deutschen werden uns sonst töten.“ Meine Mutter wollte nicht aus der Stadt fliehen, sie sagte, die Deutschen seien ein kultiviertes Volk. Sie hatte die deutsche Besetzung 1918 in der Ukraine erlebt und erzählte, dass die Deutschen den Juden gegenüber wohlgesinnt waren. Darüber hinaus wollte meine Mutter das Haus und die Kuh nicht zurücklassen.
Und doch fassten wir die Entscheidung, den Milizionären hinterherzulaufen – ohne lange zu überlegen und uns groß auf die Flucht vorzubereiten. Wir hatten Kleiderröcke und Hausschuhe an. Meine Mutter kehrte nur kurz zum Haus zurück, um zu überprüfen, ob die Türen fest verschlossen waren. Unsere Papiere verstaute sie in der Tasche ihres einzigen Mantels. Als wir aufbrachen, nahm sie ihren Mantel mit. Obwohl ich damals erst sechs Jahre alt war, erinnere ich mich sehr gut an all diese Einzelheiten.
Lange Zeit marschierten wir zu Fuß auf der Smolensker Landstraße, gemeinsam mit den Einheiten der Roten Armee, die sich auf dem Rückzug befanden. Wir waren nur nachts unterwegs.
Tagsüber versteckten wir uns in den nahegelegenen Wäldern, denn die Straße wurde permanent bombardiert. Es war schwer für meine Mutter, mich in ihren Armen zu tragen. Ab und an halfen ihr Soldaten, indem sie mich auf einen Panzer setzten oder auf die Arme nahmen. Mit uns auf der Flucht waren meine Oma und meine Tante mit ihren drei Kindern – einem Mädchen in meinem Alter, einem zwei Jahre jüngeren Jungen und einem dreimonatigen Mädchen – sowie ihrem Kindermädchen, einer russischen Frau. Wir waren schon fast bei Smolensk, als ein Auto an uns vorbeifuhr; es war ein GAZ-M1, genannt „Emka“.4 Es hielt an und wir wurden gefragt, ob wir mitgenommen werden wollten. Daraufhin setzte man die gesamte Familie meiner Tante und auch mich ins Auto. Plötzlich merkte ich, dass meine Mutter nicht eingestiegen war. Ich bekam Panik und sprang aus dem Autofenster direkt auf die Straße. Zerkratzt und blutend rannte ich zu meiner Mutter. Sie hingegen war sauer und versohlte mir prompt den Hintern – ich habe ein solches Glück, sie lassen mich mitfahren und ich verzichte auf diese Gelegenheit?! So marschierten wir weiter zu Fuß. Dieses Auto war wie von der Erdoberfläche verschwunden. Nie wieder sahen wir unsere Verwandten.
Wenig später lag die kleine Stadt Rudnja auf unserem Weg. Die Stadt brannte von zwei Seiten. Wir liefen durch diesen schmalen Korridor, gefangen zwischen zwei tobenden Feuerwänden. Heute noch sehe ich dieses Feuer oft in meinen Albträumen: ich versuche zu entkommen, doch die Flammen holen mich immer wieder ein…
Wir waren etwa zwei Wochen lang unterwegs. Nachts waren wir auf der Straße, tagsüber versteckten wir uns im Wald. Zahlreiche Menschen waren mit uns auf der Flucht: Alte, Frauen und Kinder. Als es zu dämmern begann, gingen wir auf die Straße und marschierten schnell, im Laufschritt. Meine siebzigjährige Oma und meine Mutter hatten geschwollene Beine. Auch die Kinder waren erschöpft und fragten verzweifelt nach Wasser. Es war sehr heiß und obwohl wir hungrig waren, war der Durst stärker. Auch ich wurde bockig und meine Mutter ging in den Wald, um nach Moos zu suchen. Sie presste die Flüssigkeit aus dem Moos heraus und gab sie mir zu trinken. Das reichte aber nur für etwa zwanzig Minuten – danach war man wieder sehr durstig.
