Satz Berta
Geboren 1919 in Odessa, wo sie bis zu ihrer Auswanderung nach Israel lebte und als Zahnärztin tätig war. Lebt in Aschdod, hat eine Tochter, eine Enkeltochter und zwei Urenkel.
DIE WUNDEN IN UNSEREN HERZEN WERDEN NIE VERHEILEN
Wenige Tage vor der Besetzung Odessas durch die Wehrmacht floh ich mit der Schwester meines Mannes und ihren zwei Kindern unter Luftangriffen und den Hausbränden entkommend aus der Stadt.
Meine Mutter Sonja Alt und meine ältere Schwester Zilja sind in Odessa geblieben. Als Ziljas Mann in die Armee eingezogen wurde, blieb sie allein mit ihren zwei Kleinkindern. Hinzu kam, dass sie im letzten Monat schwanger war. Ihre russischen Nachbarn und die Hausmeisterin überzeugten sie, dass die Deutschen fortschrittliche Menschen seien und sie nichts zu befürchten brauchten. Und obwohl sich Zilja und meine Mutter mitten in den Abreisevorbereitungen befanden, hörten sie schließlich auf diese Leute und blieben. Noch am selben Tag, an dem die Deutschen in Odessa einmarschierten, warfen dieselben Nachbarn meine Mutter, meine Schwester und die Kinder auf die Straße, wo sie sofort von den Nazis verhaftet wurden. Die Deutschen brachten sie ins Ghetto, wo sie alle umgekommen sind.
Sonja Alt mit ihren Verwandten. Odessa, Ende der 1930er Jahre.
Mein Bruder Jakow Alt war als Bergbauingenieur vom Wehrdienst befreit, meldete sich jedoch freiwillig an die Front und ist in den ersten Kriegsmonaten gefallen. Mein Ehemann wurde in die Armee eingezogen und hat ebenfalls im Krieg sein Leben verloren.
Am 6. August 1941 machten die Schwester meines Mannes Ewa Schestopal, ihre Kinder und ich uns in überfüllten Schnellbooten auf den Weg nach Nikolajew. Die Boote wurden aus der Luft angegriffen und wir mussten uns mit großer Mühe über den Landweg bis nach Nikolajew durchkämpfen. Um die Stadt zu erreichen, mussten wir den Fluss Bug über die Warwarowskij-Brücke passieren. Kaum hatten wir einen Fuß auf die Brücke gesetzt, schon wurden wir erneut bombardiert. Dieser Angriff forderte viele Todesopfer und Verletzte. Nur durch ein großes Wunder war es uns gelungen, zu überleben.
Wir setzten unsere Flucht mit Pferdewagen fort, doch kamen wir aufgrund von Luftangriffen und Chaos auf den Straßen nicht voran. Wir waren gezwungen, in der prallen Sonne und vom Hungergefühl geplagt viele Kilometer zu Fuß zurückzulegen. Wir versteckten uns vor den Luftangriffen, wo wir nur konnten. Endlich war es uns gelungen, uns in einen der überfüllten Güterwagen zu quetschen. Sie waren zwar beheizt, doch von Wasser, Essen oder Toiletten konnte nicht die Rede sein.
Jascha, älterer Bruder, der zu Beginn des Krieges nahe Lwiw ums Leben kam.
Berta nach ihrem Hochschulabschluss als Zahnärztin.
Wir wurden in den Ural gebracht und kamen in einer Erdhütte unter. Um etwas Suppe zu bekommen, mussten wir Schlange stehen. Einige Zeit später zogen wir weiter nach Frunse, in die Kirgisische Sowjetrepublik, wo wir bis zum Kriegsende blieben. Als der Krieg vorbei war, kehrten wir nach Odessa zurück. Zu Hause angekommen, wurden wir von den neuen Hausherren ruppig an der Tür abgewiesen. Nach all dem Leid, das wir hatten erfahren müssen, nachdem wir alle unseren Verwandten, Angehörigen und Freunde verloren hatten, standen wir nun ohne ein Dach über dem Kopf vor dem Nichts. Wir wanderten umher und waren gezwungen, am Bahnhof zu übernachten.
Eines Tages passierte ein Wunder. Als wir in der Nähe unseres Hauses herumirrten, trafen wir zufällig meine Schwester Esther, die, wie es sich herausstellte, sofort nach der Befreiung Odessas in die Stadt zurückgekehrt war. Wir waren grenzenlos glücklich und weinten vor Freude. Wieder unternahmen wir einen Versuch, in unser altes Haus zurückzukehren. Wieder wurden wir von den Besetzern abgewiesen. Wenig später trafen wir unsere alten Nachbarn, denen das gleiche Schicksal wiederfahren war. Sie waren etwas früher nach Odessa zurückgekommen und hatten anfangs auch keine Bleibe gehabt. Nun übernachteten sie gezwungenermaßen in einem tiefen Keller ohne jegliche Annehmlichkeiten. Dort nahmen sie mich, meine Schwester und die Kinder fürs Erste auf. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar.