Erinnerungen
Evakuierung und Flucht

Leningrader Blockade

Heyfez Michail

Geboren 1934 in Leningrad. Lebte in Leningrad, wo er als Historiker, Journalist und Schriftsteller tätig war. Seit seiner Auswanderung im Jahr 1980 lebt er in Jerusalem, er hat zwei Kinder und vier Enkelkinder.

DER ERNST DER LAGE WAR MIR ÜBERHAUPT NICHT BEWUSST

Als der Krieg ausbrach, war ich sieben Jahre alt. Ich besuchte die älteste Gruppe im Kindergarten. Unser Kindergarten befand sich in der Wosstanija-Straße in Leningrad. Den Sommer verbrachten alle Kinder jedoch wie jedes Jahr auf einer Datscha in Siwerskij. Ich konnte schon lesen und kannte mich mit der Europakarte aus. Ich wusste auch, dass wir mit Deutschland friedliche Beziehungen hatten und sah, welche Freude meine erwachsenen Verwandten darüber verspürten. Auf der Datscha gab ich vor den Dorfjungen damit an, wie gebildet ich war – beispielsweise, weil ich wusste, dass wir mit Deutschland in Frieden lebten. Einer von ihnen eröffnete mir dann die Wahrheit. So erfuhr ich, dass wir uns schon längst im Krieg mit Deutschland befanden! Niemand in unserer Kindergartengruppe hatte davon etwas gehört…

Eines Abends hat man alle Kinder plötzlich versammelt und nach Leningrad gefahren. Anschließend wurden wir in einer Schule in der Nähe unseres Kindergartens untergebracht. Ich weiß noch, dass ich mich dort sehr unwohl fühlte, denn in der Schule hatte ich keine Schlafsachen und die Eltern waren noch nicht benachrichtigt worden. Glücklicherweise kam meine Mutter bald, um mich abzuholen und nach Hause zu bringen.

Später erzählte mir meine Mutter, dass unser Kindergarten in ein anderes Dorf, nach Malaja Wischera, evakuiert werden sollte. Im Nachhinein habe ich erfahren, dass dieses Dorf von der Wehrmacht besetzt wurde. Seit diesem Tag, an dem mich meine Mutter abholte, habe ich niemanden aus meinem Kindergarten gesehen und weiß nicht, ob es einem der evakuierten Kinder gelungen ist, aus diesem Dorf zu entkommen.

Meine Mutter und ich begannen, uns auf die Flucht aus Leningrad vorzubereiten. Ich kann nicht mehr genau sagen, wann wir die Stadt verlassen haben. Ich war sieben Jahre alt und konnte vermutlich nicht einmal die Namen der Monate richtig aufzählen. Allem Anschein nach muss das vor August 1941 passiert sein, denn am 29. August wurde die letzte Eisenbahnstrecke nach Leningrad von den Deutschen abgeriegelt.

Es war uns also gelungen, mit einem Zug aus der Stadt zu fliehen. Wir waren mit einem Güterwagen unterwegs, wie übrigens auch vier Jahre später auf der Heimreise. Damals kam uns das nicht ungewöhnlich vor. Ich empfand die gesamte Fahrt als ein spannendes Abenteuer und war neugierig auf alles. Besonders Orte und Ortsnamen interessierten mich. Aus irgendeinem Grund hatten die Bahnhöfe doppelte Bezeichnungen – in Kirow lautete die Durchsage „Wjatka“ und in Perm hieß die Station „Molotow“… Ich erinnere mich an die ständig besorgten Erwachsenen, die sich fragten, ob es Luftangriffe geben würde und ob bei einem Halt genug Zeit bliebe, um bei der Station Wasser zu holen. Letztendlich blieben unserem Zug die Luftangriffe erspart, obwohl wir über Tausend Kilometer durch das Gebiet zurücklegten, welches von der Wehrmacht bombardiert wurde. Natürlich waren diese Tage strapaziös und anstrengend für die Erwachsenen, für mich als kleinen Jungen war diese Reise aber ein aufregendes Abenteuer. Mir war der Ernst der Lage überhaupt nicht bewusst. Ich war zutiefst überzeugt, dass die Rote Armee nichts anderes tat, als die Feinde an allen Fronten zu schlagen. So hatte man es uns im Kindergarten beigebracht…

Ich (links), Galja und Mischa Aschmarin, die Kinder der Leiterin der Apotheke, in der meine Mutter arbeitete. Snamenka, 1942

Über Umwege erreichten wir neun Tage nach unserer Abfahrt Swerdlowsk[1] und fuhren weiter. Endlich stiegen fast alle Passagiere in der Stadt Irbit im Ural aus. Für die örtlichen Verhältnisse war das eine relativ große Stadt mit einem Kino, mehreren Schulen und einem Landeskundemuseum. Die erste Nacht verbrachten wir im Theater, wo alle Evakuierten vorübergehend untergebracht wurden. Wie alle anderen schlief auch ich in einer Loge – aufgrund dieser Erfahrung lernte ich dieses für mich neue Wort.

