Berman Alexander
Geboren im Jahr 1935 in Leningrad. Der auf Elektrophysik spezialisierte Ingenieur und promovierte Biologe lebte und arbeitete in Leningrad. Nach seiner Auswanderung nach Israel im Jahr 1990 war er an der Hebräischen Universität in Jerusalem sowie am Weizmann-Institut für Wissenschaften in Rechevot tätig. Lebt in Jerusalem, hat zwei Kinder und vier Enkelkinder.
DIE ERINNERUNGEN IN MEINEM HERZEN
Für mich und meine Angehörigen begannen die mit dem Holocaust im Zusammenhang stehenden tragischen Ereignisse elf Tage vor dem Kriegsbeginn. Am 10. Juni 1941 schickten meine Eltern Lew Sacharowitsch und Tatjana Alexandrowna Berman mich und meine Schwester Lilja aus Leningrad nach Białystok. Dort sollten wir die Sommerferien bei unserer Oma und der Schwester meiner Mutter, deren Mann dort bei der NKWD diente, verbringen. Das bot sich an: die Leningrader Freunde meiner Eltern machten sich gerade auf den Weg in diese Gegend und erklärten sich bereit, uns zu den Verwandten zu bringen. Unsere Eltern sollten etwas später dazukommen, ihr Urlaub begann am 25. Juni.
Wenige Minuten vor der Abfahrt des Zuges nahm mein Vater mich wieder mit nach Hause: er hatte im letzten Moment entschieden, dass ich noch zu klein für eine solche Reise war. Ich war zu diesem Zeitpunkt sechs und meine geliebte Schwester Lilja dreizehn Jahre alt. Durch diese Entscheidung meines Vaters habe ich überlebt. Meine Schwester, Oma Frida Ratnowskaja, Tante Esther und ihr Sohn, mein Cousin Sascha Bäum, und viele weitere Verwandte von mir verloren ihr Leben. Zahlreiche Angehörige von mir, sowohl mütterlicher- als auch väterlicherseits sind umgekommen. Sie kamen aus Berjosa-Kartusskaja[1], Antopol und Iwazewitschy. Sie hießen Berman, Ratnowskij, Grinberg, Unterman, Jaglom, Feinsteyn… Möge die Erinnerung an sie für immer wach bleiben…
Meine Schwester Lilja und ich. Lilja ist elf, ich dreieinhalb Jahre alt. Leningrad, Juli 1938.
Białystok wurde am zweiten Kriegstag von den Nazis besetzt. Später erfuhren wir, dass unsere Bekannten, die mit Lilja nach Białystok gefahren waren, mit dem Auto zum Haus unserer Oma kamen, um Lilja zurück nach Leningrad mitzunehmen. Doch Lilja sagte, sie könne Oma Frida nicht alleine lassen. Oma Frida wollte bei ihrer Tochter Esther bleiben. Tante Esther wiederum wartete auf die Rückkehr ihres Mannes Isja, der auf einer Dienstreise war…
Viele Jahre später lernte ich Wladimir Tschernojenko kennen, der erst mein Arbeitskollege war und später mein Freund wurde.
Als der Krieg begann, lebte seine Familie ebenfalls in Białystok. Er war damals noch ein Baby. Seine Mutter nahm ihn und floh zu Fuß aus der Stadt. So konnten sie sich vor den Nazis retten.
Im Laufe meines ganzen Lebens kehre ich zu diesen Ereignissen zurück, doch ich kann mit der Vergangenheit nicht abschließen… Der tragische Tod meiner Verwandten, insbesondere der meiner älteren Schwester Jelisaweta, genannt Lilja, die 1927 geboren wurde, lässt mich nicht los. Als ich bereits in Israel lebte, fand ich im Telefonbuch eine Frau Namens Jelisaweta Lwowna Berman. Nicht nur der vollständig Name, sondern auch das Geburtsjahr stimmte mit dem Namen meiner Schwester überein. Ich habe sofort ihre Nummer gewählt. Doch es passierte kein Wunder: ich sprach mit einer Namensvetterin meiner älteren Schwester.