Mit uns zusammen war eine Familie auf der Flucht: ein Mann mit seiner Ehefrau und drei Töchtern, die alle älter als ich waren. Sie sagten, sie wollten schnellstmöglich ankommen und würden nicht mit uns bis zum Einbruch der Dunkelheit warten. Sie sind losgezogen. Wir machten uns erst später auf den Weg. An der Straße angekommen, sahen wir ein fürchterliches Bild. Die drei Mädchen lagen auf der Straße, sie waren von einer Bombe getötet worden. Ich werde nie vergessen, wie ihre Eltern ihre leblosen Körper unter eine Birke legten. Das blieb mir für immer in Erinnerung.
Als wir in Smolensk angekommen waren, dachten wir, es wäre tiefstes Hinterland. Doch dann wurde es hell und wir sahen deutsche Flugzeuge über der Stadt kreisen. Mit großer Mühe kämpften wir uns zum Bahnhof vor, kamen glücklicherweise unversehrt an und erwischten einen Zug.
Wir fällten die Entscheidung, nach Rschew weiterzufahren. Dort lebte der Cousin meines Vaters. Unsere Reise führte über Moskau. Als wir dort angekommen waren, begann ein Bombenangriff und es wurde befohlen, uns in einer U-Bahnstation zu verstecken. Nach dem Luftangriff kehrten wir zu unserem Wagen zurück. Dort sahen wir, dass unser Zug durch Bomben vollständig zerstört und niedergebrannt worden war. Abgebrannt war auch der Mantel meiner Mutter samt unserer Papiere.
Am Ende kamen wir doch in Rschew an. Dort fanden wir heraus, dass mein Onkel zur Armee eingezogen worden war, um in einem Militärkrankenhaus zu arbeiten. Er sollte am nächsten Tag nach Jaroslawl versetzt werden. Mein Onkel ließ uns als seine Familienmitglieder auf die Liste setzen. So folgten wir ihm nach Jaroslawl.
In Jaroslawl arbeitete meine Mutter in der Wäscherei, im selben Krankenhaus wie mein Onkel. Die Deutschen warfen Flugblät ter ab, die besagten, sie würden Rybinsk dem Erdboden gleichmachen und Jaroslawl in ein Meer verwandeln. Die einheimische Bevölkerung Jaroslawls war überwiegend russisch. Man sagte über uns, die „jüdischen Panikmacher“ wären in die Stadt gekommen. Wenig später schlug eine Bombe in das Haus einer Frau ein, die uns so bezeichnet hatte. Dabei kam ihre Mutter ums Leben. Diese Frau nannte uns nie wieder „Panikmacher“. Des Öfteren bekamen wir das Wort „Judenschwein“ zu hören. Doch meine Schwester war ein zähes Mädchen und konnte solchen Leuten stets Paroli bieten.
Anfangs übernachteten wir bei einer Hausbesitzerin. Wir besaßen überhaupt nichts. Unsere Gastgeberin legte uns kleine, selbstgenähte Teppiche auf den Fußboden. Dort schliefen wir, alle in einer Reihe. Etwa drei Wochen später stellte man uns eine Art Sommerzelt zur Verfügung, das früher als Gemüsestand gedient hatte. Nach dem Wintereinbruch ließen uns Einheimische bei sich wohnen. Wir waren in einer Toilette untergebracht, die kurzerhand in ein kleines Zimmer umfunktioniert worden war, während stattdessen eine Außentoilette gebaut wurde. In unserem neuen Zimmer wurden Pritschen eingebaut, die meine Mutter jeden Abend vor dem Schlafen mit Hilfe heißer abnehmbarer Herdplatten erwärmte. Zu Pessach nutzte meine Mutter diese Herdplatten, um Matzen zu backen.