Menschen kaum erwarten, bis Hitler und seine Leute bis in den Ural vorstießen.

Die Arbeitssuche meine Mutter war bald von Erfolg gekrönt. In Leningrad hatte sie als Chemikerin an einem Forschungsinstitut gearbeitet, war aber durch ihr Studium auch als Pharmazeutin qualifiziert. Pharmazeutische Fachkräfte waren insbesondere in den ländlichen Gebieten immer gefragt. Wir wurden auf einen Pferdewagen gesetzt und über die Berge zum neuen Arbeitsort meiner Mutter gefahren. Im Dorf Snamenka (Gebiet Jelansk) befand sich eine Apotheke, die mehrere umliegende Dörfer und Ortschaften mit Medikamenten versorgte. Dort arbeitete zu diesem Zeitpunkt bereits eine Frau namens Milja, die ebenfalls aus Leningrad geflohen war, jedoch brauchte sie eine Assistentin. Die Apotheke befand sich in einem Haus, das früher vermutlich einem orthodoxen Geistlichen gehört hatte. Auch die Dorfkirche war umfunktioniert worden – man nutzte sie als Stall zum Dreschen von Getreide.

So begann unser Dorfleben. Wenn ich mich heute an diese Zeit erinnere, finde ich es erstaunlich, wie zwei Frauen aus der Stadt – meine Mutter und Tante Milja – das Alltagsleben auf dem Land meisterten. Ich weiß noch, wie sie sich eine Kuh wünschten, doch die konnten wir uns nicht leisten. Trotzdem schafften sie sich Schweine, Hühner und anderes Vieh an. Darüber hinaus haben sie die Beete umgegraben, den Garten mit allerlei Obst und Gemüse bepflanzt, bewirtschaftet und geerntet, Gemüse eingelegt, konserviert und im Keller für den Winter verstaut, den Ofen geheizt und sind beim Kochen sehr geschickt mit der langen Ofengabel umgegangen.

Und auch wir Kinder verhielten uns wie richtige Dorfjungen und -mädchen – wir waren fischen, gingen in den Wald, um Beeren zu sammeln, schafften uns eine Katze und einen Hund an und kümmerten uns um sie. Nach und nach brachte ich mir alles bei, was für ein Leben auf dem Land nötig war: wie man einen Kartoffelacker bewirtschaftet, welche Pflege Tomaten und Gurken benötigen, wie man eine Sauna heizt, was ein Hängeboden ist, wie man Wasser vom Brunnen holt und es dann mit einem Eimer aus dem Wasserfass schöpft. Galja, die Tochter von Tante Milja, und ich gingen zur Schule. Durch den Krieg und unsere Flucht gewann ich im Grunde genommen ein Jahr meines Lebens hinzu – damals wurde man erst mit acht Jahren eingeschult, doch ich als Stadtjunge, der lesen und viele Gedichte aufsagen konnte, durfte schon als Siebenjähriger in die erste Klasse gehen.

Die Alltagssorgen meiner Mutter bestanden vor allem darin, ihren Sohnemann satt zu bekommen, und diese Aufgabe meisterte sie mit Bravour. Kleider und Jäckchen, die sie aus Leningrad mitgebracht hatte, tauschte sie in entlegenen Dörfern gegen Mehl ein. Auf dem Dorf lebte man oft besser als in den Städten, denn man konnte sich durch die eigene landwirtschaftliche Produktion selbst versorgen. Jegliche Kleidung aus der Stadt war allerdings enorm wertvoll, denn die Dörfer wurden während der vier Kriegsjahre nicht mit Waren beliefert. Das Geld verlor gänzlich an Wert, aber gegen Kleidung konnte man sich etwas beschaffen oder eintauschen…

Ich mochte es in Snamenka. Dort konnte ich ein für mich neues Leben erkunden, arbeitete auf dem Feld, backte nachts mit den Schäfern über dem Lagerfeuer Kartoffeln, schlief auf dem Hängeboden – das alles war unbekannt und aufregend für mich! Darüber hinaus war ich für gewöhnlich satt. Das Essen war zwar wahnsinnig eintönig, aber was kann man auf dem Dorf während des Krieges anderes erwarten. Natürlich hatte es meine Mutter wesentlich schwerer… Hinzu kam, dass unser Alltag an das Zusammenleben in einer Kommunalka, einer sowjetischen Wohngemeinschaft, erinnerte und die gleichen Probleme mit sich brachte: man hing die ganze Zeit aufeinander, kochte in einer Küche und so weiter. Vermutlich hielt es meine Mutter deshalb irgendwann nicht mehr aus, mit Tante Milja und ihrer Tochter in einem Zimmer zu wohnen. Nach zwei Jahren zogen wir von Snamenka nach Irbit um.