Vor meiner Ausreise nach Israel besuchte ich sowohl Berjosa-Kartusskaja als auch Bronnaja Gora, einen wenige Kilometer außerhalb der Stadt liegenden Ort, wo die Nazis die jüdischen Bewohner Berjosas und etwa fünfzigtausend Juden aus umliegenden Schtetl und verschiedenen Ländern Europas ermordet haben. Die Holocaustüberlebenden und andere ehemalige Bewohner Berjosa-Kartusskajas trafen sich jahrzehntelang in Israel. Manche von ihnen kamen noch vor dem Krieg, im Kindesalter nach Eretz Israel, andere wiederum waren Häftlinge im Ghetto von Berjosa und konnten sich retten, indem sie sich bewaffneten und bis zu den Partisanen durchkamen, um anschließend in den Reihen der Roten Armee zu kämpfen.[2] Aber es gab auch andere, beispielsweise diejenigen, die von der Sowjetmacht nach der Teilung Polens aus Berjosa-Kartusskaja nach Sibirien deportiert worden waren und dadurch überlebt haben. Im Jahr 1939 war Polen entsprechend dem Hitler-Stalin-Pakt zwischen der UdSSR und Hitler-Deutschland aufgeteilt worden. Seitdem gehörte das jüdische Schtetl Berjosa-Kartusskaja, wo meine Eltern geboren und aufgewachsen waren und wo weiterhin meine Oma Frida Ratnowskaja lebte, zur Sowjetunion. Im Sommer 1940 fuhr meine Mutter nach vielen Jahren zum ersten Mal nach Berjosa-Kartusskaja, um meine Oma zu besuchen, und nahm mich mit. Meine Mutter erzählte, dass am Bahnhof Güterwagen standen, mit denen die Bewohner Berjosas und umliegender Orte nach Sibirien deportiert werden sollten. Das waren Menschen, die sich nach einem Wiedersehen mit denjenigen Verwandten sehnten, die auf dem von Deutschland annektierten Gebiet lebten. Diejenigen, die diesen Wunsch laut äußerten, wurden nach Sibirien deportiert.
Die ehemaligen Bewohner Berjosas trafen sich einmal im Jahr in Tel Aviv, um den Landsleuten zu gedenken, die im Holocaust umgekommen sind. Dieser Tradition blieben sie achtundfünfzig Jahre lang, bis 2006, treu. An einem Friedhof in Tel Aviv existiert ein Denkmal für die aus Berjosa-Kartusskaja stammenden Opfer des Holocaust. Heute sind noch etwa dreihundert Zeitzeugen am Leben. Nach dem Krieg blieb nur ein Jude aus Berjosa-Kartusskaja in der Gegend, und zwar in Iwazewitschy. Das war Adam Äpelbaum, der als Kind aus dem Ghetto entkommen war und sich einer Partisaneneinheit angeschlossen hatte. Er stellte den Kontakt zwischen dem Untergrund im Ghetto von Berjosa-Kartusskaja und den Partisanen her. Heute leben sein Sohn Leonard sowie seine fünf Enkel – Adam, Dawid, Ori, Eduard und Elwira Äpelbaum – in Israel.
Nach meiner Auswanderung nach Israel lernte ich zahlreiche Verwandte meiner Mutter kennen, die der Ermordung durch die Nazis entkommen waren. Darunter ist unter anderem Wera Serpinskaja, die zusammen mit ihrer Mutter Frida Bakschansjaka (geb. Grinberg) ins Warschauer Ghetto gebracht wurde und entkommen konnte. Sonja Grinberg, die Cousine meiner Mutter, war Teil der französischen Résistance-Bewegung und wurde nach dem Sieg über die Nazis und der Befreiung Frankreichs mit dem Orden der Ehrenlegion ausgezeichnet. Sie hatte von ihrem eigenen Geld mehrere Wohnungen in Paris gekauft, die sie in Untergrundlazarette für verwundete Résistance-Kämpfer umfunktionierte. Sie genoss ein hohes Ansehen innerhalb der Bewegung und wurde Madame Sophie genannt. Sie trug stets Waffen bei sich und konnte gut schießen. Mehrmals riskierte sie während dieser Zeit ihr Leben. Jahrelang lebte sie zuerst im unter dem Völkerbundsmandat stehenden Palästina und später in Israel. Dort wurde sie nach ihrem Tod im Kloster der Schwestern unserer Lieben Frau von Sion in Ein Kerem, Jerusalem, beerdigt.