So lebten wir einige Zeit, bis meine Mutter ein kleines Waisenmädchen traf, deren Vater und Bruder zur Armee eingezogen worden waren. Das Mädchen lebte alleine im Haus ihrer Familie. Ihren Namen weiß ich heute noch, sie hieß Manja Majorowa. Meine Mutter erklärte sich bereit, auf sie aufzupassen und für sie zu sorgen. Manja war etwas älter als ich, aber jünger als meine Schwester. Sie ging noch nicht in die Schule. Das Holzhaus, in dem sie lebte, hatte zwei Stockwerke. Wir richteten uns im oberen Stockwerk ein. Erst dann konnten wir uns etwas von den Strapazen der letzten Monate erholen.
Der Winter war eisig kalt. Meine Mutter arbeitete von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends in einem vorgeschobenen Lazarett. Brot erhielten wir gegen Lebensmittelkarten. Dafür musste man sich um drei Uhr nachts in die Schlange einreihen. Als meine Schwester Polja vierzehn wurde, ging sie auch arbeiten.
Meine Mutter galt als eine erstklassige Schneiderin. Anfangs arbeitete sie in einer Wäscherei, wo sie blutdurchtränkte Uniformen und Kleidung wusch. Aus zerrissenen Soldatenmänteln fertigte sie warme Winterstiefel für mich an. Ich weiß noch, wie einheimische Kinder mich auslachten, als sie mich mit diesen Stiefeln im Kindergarten sahen. Alle Einheimischen trugen Filzstiefel. Es schien mir, als würde dieser Albtraum niemals enden.
Dann erkrankte ich an Röteln. Ich hatte vierzig Grad Fieber und konnte nicht in den Kindergarten gehen. Die Wäscherei meiner Mutter befand sich in den Kellerräumen des Lazaretts. Man hatte mir auf der Treppe ein improvisiertes Bett gemacht. Dort lag ich eingerollt in Stofffetzen und wartete frierend auf meine Mutter. Um mich zu beschäftigen, nähte ich mir kleine Puppen und spielte mit ihnen.
Ständig gab es Bombenangriffe. Gegenüber von unserem Haus befand sich die chemische Fabrik „Majak“, ebenso unweit von unserem Haus, direkt an der Wolga, stand ein Reifenwerk. Die Deutschen versuchten ständig, diese Fabrikanlagen zu zerstören. Wir waren permanent unter Beschuss und mussten uns oft in Schützengräben verstecken.
Im Jahr 1942, als bei Stalingrad erbittert gekämpft wurde, hatte meine Mutter einen Traum über die Mutter meines Vaters, die bei einer Geburt gestorben war, als mein Vater erst zwei Jahre alt war. Sie erschien meiner Mutter im Traum und legte ihr ein kleines Säckchen unter das Kopfkissen. Wenige Tage später kam der erste Lazarettzug aus Stalingrad am Bahnhof an, wie es sich herausstellen sollte, der erste von vielen. Die Verwundeten wurden am Bahnhof erwartet und direkt vor Ort den jeweiligen Abteilungen im Lazarett zugeordnet. Den Soldaten wurden ihre Mäntel und das Verbandmaterial abgenommen und zur Wiederverwendung gewaschen. Wir Kinder mussten nach dem Waschen die sauberen Binden für neu ankommende Verwundete zusammenwickeln.
In einem der unzähligen Lazarettzüge war mein Vater, der am Bein verwundet worden war. Während seiner Genesung arbeitete er wie andere verwundete Soldaten direkt im Krankenhaus. Er war für die Brotanlieferung aus der Bäckerei zuständig. Dann erhielt er einen Brief von der Musterungsbehörde. Er sollte sich beim Wehrersatzamt melden, um wieder an die Front geschickt zu werden. Der Lazarettleiter ging mit meinem Vater zur Musterungsbehörde und überzeugte die Verantwortlichen davon, ihm nicht „seine letzten Krüppel wegzunehmen, denn irgendjemand muss die Lazarettarbeit unterstützen“. So blieb mein Vater bei uns und wurde vor dem sicheren Tod im Inferno von Stalingrad gerettet.