Dort fing meine Mutter an, in der Apotheke des evakuierten Lazaretts Nr. 1715 zu arbeiten. Das Lazarett befand sich in einer ehemaligen Schule. Wir mieteten eine kleine Ecke in einem Haus. Die Hausherren beklauten uns, doch es fällt einem schwer, diesen älteren Leuten einen Vorwurf zu machen, denn sie ließen uns bei sich wohnen, um wenigstens etwas dazu zu verdienen. Ab und an konnten wir der Versuchung nicht widerstehen, etwas Mehl aus einer fremden Truhe zu entführen. Übrigens begegnete ich zu der Zeit wieder der Frage nach meiner jüdischen Herkunft. Als meine Mutter die Hausherrin bezichtigte, uns beklaut zu haben, versuchte diese sich zu rechtfertigen: „Dafür bist du eine Jüdin!“ Nach diesem Vorfall konnte ich mir endlich sicher sein, dass ich Jude war!

Im Gegensatz zu vielen Gleichaltrigen hatte ich den Antisemitismus allerdings schon vor dem Krieg gekannt. Beim Spielen im Hof wurde ich verhauen, mit der Begründung, ich sei ein Jude. Aus dem gleichen Grund traten mir die Kinder beim Klettern auf der Sprossenwand mit Absicht auf die Finger. Das versuchte man gar nicht zu verheimlichen. Aus irgendeinem Grund behaupteten die Erwachsenen später gerne, vor dem Krieg hätte es keinen Antisemitismus gegeben. Vielleicht waren sie als Erwachsene durch die Miliz und andere Behörden davor geschützt, das weiß ich nicht, doch uns auf der Straße spielenden Kindern wurde ganz deutlich vermittelt: am schlimmsten war es, eine Petze zu sein und am zweitschlimmsten ein Jude.

Während des gesamten Aufenthalts im Ural lebte man den Antisemitismus uns gegenüber jedoch völlig unverhohlen aus. Ich werde mich mein Leben lang erinnern, wie ich einmal auf dem Weg zu meiner Mutter ins Lazarett war, als ich von einer Clique Jugendlicher auf einer Brücke abgefangen wurde. Sie drehten mir die Arme nach hinten, legten mir einen Strick um den Hals und führten mich ab. Den neugierig fragenden Erwachsenen erklärten sie: „Wir wollen den Judenbengel hängen.“ Und die Erwachsenen gaben nur verständnisvolle Laute von sich. Ich hatte nicht sehr viel Angst, ich nahm das Spektakel nicht zu ernst, doch die Wut – vor allem auf die Erwachsenen – kochte noch lange nach diesem Zwischenfall in mir. Schließlich schaffte ich es, zu entkommen. Doch während der Zeit im Ural wurde mir klar, dass es nichts Gutes bedeutete, als Jude in der Sowjetunion zu leben, denn das bedeutete, ein Mensch zweiter Klasse zu sein. Überall hörte man antisemitische Liedchen über Abram und Sara, Witze und widerliche Andeutungen…

Dafür gewöhnte ich es mir im Ural an, viel zu lesen und stieß dort auf viele interessante Bücher. Bei den Einheimischen zu Hause und sogar in Bibliotheken gab es zahlreiche alte Bücher zu entdecken. Dort fand ich viele Werke von politisch verfolgten Schriftstellern, denn in dieser Provinz wusste damals niemand, dass ihre Bücher bereits verboten waren. So gesehen war diese Zeit auch ein Gewinn für mich – ich wurde belesener und entwickelte mich weiter.

In den vier Jahren im Ural erging es mir relativ gut. Ich war vergleichsweise satt, und was Kleidung und Schuhe angeht, glaube ich, dass damals niemand an Luxus dachte. Hauptsache, man hatte etwas zum Anziehen – alles andere war nicht von Bedeutung. Eigentlich trug ich sogar in den älteren Klassen der Mittelschule in Leningrad drei Jahre lang den gleichen grünen Skianzug – bis zu meinem siebzehnten Lebensjahr hatte ich schlichtweg keine andere Alltagskleidung.

Genau vier Jahre nach unserer Flucht kehrten wir im August 1945 schließlich nach Leningrad zurück.

 


[1]Jekaterinburg, die viertgrößte Stadt Russlands, hieß zwischen 1924 und 1991 Swerdlowsk (Anm. des Übersetzers).