Die Cousins meiner Mutter – Awigdor, Dawid und Jakow Grinberg – lebten vor dem Kriegsausbruch mit ihren Eltern in Brest, an der Grenze zum durch das Deutsche Reich besetzten Teil Polens. Ihre Eltern waren Besitzer einer noch heute in Brest existierenden Apotheke, die heutzutage Apotheke Nr. 1 heißt. Den älteren Brüdern Awigdor und Dawid war es gelungen, in den Osten zu fliehen und bis nach Aschchabad zu kommen, wo sie sich der Anders-Armee anschlossen. Dort trafen sie Menachem Begin, den sie aus Brest gut kannten, denn sein Vater war der Hauslehrer ihrer Familie. Im Jahr 1942 kamen Awigdor und Dawid zusammen mit Menachem Begin nach Palästina. Im Folgenden gründete der ältere Bruder Awigdor Grinberg ein Unternehmen, das in ganz Israel im Bereich Straßenplanung und -bau tätig war. Dawid Grinberg wurde ein berühmter Schriftsteller und Regisseur, war Autor mehrerer Romane und Filme über den Holocaust. Er schrieb unter dem Pseudonym Alexander Ramati. Ihr jüngerer Bruder Jakow (Jack) Grinberg, der zu Kriegsbeginn dreizehn Jahre alt war, erlebte den Krieg mit seinen Eltern auf dem durch die Nazis besetzten Gebiet der Sowjetunion. Während der gesamten Besatzungszeit musste er sich mit seinen Eltern im Wald verstecken. Nach Kriegsende fand Dawid Grinberg seine Eltern und seinen jüngeren Bruder in einem Vertriebenenlager und brachte sie nach Palästina. Später zog Jack Grinberg in die USA und wurde Großunternehmer sowie bekannter Mäzen.
Nun zurück zu meiner Geschichte. Meine Mutter und ich flüchteten im Juli 1941 aus Leningrad nach Ufa. Mein Vater blieb in der Stadt – er war nicht mehr in einem wehrpflichtigen Alter, wollte aber nicht fortgehen. Er hoffte weiterhin, dass Lilja nach Leningrad zurückkommen würde. In Ufa fand meine Mutter Arbeit als Fahrdienstleiterin bei einem Verteidigungswerk der Luftwaffe. Ich wohnte lange Zeit in einem Internat für Kinder im Vorschulalter. Später, als ich etwas älter wurde und in der Lage war, alleine zu Hause zu bleiben, nahm mich meine Mutter vom Internat. Wir teilten uns eine Holzbaracke in der Senzowstraße mit vielen anderen evakuierten jüdischen Familien. Unser Zimmer war sechs Quadratmeter groß und nur mit einem Bett und einem Tisch möbliert. Darüber hinaus stand im Zimmer eine Kiste, auf der ich schlief.
Ich war meist auf mich allein gestellt. Im Prinzip war ich ein Straßenkind und zog durch die Stadt mit anderen vagabundierenden Gleichaltrigen. Trotz der schweren Kriegszeit empfanden wir Kinder diese Jahre damals nicht als unglücklich.
Meine Mutter verbrachte viel Zeit in der Fabrik. Ihre Arbeit war sehr verantwortungsvoll und gefährlich, sie war mit dem Transport von Militärfrachtgut befasst. Einmal, im Winter, rutschte ein LKW aufgrund defekter Bremsen von einem vereisten Abhang. Meine Mutter merkte rechtzeitig, dass etwas nicht stimmte, und sprang aus dem Wagen. Als sie sich wieder aufgerichtet hatte, sah sie, dass sich der LKW überschlagen hatte und die Frau am Steuer tot war. Ein anderes Mal wurde sie aus Versehen mit ihrer Fracht an einem falschen Bahnhof rausgelassen. Damals wurden diejenigen, die Verspätungen bei Lieferungen von Militärgütern zu verantworten hatten, vor das Militärtribunal gestellt. Meine Mutter musste enorme Anstrengungen unternehmen, um die Fracht doch rechtzeitig an den Zielort zu bringen.
Auf Arbeit erhielt meine Mutter eine Lebensmittelkarte, trotzdem war das Essen immer knapp. Ich träumte von einem Stück Brot und bat meine Mutter ständig darum, mir etwas zu essen zu geben. Meine Mutter erzählte, dass Arbeiter bei ihr in der Fabrik vor Hunger starben. Einmal stahl man mir eine für zehn Tage gültige Lebensmittelkarte. Das war eine wahre Tragödie.