Das Lazarett wurde von einem Ort zum nächsten verlegt. Wir waren bei Leningrad, in Kisski, fünfzehn Kilometer von einem schrecklichen Gemetzel in einem frontnahen Gebiet entfernt. Ständig hörten wir Explosionen und Krach. Dann kamen wir erst nach Krustpils und wenig später nach Jēkabpils in Lettland. Alle jüdischen Häuser dort waren leer. Man hatte uns die weißen Markierungen neben den Hausnummern gezeigt. Diese stammten von den Letten, welche die Juden eigenhändig getötet hatten. Die Russen waren bei den Letten ebenso verhasst. Vor meinen Augen ermordeten sie einen russischen Marinesoldaten in einer Bäckerei. Durch die Wälder zogen Banden, die sowjetische Soldaten angriffen und töteten. Wir wussten das deshalb, weil auch nach Ende des Krieges sehr viele Soldaten ins Lazarett eingeliefert wurden.
Als wir nach dem Sieg über Nazi-Deutschland nach Witebsk zurückkehrten, sahen wir eine völlig zerstörte Stadt, die nur aus Ruinen bestand. Auch unser Haus, das unsere Familie und die Familie meines Opas noch vor dem Krieg von einem orthodoxen Geistlichen gekauft hatten, war abgebrannt. Erst mieteten wir uns ein Zimmer in einer Straße in der Nachbarschaft, später kauften wir es dem Eigentümer ab. Alle haben unser Haus als das „Ungezieferhaus“ bezeichnet, denn dort lebte eine unfassbare Anzahl an Bewohnern, in jedem Loch, in jeder Ecke, im Keller und auf dem Dachboden.
Viele unsere Angehörigen waren während des Krieges umgekommen. Mein Großvater mütterlicherseits, der in Beschenkowitschi lebte, wurde von der einheimischen Hilfspolizei verraten und ermordet. Die gesamte Verwandtschaft meines Vaters wurde getötet. Sie wohnten in Bahnhofsnähe, schafften es jedoch trotzdem nicht, die Stadt zu verlassen und starben im Ghetto. Dort, wo das Haus seiner Familie stand, wurde später ein Theater gebaut, doch eine seltsame Fügung wollte es, dass seiner Eröffnung immer etwas im Wege stand, immer wieder passierte etwas…
Vom Schicksal der älteren Menschen im Ghetto erzählten uns sowohl Juden, denen die Flucht gelungen war, als auch nichtjüdische Bewohner. Ältere Juden wurden auf Booten in die Mitte des tiefen Stroms Düna, der hohe Ufer und viele Schlammstellen hatte, herausgefahren und dort ertränkt. Andere starben in mobilen Gaskammern…
[1]Major der Roten Armee (Anm. des Übersetzers).
[2]Witebsk ist eine Kreisstadt in der Weißrussischen Sowjetrepublik, heutiges Weißrussland. Im Jahr 1939 lebten in Witebsk 37.095 Juden (22,2% der Bevölkerung). Nach Kriegsbeginn flohen zahlreiche Juden aus Westweißrussland nach Witebsk. Obwohl mit der organisierten Evakuierung der Bevölkerung erst am 4. Juli 1941 begonnen wurde, schaffte es ein erheblicher Teil der jüdischen Bevölkerung, aus der Stadt zu fliehen. Viele Juden wurden in die Rote Armee eingezogen. Am 9. Juli wurde Witebsk von der Wehrmacht eingenommen. Hinrichtungen von Juden begannen bereits am gleichen Tag. Bis zur Errichtung des Ghettos Ende Juli 1941 wurden durch das Sonderkommando 7 mehrere Tausend Juden ermordet. Das Ghetto zählte etwa 13.000 jüdische Häftlinge. Es wurde zwischen November und Dezember 1941 aufgelöst. Die Erschießungen wurden durch das Einsatzkommando 9 mit Hilfe der weißrussischen Hilfspolizei durchgeführt (Anm. der Redaktion).