Nachts hat meine Mutter oft geweint. Sie wusste nichts über das Schicksal ihrer Tochter Lilja und darüber, wie es meinem Vater im belagerten Leningrad erging. Auch hatte sie keine Informationen über den Verbleib ihrer Mutter und meiner Oma Frida, ihrer Schwester Esther und anderen Verwandten aus Białystok. Mein Vater wurde im Jahr 1942 aufgrund schwerer Dystrophie über den Ladogasee aus Leningrad evakuiert und ins Hinterland gebracht. Nach seiner Genesung ging er an die Front.
Es gibt einige wenige gute Erinnerungen, die ich mit der Kriegszeit verbinde. Ich habe lesen gelernt. Niemand hat es mir beigebracht, man hat mir nur einmal die Buchstaben gezeigt. Mit dem Märchenbuch „Des Kaisers Nachtigall“ von Hans Christian Andersen rannte ich durch den Aufenthaltsraum des Kindergartens. Zu meiner Begeisterung setzten sich die Buchstaben wie von alleine in Wörter zusammen. So habe ich selbständig das erste Märchen meines Lebens gelesen. Später wurde Lesen zu meiner Lieblingsbeschäftigung. Eines der ersten Bücher, die ich gelesen habe, war „Der Seewolf“ von Jack London. Für mich ist es immer noch verwunderlich, wie ich damals, mit acht Jahren, ein solch erwachsenes Buch angemessen verstehen und einordnen konnte. Auch erinnere ich mich daran, wie mein Vater mir das Damespiel beibrachte. Bevor er an die Front zog, kam er kurz nach Ufa, um uns zu besuchen…
Im Sommer 1944 kehrten meine Mutter und ich ins verwaiste Leningrad zurück. Unser Zimmer war durch unsere ehemaligen Kommunalka-Mitbewohner belegt. Wir konnten erst nach Kriegsende, infolge eines Gerichtsbeschlusses, wieder dort einziehen, nachdem mein Vater aus dem Lazarett nach Hause zurückgekehrt war. Ich erinnere mich mein Leben lang an das Wiedersehen mit meinem Vater. Im Herbst 1945 fuhr meine Mutter nach Lwow, um ihn aus dem Lazarett abzuholen. Im September 1945 lief ich mit einem Topf zur Schulkantine in die Swerinskaja Straße. Es war kalt und regnerisch und ich war barfuß, denn mein Schuhwerk war kaputt. Da ich fast einen Monat lang ohne meine Mutter lebte, gab es niemanden, der meine Schuhe hätte reparieren können. Ich rannte und sah, wie mein Vater mir auf Krücken entgegenkam, und neben ihm meine Mutter. Was war das für eine Riesenfreude!
Dem Antisemitismus bin ich zum ersten Mal nach unserer Rückkehr nach Leningrad im Jahr 1944 begegnet, als ich eingeschult wurde. In der Schule gab es viele Kinder, die vom Land nach Leningrad gezogen waren. Meine Klassenkameraden hänselten mich, indem sie mich Sara nannten, denn damals gab es ein bekanntes Lied, das von einem jüdischen Mädchen namens Sara handelte. Und obwohl ich einer der stärksten war und als Anführer der Klasse fungierte, blieb das viele Jahre lang mein Spitzname in der Schule. Möglicherweise wollten sich meine Klassenkameraden dafür rächen, dass ich stämmiger als sie war und gleichzeitig gute Schulleistungen brachte. Auf meiner Schule gab es einige Spätentwickler, die aus verschiedenen Gründen entweder nicht lernen konnten oder wollten. Viele waren in kriminelle Machenschaften verwickelt, einige mussten später ins Gefängnis. In der Oberstufe merkte ich, dass der Judenhass sich über unterschiedlichste Lebensbereiche erstreckt und den Rahmen von Eskapaden einzelner Rowdys oder unerklärlicher Zufälle sprengt. Im Jahr 1949 schrieb ich eine ganze Stunde lang einen Brief an Josef Stalin mit dem Aufruf, den Antisemitismus auf staatlicher Ebene nicht zuzulassen. Doch später dachte ich mir, dass vor mir wahrscheinlich einige Leute solche Briefe bereits geschrieben hatten und wenn sich nichts zum Besseren gewandelt hatte, dann sollte ich meinen Brief lieber nicht abschicken… Vermutlich war dies die klügste Entscheidung, die ich im Laufe meines Lebens traf.
Das Foto stammt vom 2. Juli 1941 und ist in Leningrad an jenem Tag entstanden, an dem Inna sich von ihrer Mutter Galina Ostapenko verabschiedete. Auf der Rückseite steht Folgendes: „2/VII 1941. Für mein nettes, kleines, geliebtes Töchterchen von Mama am Tag deiner Abreise. Deine Mutti.“
Als wir nach Leningrad zurückkehrten, erzählten uns die Nachbarn aus der Kommunalka, dass es in unserem Haus und sogar in unserer Wohnung Kannibalismus gegeben hatte. Menschen ermordeten ihre Nachbarn, um zu überleben – sie verkauften ihr Fleisch als gewöhnliches Fleisch an andere Menschen. Wenn Kannibalen bei ihren Machenschaften erwischt wurden, erschoss man sie an Ort und Stelle.
Nach dem Kriegsende verbrachte ich jeden Sommer in unterschiedlichen Pionierlagern in der Nähe von Leningrad. Dort gab es noch viele Kriegsspuren. Einmal versuchten Gleichaltrige, an Trinitrotoluol zu kommen und bauten Munition, die in der Nähe des Pionierlagers zu finden war, auseinander. Die Munition explodierte und die Kinder kamen dabei um. Ich werde dieses grauenvolle Bild nie vergessen können. Wegen dieser Erfahrung kann ich auch sehr gut nachvollziehen, welch schwere mentale Traumata Flüchtlingskinder und Kinder, welche die Belagerung Leningrads erlebt haben, davongetragen haben. Diese Kinder sahen viele Menschen sterben. Die Schrecken der Kriegszeit, die man als Kind erlebt, verschwinden nicht aus der Erinnerung, sie verstecken sich in ihren entferntesten Ecken, um Jahre später wieder im Gedächtnis aufzutauchen…
Meine Ehefrau Inna Abramowna Berman war zu Kriegsbeginn zwei Jahre alt. Ihre Mutter Galina Uljanowna Schwarzman (geb. Ostapenko) arbeitete in einer militärmedizinischen Akademie. Sie fällte die Entscheidung, ihre Tochter zusammen mit der Schwester ihres Mannes, Dina Schwarzman (geb. Genkina), und ihrem Sohn Siwa ins Hinterland zu schicken. Innas Vater, der Militärarzt Abram Schwarzman, diente auf der Halbinsel Hanko. Dort wurde er kurz nach Kriegsausbruch gefangengenommen und starb in einem nationalsozialistischen Lager für Kriegsgefangene. Als Inna mit ihren Verwandten auf der Flucht war, erkrankte sie schwer. Nahezu alle Menschen im Güterwagen, mit dem sie unterwegs waren, versuchten ihre Tante zu überreden, das kranke Kind aus dem Wagen zu werfen, sie waren der Meinung, das Mädchen würde nicht überleben. Doch Dina pflegte sowohl ihre Nichte als auch ihren Sohn Siwa gesund. Das Foto, das am 2. Juli 1941, am Tag der Evakuierung, geschossen wurde, hat die Tragödie des kleinen Mädchens verewigt, der man an ihren Augen ansieht, wie schwer ihr der Abschied von ihrer Mutter fällt.
Kaum auszumalen, wie viel unsere Mütter während des Krieges durchmachen mussten. Meine Mutter verlor ihre Tochter, ihre Schwester und ihre eigene Mutter. In einem Lager im Kolymagebiet starb ihr Bruder Haim Ratnowskij. Kurz vor Kriegsbeginn erhielt sie einen Brief von ihm. Dort stand der Satz „Rette mich!“ und die Adresse seines Lagers in der Oblast Irkutsk. Sie ließ meine Schwester und mich bei unserem Vater, lieh von ihrer Tante Raja Feinsteyn (geb. Ratnowskaja) etwas Geld für die Reise und schaffte es, illegal ins Durchgangslager bei Irkutsk zu gelangen, wo ihr Bruder inhaftiert war. Unterwegs hatte man sie gegen eine Gebühr von mehreren Schachteln Zigaretten in einem leeren Omul-Fass[3] versteckt. Im Durchgangslager verbrachte meine Mutter drei Tage. Erst ahnte niemand, dass sie keine Erlaubnis hatte, sich an einem solch streng bewachten Ort aufzuhalten. Als der Lagerleiter das herausfand, bot er meiner Mutter an, im Lager als Zivilbeschäftigte zu bleiben, um sich um ihren Bruder kümmern zu können. Doch meine Mutter konnte sich nicht dazu entschließen, denn sie musste zu ihren Kindern und ihrem Mann zurückkehren. Haim Ratnowskij starb einige Jahre später in einem Kolyma-Lager.
Alex und Inna Berman (Mitte) mit ihrem ältesten Sohn Denis (hinten sitzend), Schwiegertochter Katya und den Enkelkindern, von links nach rechts: Daniel, Jacob und Mitya, 2005.
Im Jahr 1972 zog meine Mutter nach dem Tod meines Vaters nach Israel. Sie hoffte, dass unsere Familie sich ihr früher oder später anschließen würde. Ich sah meine Mutter siebzehn Jahre später wieder, im Jahr 1989, als ich zum ersten Mal die Gelegenheit erhielt, sie in Israel zu besuchen. Meine erste Frage lautete:
„Wie ist es dir in den siebzehn Jahren ergangen?“ Meine Mutter antwortete: „Das waren die glücklichsten Jahre meines Lebens.“ In Israel heiratete sie im Alter von achtundsechzig Jahren den gleichaltrigen Mosche Ilan, der im Jahr 1936 nach Palästina gekommen war. Mit ihm lebte sie über zwanzig Jahre glücklich zusammen. Ich war Zeuge, wie Mosche zu meiner siebenundachtzigjährigen Mutter sagte: „Tanja, du bist die schönste Frau der Welt!“ Meine Mutter starb am 25. Januar 1994 an ihrem neunundachtzigsten Geburtstag.
In den letzten zwanzig Jahren habe ich einige soziale Projekte in Israel ins Leben gerufen und umgesetzt, darunter die Bewegung „Für eine würdige Zukunft“; Projekte, die zur erfolgreichen beruflichen Integration mehrerer Tausender Repatriierter, insbesondere Wissenschaftler und Ingenieure, in die israelische Wirtschaft beigetragen haben (die Projekte der Israeli Association of Immigrant Scientists); Projekte, welche die Integration von Kindern aus der ehemaligen Sowjetunion gefördert haben (Initiativen der Non-Profit-Organisation „Schiluw-Integration“) und schließlich das Projekt „Verbrannte Kindheit“, in dessen Rahmen das vorliegende Buch herausgegeben wurde. All diese Projekte waren für mich eine heilige Pflicht. Das, was ich getan habe und nach wie vor tue, bin ich allen Holocaustopfern schuldig, darunter meiner Schwester Lilja, meiner Oma Frida, meiner Tante Esther und allen anderen Verwandten und Angehörigen von mir.
[1]Berjosa (bis 1940 Berjosa-Kartusskaja) ist eine Stadt in der Oblast Brest der Weißrussischen Sowjetrepublik, heutige Republik Belarus. Im Jahr 1931 lebten in Berjosa-Kartusskaja 4.521 Juden. Die Stadt wurde am 23. Juni 1941 von Wehrmachtseinheiten besetzt. Im April 1942 wurde ein Ghetto errichtet, in das Juden aus den umliegenden Dörfern sowie aus Kobrin, Antopol, Pruschany, Pinsk und Brest gebracht wurden. Alle Ghetto-Häftlinge wurden im Zuge mehrerer Aktionen (die letzte wurde im Oktober 1942 durchgeführt) ermordet (Anm. der Redaktion).
[2]Im Ghetto existierte eine Untergrundorganisation, die es vielen Häftlingen ermöglichte, in die Wälder zu fliehen, um sich den Partisaneneinheiten anzuschließen. Am Tag der Auflösung des Ghettos legten Untergrundkämpfer Feuer, um so vielen Menschen wie möglich die Flucht zu ermöglichen. Die Flucht aus dem Ghetto misslang. Die Mehrheit der Ghettohäftlinge – etwa 50.000 Juden aus Brest, Berjosa, Gorodez, Drogitschina, Janow, Pinsk und Kobrin – wurde in der Nähe des Dorfes Bronnaja Gora in der Oblast Brest ermordet. Ein Teil der Juden aus Berjosa wurde bei Smoljarka erschossen (Anm. der Redaktion).
[3]Der Omul (Coregonus migratorius) ist ein im Baikalsee sowie in einigen angeschlossenen Gewässern vorkommender Lachsfisch. Für die Bevölkerung in der Region stellt der Omul traditionell eine wichtige Lebensgrundlage dar (Anm. des Übersetzers).